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Samir Abi: "Das eigene Land ist wie ein Gefängnis"

Ökonom Samir Abi aus Togo kritisiert die Migrationspolitik der EU als Gefahr für Bürgerrechte und Wirtschaft in Afrika. Er leitet das westafrikanische Beobachtungsnetzwerk. Die NGO ist Partner von Brot für die Welt und als Vertreter der Zivilgesellschaft zum EU-Afrika-Treffen auf Malta eingeladen.

Von Ehemalige Mitarbeitende am

Welche Veränderungen sind Ihrer Organisation, der Observatoire Ouest Africain des Migrations, durch die Verschärfung der Migrationskontrollen aufgefallen?

Im Gegensatz zu früher haben die Bürger in Westafrika seit drei bis vier Jahren an den Grenzübergängen massive Schwierigkeiten, obwohl rechtlich gesehen jeder mit seinem Pass reisen darf. Wir beobachten, dass die EU mit ihrer Politik afrikanische Staaten dazu bringt, ihre Grenzen dicht zu machen. Die EU bildet afrikanische Grenzbeamte und Polizisten aus und sorgt für die entsprechende Ausrüstung. Mehr Kontrolle setzt mehr Polizei und mehr Soldaten voraus und diese Präsenz führt wiederum dazu, dass Reisende massiv eingeschränkt werden, die sich aus Tradition und Handelsgründen in dem regionalen Raum bewegen.

Überspitzt gesagt fühlen wir Westafrikaner uns wie in einem Gefängnis im jeweils eigenen Land. Diese Entwicklung wirft die Region auch wirtschaftlich zurück, weil der Handel zwischen den Ländern immer schwieriger wird. Es gibt viele länderübergreifende verwandtschaftliche Beziehungen und Familien können sich nur unter großen Schwierigkeiten treffen. Am Grenzübergang zwischen Nigeria und Benin weigerte ich mich beispielsweise für die Weiterreise zu zahlen und die lokalen Grenzbeamten versuchten mich mit Waffen einzuschüchtern. Auch zwischen Mali und Niger saß ich für fünf Stunden fest. Viele Migranten erzählen, dass sie 20.000 CFA, das sind über 30 Euro, bei einem Grenzübergang zahlen mussten. Das ist für uns sehr viel Geld. Wenn man nicht zahlt, werden Grenzbeamte mitunter handgreiflich und lassen Reisende mitsamt ihrer Familie schutzlos in der Sonne stehen. Frauen berichten, dass sie massiv bedrängt und belästigt werden auf der Suche nach verstecktem Geld am Körper.

Die EU spricht nicht gern über die Rechte von Migranten, aber über Menschenrechtsverletzungen und Wahlbetrug.  Sie verteidigt nicht diejenigen, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, sondern das Gegenteil ist der Fall.

Nimmt Ihre Organisation das Problem in den Fokus, dass so viele Menschen auf dem Weg Richtung Europa sterben?

Am vergangenen internationalen Tag der Migranten versammelten wir uns im Rahmen der „Blumen-Kampagne“, um der vielen Toten zu gedenken. Aber wir sehen es global: Es sterben nicht nur afrikanische Migranten in der Sahara oder auf dem Mittelmeer, sondern auch sehr viele Menschen in Asien. Dort gibt es so viele Flüchtlinge, die über das Meer nach Australien gelangen wollen und dabei ums Leben kommen – über sie redet hier niemand. Auch in Mexiko herrscht Ausnahmezustand. Viele werden während der Reise durch Mexiko von Kriminellen entführt, erpresst und umgebracht oder sterben, wenn sie versuchen die Wüste im Süden der USA zu durchqueren. Auch im Atlantik  auf der Route von Nigeria Richtung  Gabun kommen viele Menschen ums Leben - das ist ein sehr großes Problem. Für sie muss es Menschlichkeit und Hilfe geben!

Wie viele der Migranten überleben die Reise durch die Sahara nicht?

