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Äthiopien: Entwicklung und Vertreibung

Über fünf Millionen Äthiopier*innen sind Vertriebene im eigenen Land. Eine erschütternde Bilanz der Regierung von Ministerpräsident Abiy, der 2018 als Friedensbringer ins Amt startete. Ein Besuch vor Ort macht deutlich: Die Art, wie Abiy sein Modernisierungs- und Einheitsprojekt forciert, hat Konflikte aufbrechen lassen, die immer mehr Menschen in die Flucht zwingen.

Von Dr. Andreas Grünewald am
Menschen tragen Getreidesäcke durch eine karge Landschaft.

In der äthiopischen Region Afar haben viele Menschen aus Tigray Schutz gesucht. Unsere Schwesterorganisation Diakonie Katastrophenhilfe unterstützt dort Menschen, die durch den Konflikt ihre Lebensgrundlage verloren haben.

Die Diskrepanz könnte größer nicht sein. Auf dem Bordbildschirm von Ethiopian Airlines laufen Werbevideos der Regierung. Hochglanzbilder von Megaprojekten in der Landwirtschaft, im Energiesektor und der Immobilienbranche. Äthiopien: ein Land im Aufbruch, ein Land der Zukunft, ein Land für Investoren. Die Botschaft ist leicht zu entziffern. Und schwer zu verdauen, da wir zeitgleich über ein Äthiopien fliegen, welches von kriegerischer Zerstörungswut schwer gezeichnet ist. Schätzungsweise 600.000 Todesopfer forderte allein der Tigray-Konflikt zwischen 2020 und 2022, in dem alle Konfliktparteien schwerste Menschenrechtsverletzungen begingen: Massaker an der Zivilbevölkerung, Massenvergewaltigungen, Hunger als Waffe – die Liste ließe sich lange fortsetzen. In den angrenzenden Provinzen Amhara und Oromia dauern die Kämpfe an. Gegen die rebellierenden FANO-Milizent setzt die äthiopische Armee unter anderem bewaffnete Drohnen ein, die bereits hunderte Opfer in der Zivilbevölkerung gefordert haben. Bemühungen um Konfliktlösungen auf dem Verhandlungsweg sind nicht in Sicht.

Auf der Flucht vor Krieg – und einer zerstörerischen Modernisierung

So unnachgiebig die äthiopische Regierung in regionalen Konflikten ihre Vorstellung von staatlicher Einheit (gegen ebenfalls gewaltsamen Widerstand) durchzusetzen versucht, so kompromisslos verfolgt sie in Addis Abeba und anderen Großstädten ihre Modernisierungsagenda. Schon am Weg vom Flughafen nach Addis ereilt mich zeitweise der Eindruck, durch Kriegsgebiete zu fahren, so viele Häuser sind dem Erdboden gleichgemacht. Ein Eindruck, der sich bei weiteren Fahrten und Spaziergängen in den Folgetagen verfestigt. Kilometerlang ziehen im Abriss befindliche oder abgerissene Wohnhäuser und Geschäftslokale an einem vorbei – und verzweifelte Menschen, die ihr Hab und Gut sowie alles Verwertbare aus den Trümmern ziehen. Sie alle müssen dem nächsten Megaprojekt weichen, welches die Regierung Abiy ersonnen hat, um in einem der ärmsten Länder der Welt eine sterile Hochglanzmetropole zu errichten. Teilweise werden ganze Viertel abgerissen, wie Kazanchis, wo vor kurzem auch der legendäre Fendika Jazzclub von Bulldozern plattgewalzt wurde. Oft bleibe ihnen nur ein paar Tage Zeit zwischen Ankündigung und Abriss, klagen mir Betroffene in Gesprächen. Darunter ein Taxifahrer, der früher in einem Viertel im Stadtzentrum wohnte und nun für sein Apartment in der 20 Kilometer entfernten Peripherie mehr als doppelt so viel Miete zahlt.

Fünf Millionen Binnenvertriebene – und wenig Aufmerksamkeit

Wie geht eine verantwortungsvolle Entwicklungszusammenarbeit mit dieser Politik um – und was setzt sie ihr entgegen? Diese Frage muss sich auch die deutsche Regierung stellen. Zu eng fallen in Äthiopien derzeit vermeintlicher Fortschritt und reelle Zerstörung zusammen, zu groß ist das damit verbundene Leid der Zivilbevölkerung. Mehr als fünf Millionen Äthioper*innen sind im eigenen Land auf der Flucht. Eine große Bürde, zumal Äthiopien rund eine Millionen Geflüchtete aus den Nachbarstaaten Sudan, Südsudan, Eritrea und Somalia beherbergt. Äthiopien hat das Image eines großzügigen Gastgebers für Flüchtende aus den Nachbarstaaten. Um die eigenen  Vertriebenen kümmert sich die Regierung aber zu wenig, ignoriert teilwiese sogar deren Existenz.

Zu geringe Unterstützung für Binnenvertriebene gebe es auch von Seiten der internationalen Gemeinschaft, klagen äthiopische Expert*innen in Gesprächen immer wieder. Europa richte sein Hauptaugenmerk auf Flüchtende, die sich auf den Weg Richtung Europa machten. Deswegen fließe viel Geld in die Fluchtrouten vom Horn von Afrika Richtung Norden, obwohl diese Route für Äthiopier*innen eine vernachlässigbare Rolle spiele. Binnenvertriebene erhielten demgegenüber viel weniger Aufmerksamkeit.

Brot für die Welt: Einsatz für Binnenvertriebene – und für den Frieden

Viele lokale Partnerorganisationen von Brot für die Welt setzen den Schwerpunkt ihrer migrationsbezogenen Arbeit in Äthiopien genau dort. Bei einem Workshop in Addis geben sie mir Einblicke in ihr eindrucksvolles Engagement. Das Spektrum reicht von akuter Nothilfe in Krisensituationen, dem Aufbau neuer Lebensgrundlagen sowie der Suche nach nachhaltigen Lösungen für Binnenvertriebene – sei es, indem sie in ihre Heimatregionen zurückkehren – oder in anderen Regionen eine sichere Heimat finden können. Friedens- und Versöhnungsarbeit nehmen dabei eine zentrale Rolle ein. Hier profitieren unsere Partnerorganisationen von ihrer engen Bindung zu den lokalen Gemeinschaften. Diese ermöglicht es ihnen, auch in Regionen und unter Bedingungen zu operieren, in der sich andere Organisationen aufgrund der hohen Gefahrenlage zurückziehen. Gleichzeitig torpedieren die andauernden Konflikte im Land in vielen Fällen nachhaltige Lösungen für Geflüchtete. Deswegen sollten Deutschland, die EU und die internationale Gemeinschaft ihre Augen vor der aktuellen Gewaltspirale in Äthiopien nicht verschließen, sondern sich mit Nachdruck für eine friedliche Zukunft in der Region engagieren, in der Entwicklung für, und nicht auf Kosten der Menschen gemacht wird.

 

Im Rahmen der Dienstreise habe ich auch in spannendes Interview mit dem äthiopischen Migrationsforscher Girmachew Adugna geführt, welches unter dem Titel "Die EU setzt falsche Prioritäten" ebenfalls als Blog erschienen ist.

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