Und wieder Migration. Es ist schon bemerkenswert, mit welcher Obsession die EU die Themen Grenzsicherung und Migrationsmanagement bei jedem Gipfeltreffen mit afrikanischen Staaten ganz oben auf der Agenda platziert. Was afrikanische Brot für die Welt-Partner davon halten, erzählt mir Moctar Dan Yaye, bei Alarmphone Sahara für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Wir telefonieren kurz nach einem Gedenkmarsch in der nigrischen Stadt Agadez, den er mit anderen Aktivist*innen und Migrant*innen zum örtlichen Friedhof organisiert hat. Weltweit wird am 6. Februar den Menschen gedacht, die entlang der Flucht- und Migrationsrouten verschwunden oder ums Leben gekommen sind. Anlass dafür: Am 6. Februar 2014 starben 15 Migrant*innen an der Grenze zwischen Marokko und der spanischen Exklave Ceuta, als die Guardia Civil sie mit Gummigeschossen und Tränengas attackierte. Bis heute wurde kein einziges Mitglied der Guardia Civil dafür verurteilt. (Der Brot für die Welt-Partner ECCHR vertritt einige der Hinterbliebenen bis heute rechtlich.) Dieser Vorfall ist nur ein Beispiel dafür, welch negativen Folgen die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik in Afrika hat, wie Moctar Dan Yaye schildert.
Beim EU-Gipfel möchte die EU die Bekämpfung von in ihren Augen illegaler Migration noch verstärken. Ist der Gipfel ein Thema im Niger?
Für mich persönlich ist der Gipfel wichtig. Generell schenken die Menschen hier dem Gipfel aber kaum Beachtung. Armut, Sicherheit, gute Verwaltung und Regierungsführung – das sind die Themen, die die Menschen umtreiben. Und hier hat keiner der vielen Gipfel in der Vergangenheit zu Verbesserungen geführt.
Auch in Deutschland ist das öffentliche Interesse am Gipfel gering. Dabei wird dort über problematische Weichenstellungen wie die weitere Aufrüstung der innerafrikanischen Grenzen oder der verstärkte geheimdienstliche Austausch zur Bekämpfung illegaler Migration mit Frontex entschieden..
Auf jeden Fall müssen wir das kritisch begleiten. Die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik betrifft uns ja heute schon sehr negativ. Beim Valletta-Gipfel 2014 hat die EU Niger als zentrale Land zur Eindämmung von Migrationsbewegungen nach Europa identifiziert und unsere Politik völlig umgekrempelt. Bis 2014 wurde Migration im Niger als Normalität betrachtet. Agadez liegt auf der Salzroute, die durch die Sahara und den Sahel führt, und ist seit Jahrhunderten ein wichtiges Drehkreuz für Waren und Menschen aus ganz Westafrika. Viele Menschen aus den ländlichen Regionen des Niger siedeln in der Trockenzeit nach Ghana oder Benin über, um dort Arbeit zu finden. Andere waren lange als Gastarbeiter in Libyen oder Algerien – ohne dafür überhaupt ein Visum zu benötigen. Dann kam die EU – und hat 2015 die Implementierung eines Gesetzes gefordert, welches Migranten unter Generalverdacht stellt, und Migration über Landesgrenzen weitgehend verbietet. Plötzlich redeten alle von „illegaler Migration“ – einen Ausdruck, den wir davor gar nicht kannten. Die Regierung hat da mitgemacht, weil sie von europäischen Geldern abhängig ist. Sie hat sich zum Gendarmen Europas machen lassen.
Mit welchen Folgen?
