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Kritisches Weißsein am Tor zur Welt

In Hamburg hat sich die W3_Werkstatt zur Aufgabe gemacht, ein Bewusstsein für fortbestehende rassistische Denkweisen zu wecken. Tejan Lamboi* und Viktoria Hellfeier* über Stadtrundgänge, koloniale Hierarchien in der Entwicklungszusammenarbeit und lebenslanges (Ver-)Lernen.

Von Gastbeiträge Politik am
(De)Koloniales Hamburg – ein kritischer Kartierungsversuch, 20. Januar 2024 in der W3_ Werkstatt

(De)Koloniales Hamburg – ein kritischer Kartierungsversuch, 20. Januar 2024 in der W3_Werkstatt

Der Kolonialismus hat als weltumspannendes Herrschaftssystem, basierend auf einer rassistischen Ideologie, jahrhundertelang Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Herkunft versklavt, getötet und entmenschlicht. Dieses System wirkt bis heute fort: Insbesondere Hamburg als Handelsmetropole, die sich als „Tor zur Welt“ bezeichnet, war intensiv in den kolonialen Handel verstrickt. Die Stadt profitiert bis heute von ungleichen globalen Handelsbeziehungen und Ausbeutungsverhältnissen. Noch immer zeugen unzählige Denkmäler, Gebäude und Straßennamen von dieser Verstrickung. Auch wissenschaftliche und kulturelle Einrichtungen sind mehrheitlich weiß besetzt und ein eurozentristischer Wissenskanon setzt koloniale Denkmuster und ungleiche Machtverhältnisse fort. Nach wie vor fehlt es dafür an öffentlichem Bewusstsein. Eine Auseinandersetzung mit den historischen Ursachen und den fortwirkenden Folgen des Kolonialismus ist jedoch notwendig, um globale und gesellschaftliche Ungleichheit und Rassismus zu bekämpfen.

Hier setzt die W3_Werkstatt für internationale Kultur und Politik e.V. mit ihrer Arbeit an. Als Bildungs- und Informationszentrum in Hamburg-Altona vermittelt die W3_ Hintergrundwissen zum Fortwirken kolonialer Strukturen und sensibilisiert für die eigene Verstricktheit in einer von globalen Ungleichheiten geprägten Welt. Zwei unterschiedlich positionierte Bildungsreferent*innen der W3_ teilen Erfahrungen aus ihren jeweiligen Arbeitsbereichen.

Bildungsarbeit und die Kolonialität der Macht

Viele Institutionen in Deutschland sind in das System der Kolonialität verstrickt, das der peruanische Soziologe Aníbal Quijano die Kolonialität der Macht genannt hat. Einerseits ist seit dem rassistischen Mord an George Floyd und seit der Black-Lives-Matter-Bewegung ein Bewusstsein für die Notwendigkeit entstanden, über Rassismus und Kolonialität zu sprechen. Immer mehr Organisationen bieten für ihre Mitarbeiter*innen Workshops zum Thema Antirassismus und Kritisches Weißsein an. In dieser Hinsicht glaube ich, dass es einen, wenn auch sehr langsamen Fortschritt gibt, was die kritische politische Bildung angeht, die sich darauf konzentriert, darüber nachzudenken, wie Rassismus und Kolonialität in Institutionen wie Museen, Theater, Behörden und Universitäten, reproduziert werden.   

In unserer rassismuskritischen Prozessbegleitung für Kultureinrichtungen in Hamburg stehen die Themen Kolonialität, Rassismus und strukturelle Machtungleichgewichte im Zentrum. Wir versuchen je nach Bedarf konkrete Ideen und Handlungsoptionen, die praktische Veränderung fördern, zu entwickeln. Allerdings ist die Umsetzung dieser Maßnahmen hin zu tatsächlichen Veränderungsprozessen unterfinanziert oder doch sehr oberflächlich.
Über 80 Prozent der Anfragen erhalten wir für einzelne Workshops und nicht für eine langfristige Prozessbegleitung, die auf nachhaltige, strukturelle Veränderungsprozesse abzielt. Wo liegt das Problem – ist es die Angst vor Veränderung, Widerstand gegen den Machtverlust, das System des Weißseins selbst? 

