Interview

Argentinien: Protestieren ist jetzt ein Verbrechen

Seit einem Jahr versucht Argentiniens rechtspopulistischer Präsident Javier Milei, die Menschenrechte auszuhöhlen. Doch die Zivilgesellschaft wehrt sich, sagt Paula Litvachky, Leiterin unserer Partnerorganisation Center for Legal and Social Studies (CELS).

Von Online-Redaktion am
Paula Litvachy

Paula Litvachy leitet die argentinische Organisation Center for Legal and Social Studies (CELS).

Frau Litvachky, am 10. Dezember ist „Tag der Menschenrechte“ – und Argentiniens Präsident Javier Milei genau ein Jahr im Amt. Wie würden Sie seine Sicht auf Menschenrechte zusammenfassen?

Ihm sind alle Organisationen und Menschen zuwider, die sich für Frauen, Minderheiten, Indigene, Arme, Arbeiter*innen oder für Umweltschutz einsetzen. Er sieht sie als Teil einer kommunistischen Verschwörung, die von Polizei, Geheimdiensten und Militär kleingehalten oder sogar zum Schweigen gebracht werden soll. Milei will keine tolerante und offene Gesellschaft.

Staatliche Repression nimmt massiv zu

Wie äußern sich Mileis Haltung und Ideologie konkret?

Kurz nach Amtsantritt hat er beispielsweise das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus INADI abgeschafft, ebenso das Frauen- und Bildungsministerium. Das einst eigenständige Umweltministerium ist jetzt nur noch eine Unterabteilung des Innenministeriums. Außerdem beschimpft und verleumdet Milei Aktivist*innen und Kritiker*innen über Social Media und flutet das Netz mit Hassnachrichten und Fake News. Vieles davon ist absurd. Ein rechter Influencer hat mich mal als „Babymörderin“ beschimpft, weil wir das Recht auf Abtreibung unterstützen. So etwas ficht mich zwar nicht groß an. Aber wenn sie beginnen, vor unserem Büro Schreihälse zu mobilisieren oder Fotos von uns zu machen, dann wird es ernst. Fakt ist: die Repressionen des Staats gegen Menschenrechtsaktivist*innen haben massiv zugenommen.

Inwiefern?

Protestieren ist jetzt in Argentinien ein Verbrechen! Die Staatsanwaltschaft hat in den zurückliegenden zwölf Monaten etliche Aktivist*innen angeklagt und willkürlich verhaften lassen, meist ohne Beweise vorzulegen. Oder unter dem Vorwand, sie seien Terroristen und hätten Widerstand gegenüber der Obrigkeit geleistet. Mileis Ziel ist klar: Er will friedliche Proteste verhindern. Die Leute sollen sich nicht mehr trauen, öffentlich zu demonstrieren oder sich kritisch zu äußern. Sie sollen es sich auch nicht mehr leisten können: Wer etwa zu regierungskritischen Demonstrationen geht, dem wird die Sozialhilfe gestrichen – in einem Land, in dem jeder Zweite arm ist.

Recht auf Versammlungsfreiheit außer Kraft gesetzt

Welche Rolle spielen dabei die neuen Sicherheitsgesetze, die Mileis Regierung durch den Kongress geboxt hat?

Sie sind zu Instrumenten der Unsicherheit und Unterdrückung geworden. Allein in den zurückliegenden elf Monaten wurden 1.136 Menschen bei Demos verletzt, weil die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen auf sie schoss. Manche erblindeten dadurch! Das Ministerium für Sicherheit hat ein neues Handlungsprotokoll für Polizeieinsätze „zur Bewahrung der öffentlichen Ordnung“ verabschiedet. Es erlaubt der Polizei, bei Demonstrationen eine Schusswaffe zu tragen. Und es ermächtigt Polizei, Geheimdienste und Militärs, jederzeit – und auch mit Gewalt – eine Demonstration aufzulösen, wenn sie den Verkehr behindert, was ja fast immer der Fall ist. Das setzt das Recht auf Versammlungsfreiheit komplett außer Kraft! Vor allem Proteste von Rentner*innen, Studierenden, Gewerkschaften oder entlassenen Staatsbediensteten lässt die Regierung so niederschlagen.