Katastrophalen. In Agadez ist die lokale Wirtschaft zusammengebrochen, weil Busfahrer, Hoteliers und Restaurantbesitzer ihre Einkommensgrundlage verloren. Doch nicht nur hier, im ganzen Niger leidet die Wirtschaft. Die Freizügigkeit innerhalb der westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft ist massiv eingeschränkt, Gastarbeit in den nordafrikanischen Ländern eigentlich gar nicht mehr möglich. Das treibt viele Menschen in die Armut. Besonders schwierig ist die Lage natürlich für Migrant*innen Richtung Norden. Um den verstärkten Kontrollen zu entgehen, nehmen sie und ihre Schlepper immer gefährlichere Routen durch die Sahara und meiden Wasserstellen. Das alles macht die Migration gefährlicher, viel teurer - und erschwert die Nothilfe im Falle von Fahrzeugpannen. Uns Aktivist*innen trifft das Gesetz auch. Wir arbeiten seither in einem rechtlichen Graubereich, da jede Unterstützung von "illegaler" Migration und Migrant*innen verboten ist. Auch wenn wir der Migration eigentlich neutral gegenüberstehen – wir wollen Migration weder verhindern noch befeuern, sondern nur die Rechte von Migrant*innen verteidigen und Leben retten – arbeiten wir in ständiger Angst, von den Behörden kriminalisiert zu werden.
Hier gibt es sehr viele Parallelen zu politischen Entwicklungen an den EU-Außengrenzen. Ob in Griechenland, Polen oder Spanien: Flucht und Migration werden von der Politik als etwas Anormales betrachtet, das es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. Dabei nimmt man auch weitgehende Einschränkungen von Grundrechten – der Migrant*innen, aber auch von Journalist*innen oder Aktivist*innen – in Kauf.
Ja, diese Entwicklung gibt es leider weltweit. Wir sind mit Aktivist*innen aus Lateinamerika im Austausch, die seit Jahrzehnten mit massiver Gewalt entlang der Flucht- und Migrationsrouten konfrontiert sind. Es wäre wichtig, diesen Austausch zu vertiefen – auch mit europäischen Akteuren. Der europäischen Öffentlichkeit muss klar sein: Was die EU derzeit in Ländern wie Niger macht, ist eine Art „Subcontracting“. Man bezahlt afrikanische Regierungen, dass sie die dreckige Arbeit bei der Migrationsbekämpfung übernehmen. Das Leid der Migrant*innnen hört nicht auf, es rückt nur weiter von Europa weg – und damit auch aus dem europäischen Bewusstsein.
Ich denke, wir sind uns einig, dass die politischen Beziehungen zwischen Europa und Afrika einen Neustart brauchen. Was wären aus deiner Sicht zentrale Elemente einer neuen Politik zwischen den beiden Kontinenten?
Gute Beziehungen zwischen Europa und müssen auf Respekt und Ehrlichkeit beruhen. Respekt bedeutet, dass Europa den paternalistischen Umgang mit Afrika beendet. Die EU muss afrikanische Staaten endlich als selbstständige und gleichwertige Partner akzeptieren, nicht als Länder, denen man Vorgaben machen kann – egal, ob in der Landwirtschafts-, der Migrations- oder der Handelspolitik. Dazu zählt auch, auf die Bevölkerung in den afrikanischen Ländern zu hören. Bei uns wollen die Menschen beispielsweise, dass sich Frankreich ein für alle Mal aus dem Sahel zurückzieht. Frankreich verfolgt hier seine ganz eigene politische Agenda, und die Leute wollen das nicht. Und zur Ehrlichkeit: Europa sollte seine eigene Geschichte nicht vergessen. Europa ist selbst ein Kontinent, der immer stark durch Migration geprägt war. Sich nun hinzustellen, und Migration als etwas Anormales und Gefährliches zu brandmarken, geht nicht an. Die EU muss Migration als Normalität akzeptieren.
Alarmphone Sahara (APS) ist ein Kooperationsprojekt von Initiativen und Aktivist*innnen aus Afrika und Europa und seit 2019 Partner von Brot für die Welt. APS leistet Nothilfe und unterstützt Menschen entlang der Flucht- und Migrationsroute durch die Sahara. Außerdem dokumentiert die Organisation Menschenrechtsverstöße wie die illegalen Pushbacks Algeriens an der nigrischen Grenze.