Im Bereich der Internationalen Zusammenarbeit und ebenso in der Kulturszene sind viele Nichtregierungsorganisationen und Institutionen, zum Beispiel Theater oder Museen, mit dieser Herausforderung konfrontiert: Veranstaltungen und Workshops, ja. Aber die in diesen Formaten entwickelten Ideen werden nicht in tatsächliche strukturelle Veränderungen umgesetzt. Wissen und kritischer Austausch sind natürlich wichtig für den Prozess. Aber nicht nur! Deshalb ermutigen wir als Bildungsträger Institutionen unsere langfristige Beratung in Anspruch zu nehmen und damit über die eigenen Privilegien und die eigene Motivation nachzudenken. 

Auch in der Entwicklungszusammenarbeit, in Beziehungen mit Organisationen im Globalen Süden, sehen wir diese klare Manifestation: Eine zentralisierte Machtdynamik und Entscheidungsfindung, die die lokale Mitsprache einschränkt und das Wissen sowie die Handlungsfähigkeit von Expert*innen und Gemeinschaften in den Ländern des Globalen Südens untergräbt. Die Betonung sogenannter „westlicher“ Standards als Maßstab für den Erfolg, eine Belegschaft, die koloniale Hierarchien widerspiegelt, in denen der weiße „Experte“ die Macht hat …

Wissen und kritischer Austausch ändern nicht unbedingt Machtungleichheit und strukturellen Rassismus. Sie sind ein erster und wichtiger Schritt im Dekolonialisierungsprozess. Aber sie müssen auch praktische und nachhaltige Veränderungen zur Folge haben, die auf eine Teilung der Macht und ein anderes Wirtschaftssystem abzielen, das nicht auf Extraktivismus beruht. Andernfalls ist die Gefahr eines Burn-outs der Bildungsreferent*innen im Dekolonisierungsprozess, vor allem wenn sie Schwarz oder of Color sind, unübersehbar.

*Tejan Lamboi(kein Pronomen), geboren und aufgewachsen in Sierra Leone, ist Bildungsreferent*in für Rassismuskritik, Inklusion und Beratung bei der W3_.


Dekoloniale Bildungsarbeit braucht passende Förderbedingungen

Aus meiner Perspektive als Bildungsreferentin hat die W3_ einen doppelten Bezug zum Themenfeld Kolonialismus, koloniale Kontinuitäten und Dekolonisierung: inhaltlich und strukturell. Bildungsangebote wie das aktuelle W3_Projekt „Koloniale Spuren – Dekoloniale Praktiken“ schaffen Sichtbarkeit dafür, wie das Generationen und Kontinente umspannende koloniale System unsere Gesellschaft bis heute prägt. Unsere Veranstaltungen sensibilisieren eine breite Öffentlichkeit, indem wir zum Beispiel bei Stadtrundgängen kolonialen Spuren im Stadtbild nachspüren, in Workshops mittels kollektiver Kartierungen dekoloniale Praktiken erproben oder in Gesprächsrunden und Vorträgen Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Menschen aus dem Globalen Süden zu Themen wie Entwicklungszusammenarbeit dekolonisieren, Koloniale Kontinuitäten im Welthandel oder Postkoloniales Erinnern zu Wort kommen lassen.