Was passiert mit Journalist*innen, die diese Verstöße dokumentieren?

Auch sie bekommen Tränengas, Gummigeschosse und Schläge der Polizei ab. Auch sie werden von Milei beschimpft und beleidigt, oft namentlich. Nach Angaben der Journalistengewerkschaft SiPreBa wurden zwischen Januar und Juni dieses Jahres mehr als 50 Journalist*innen verletzt, obwohl sie durch ihre „Presse“-Westen klar erkennbar waren. Durch das neue Sicherheitsprotokoll und die Brutalität der Polizei ist die Arbeit von Medienvertreter*innen heute gefährlich: Früher sorgte eine Resolution dafür, dass sie geschützt waren, während sie ihren Job ausübten. Diesen Schutz hat das neue Sicherheitsgesetz nun abgeschafft. Damit schränkt die Regierung nicht nur die Pressefreiheit ein. Sie untergräbt auch unser Recht auf Information. Auch deswegen ist Argentinien auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen um 26 Plätze abgestürzt, wir liegen jetzt auf Platz 66 von insgesamt 180 Ländern.

Gemeinsam die Demokratie schützen

Welche Folgen haben diese Attacken und Einschüchterungen für die argentinische Zivilgesellschaft, NGOs und Aktivist*innen – und auch für CELS?

Trotz Mileis Drohungen und Attacken werden NGOs und Menschenrechtsaktivist*innen nicht aufgeben und wir werden uns nicht vertreiben lassen, so wie das etwa in Nicaragua geschieht. Denn die argentinische Zivilgesellschaft ist bislang sehr stark! Daran glaube ich fest, obwohl Mileis autoritäre Gesetze viel Erreichtes zunichtemachen. CELS selbst ist finanziell unabhängiger als viele andere NGOs, wir bekommen keine Finanzierung vom argentinischen Staat. Die Frage ist dennoch: Wie lange halten wir zivilgesellschaftlichen Akteure die permanenten Attacken aus? Deswegen müssen wir uns wappnen.

Wie?

CELS möchte dem rechten und autoritären Trend, den wir nicht nur in Argentinien sehen, etwas entgegensetzen! Wir wollen zeigen, dass ein von vielen zivilgesellschaftlichen Akteuren gemeinsam organisierter Widerstand die Demokratie schützen kann. Dazu bauen wir einen neuen Arbeitsbereich auf. Geplant sind Workshops beispielsweise darüber, wie sich Aktivist*innen auf Demonstrationen, aber auch digital, besser schützen können. Wir wollen zudem die Angriffe auf die Zivilgesellschaft überwachen, dokumentieren, analysieren und publik machen. Wir wollen den Diskurs der Rechten, der auf Hass und Lügen basiert, übertönen – mit einem Narrativ, das von Werten wie Gleichheit und Fairness erzählt. Das ist wichtig, auch weil 2025 in Argentinien Kongresswahlen anstehen.

Menschenrechte wichtiger als Wirtschaftsabkommen

Die deutsche Regierung kritisiert Milei nur leise – auch weil Deutschland Rohstoffe wie Lithium aus Argentinien für die eigene Energiewende braucht. Ist Berlin zu zahm?

Die Geduld und Nachsicht der internationalen Gemeinschaft mit Milei ist schlimm. Viele Länder stellen ihre wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen über die Menschenrechte. Manche Diplomaten behaupten sogar: In Argentinien werden doch gar keine Menschenrechte verletzt. Wir erwarten von der Europäischen Union und der Bundesregierung, dass sie die Verteidigung der Menschenrechte nicht auf dem Altar des Wirtschaftsabkommens zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union opfert.

Das Interview führte Martina Hahn.

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