Die internationale Organisation für Migration (IOM) sammelt Zahlen über Migranten, die durch Agadez reisen, durch den zentralen Knotenpunkt in der nigrischen Wüste via Libyen. Das sind Tausende und Tausende, aber Zahlen darüber, wie viele Menschen in der Wüste wirklich sterben, gibt es einfach nicht.

Momentan wird die Route durch Agadez blockiert und es wurde ein Transitcamp von IOM für Rückkehrer aus Libyen eingerichtet. Es ist schockierend, was die Menschen erzählen. Sie haben teilweise Jahre in libyschen Gefängnissen verbracht und wurden misshandelt. Sie sind in einer schlimmen Verfassung, haben kein Geld mehr und keinerlei Perspektiven. Aber sie haben überlebt!

Was erfahren Sie persönlich von Migranten, die Richtung Europa ausreisen wollen?

Ich spreche häufig mit Deportierten aus Libyen, dem Niger oder aus anderen arabischen Ländern. Erst einmal machen ihnen die vielen Veränderungen zu schaffen – sei es das Klima oder auch die anderen Lebensgewohnheiten. Unter Diskriminierung leiden sie am meisten. Bei den Grenzen müssen sie stundenlang warten oder für einen Schlafplatz mehr bezahlen als andere. Benachteiligt werden sie auch im Krankheitsfall in den Kliniken. Häufig erhalten Migranten keine Papiere und können diese Reise nicht fortsetzen. Wir haben in Westafrika auch extreme Schwierigkeiten, Visa für die EU zu bekommen. Mein Vater brauchte beispielsweise vor 35 Jahren kein Visum, um nach Europa zu reisen. Mitte der 90er Jahre hat dann die Europäische Union mit ihrer restriktiven Visapolitik begonnen. Das hat in der Konsequenz dazu geführt, dass immer mehr Migranten und Flüchtlinge im Mittelmeer gestorben sind und war der Beginn einer inhumanen Politik.

Wie begegnen Sie dem Argument, dass mit einer liberaleren Visaregelung zu viele Migranten aus Afrika nach Europa kommen würden?

Es gibt wenig gesicherte Zahlen darüber, wie viele Arbeitsmigranten kommen und wie viele wieder gehen. Aber die Europäer haben den Eindruck, dass zu viele „hängenbleiben“. Diese Verwirrung entsteht, weil Personen, die in Europa geboren wurden, als Ausländer wahrgenommen werden. Das betrifft insbesondere Bürger mit einem afrikanischen oder arabischen Migrationshintergrund. Die Anzahl an Migranten, die bleiben wollen,  hat nach unseren Kenntnissen nicht zugenommen. Viel problematischer ist, dass ein Land wie Frankreich nur 100.000 Visa jährlich ausstellt für Personen, die aus aller Welt kommen - also auch für Leute wie mich. Das Gros der Arbeitsmigranten will aber nur eine Zeit arbeiten und dann zurückkehren. Hier müsste die Politik ansetzen. Ich schätze, es werden europaweit höchsten 500.000 sein, die sich wirklich niederlassen wollen.

Aber wir haben ja bereits viele Geflüchtete aufgenommen…

Deutschland hat über eine Million Geflüchteter aufgenommen und die deutsche Gesellschaft fühlt sich am Limit. Nach Äthiopien und Kenia sind mehr als fünf Millionen geflohen. Afrika ist viel massiver mit Flüchtlingsbewegungen konfrontiert, obwohl der Kontinent als viel weniger entwickelt gilt. Wir nehmen sie auf, weil sie nicht Schuld an ihrer Flucht sind. Auch die EU ist aus meiner Sicht daran beteiligt, dass Kriege entstehen und aufrechterhalten werden, wie beispielsweise in Libyen und in Syrien. Darum trägt Europa eine Verantwortung dafür, dass Geflüchtete Schutz erhalten.