Als mehrheitlich weißes Bildungsteam ist die kontinuierliche Auseinandersetzung mit eigenen Privilegien und gesellschaftlichen Ungleichheiten eine notwendige Grundlage für unsere machtkritische und diskriminierungssensible Bildungsarbeit. Dieser kommen wir durch interne Schulungen zum Beispiel zu Powersharing und Allyship nach. Aber auch eine extern begleitete, regelmäßige Supervision mit dem gesamten Team ist wichtiger Teil dieses lebenslangen (Ver-)Lernprozesses. Darüber hinaus spielt der fachliche Austausch und die Kooperation mit Initiativen und Aktivist*innen eine wichtige Rolle, um die Perspektiven von Betroffenen in unsere Bildungsarbeit einbeziehen zu können. So sind wir beispielsweise mit dem Arbeitskreis Hamburg Postkolonial, den Eine-Welt-Promotor*innen Dekolonialisierung oder der Fachgesellschaft DeKolonial e.V. vernetzt.

Das Hörbarmachen marginalisierter Stimmen ist Ziel und Herausforderung zugleich. In der Entwicklungszusammenarbeit, aber auch in der entwicklungspolitischen Informations- und Bildungsarbeit, wird häufig über den Globalen Süden gesprochen. Indigene Gemeinschaften oder Kleinbäuer*innen, die zum Beispiel von Landgrabbing und ungleichen Handelsbedingungen betroffen sind, werden so zu passiven Opfern stigmatisiert. Dabei spielen sie eine aktive Rolle im Kampf für globale Gerechtigkeit. Wir verstehen diese Akteur*innen als widerständige, selbstbewusste Subjekte. Ihr Engagement sichtbar zu machen und sie als Expert*innen selbst zu Wort kommen zu lassen, ist in unserer Bildungsarbeit sehr wichtig. Dies ist mitunter schwierig, da internationale Reisekosten, Verdolmetschung und Honorare für Referent*innen außerhalb Deutschlands oft nicht finanziert werden können. Dabei ist der direkte Austausch zwischen Menschen ein zentrales Mittel in der Bildungsarbeit, um Vorurteile und Stereotype abzubauen. Im Sinne eines Perspektivwechsels fragen wir: Was können wir hier im Globalen Norden von Praktiken und Konzepten im Globalen Süden wie zum Beispiel Ernährungssouveränität oder Agrarökologie lernen – und wie können wir uns solidarisieren?

Als gemeinnützige Organisation ist die W3_ auf Fördermittel angewiesen, um ihre Bildungsprojekte durchführen zu können – und muss dementsprechend mit den bestehenden Rahmenbedingungen für entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit umgehen. Hierbei fällt auf, dass die Zusammenhänge zwischen Rassismus und Kolonialismus in den Förderbedingungen bisher kaum berücksichtigt werden, was die Umsetzung von dringend nötigen Bildungsangeboten zum Themenfeld Kolonialismus und Kolonialitäten erschwert. Gerade in Anbetracht des zunehmenden Rechtsrucks und der sich verschärfenden globalen und sozialen Ungleichheiten ist nicht nachvollziehbar, dass Bildungsarbeit zu Diskriminierungssensibilität, Antirassismus, kolonialen Kontinuitäten sowie Aufklärung gegen Rechtsextremismus nicht explizit im BMZ-Konzept „Entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit“ genannt wird. Eine zeitgemäße und kritische entwicklungspolitische Informations- und Bildungsarbeit muss sich mit diesen Themen auseinandersetzen, um Kompetenzen im Sinne einer nachhaltigen, toleranten, weltoffenen und demokratischen Teilhabe zu fördern.

 

*Viktoria Hellfeier (sie/ihr) ist weiß positioniert und als Bildungsreferentin mit den Schwerpunkten sozialökologische Transformation, dekoloniale und feministische Theorie in der W3_ tätig.

Dieser Beitrag erscheint anlässlich des 140. Jahrestages der Berliner Kolonialkonferenz, die vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 stattfand. Bei der Konferenz teilten die Kolonialmächte den afrikanischen Kontinent unter sich auf und legten ihre Einflusssphären fest. Die Ergebnisse der Konferenz haben bis heute Auswirkungen auf die Lage in Afrika und internationale Politikprozesse insgesamt.

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