Welche weiteren Gründe gibt es aus Ihrer Sicht für die Migrationsbewegungen via Europa?

Es geht vielen Millionen Menschen stetig schlechter, weil Entwicklungskonzepte umgesetzt wurden, die weder für das Klima noch für die Umwelt gut sind. Die westliche Welt ist federführend beim Kohlebergbau, sie beutet Mineralien aus, holt sich Coltan für Handys und andere seltenen Erden. Bauern können ihre Felder nicht mehr bestellen, weil auf diese Weise das Land kaputt gemacht wird. Das Ziel ist den westlichen Lebensstil aufrecht zu erhalten. Die Frage ist, wer die Waffen in dieser Welt produziert und verkauft und sehr gut damit verdient? Ich denke, dass wir von einer  gemeinsamen globalen Verantwortung für die jetzige Krise ausgehen und gemeinsame globale Lösung dafür finden müssen. Es geht nicht um den Kampf gegen sogenannte Fluchtursachen in einzelnen Ländern. Nationale Souveränität ist heutzutage eine Konstruktion. Wir müssen global denken. Wenn man die richtige Politik verfolgen würde, dann gäbe es diese tausenden Toten nicht, sondern die Möglichkeit, sich legal und sicher fortzubewegen.

Sie meinen sichere legale Wege für Flüchtlinge wie Arbeitsmigranten gleichermaßen?

Ja, weil jeder ein Recht hat zu flüchten oder andernorts auf die Suche nach Arbeit zu gehen…Stellen Sie sich vor, wenn in Europa Bomben fallen oder Sie können sich und ihre Familien nicht mehr ernähren, dann haben auch Sie ein Recht dazu. Das ist normal. Auch Mobilität ist eine Form der Migration und ein Menschenrecht: wenn Leute aus den Dörfern in die Städte kommen, um ein neues Leben zu beginnen oder ins Ausland gehen, um dort zu arbeiten. Über 3,4 Millionen Deutsche leben in einem der achtzehn OECD- Länder, also der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, und weltweit sind es noch viel mehr. Rund 140.000 Deutsche verlassen jährlich das Land. Migration ist normal  – egal ob sie in Europa, in Afrika, in Asien oder in den USA stattfindet.

Kritisiert die westafrikanische Zivilgesellschaft  die neuen Formen der EU-Migrationspolitik?

In Mali gibt es eine starke Bewegung, die gegen die Rückführungen protestiert, denn viele Migranten werden aus Deutschland und Frankreich abgeschoben. Auch im Senegal bestehen starke zivilgesellschaftliche Netzwerke sowie in Marokko, teilweise in Ghana und Nigeria, wo viel über Migration geforscht wird. Eine wichtige Erkenntnis aus unserer Arbeit ist, dass wir alleine nichts erreichen können. Wir müssen globale  Lösungen suchen, wie wir den Problemen von Krieg, Hunger und Klimawandel in der Welt begegnen können…sonst sterben wir alle zusammen.

Gibt es überraschende Erfahrungen bei Ihrer Arbeit?

Ja! Wir vernetzen uns mit Organisationen weltweit und waren beispielsweise in Bangladesch auf dem Global Forum für Migration und Entwicklung. Die Solidarität unter den Leuten, die wir erleben, ist unglaublich. Wir sind überall in der Welt willkommen und das ist ein großes Zeichen für Menschlichkeit.    

Wie wichtig ist die Partnerschaft mit Brot für die Welt für Sie?

Dass Partner in Europa so denken wie wir, ist für uns sehr wichtig. Wir setzen uns alle dafür ein, dass Flüchtlinge einen Schutzstatus bekommen und teilen die Positionen über Rechte von Migranten und Solidarität. Jetzt wollen wir uns in der Zusammenarbeit auf den westafrikanischen Raum konzentrieren, um wieder mehr Mobilität und offenere Grenzen zu erwirken.

 

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Lachender Junge

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