Gewalt von allen Seiten
Insbesondere in Süd- und Zentralamerika sind Regierungen, Sicherheitsapparate und Organisierte Kriminalität oft so verflochten, dass die Zivilgesellschaft kaum unterscheiden kann, woher die Angriffe kommen.
Überblick
Wenn das größte Land Südamerikas einen Verachter der Menschenrechte wie Jair Bolsonaro durch eine freie Wahl ‒ wenn auch knapp ‒ abschüttelt, macht das Hoffnung. In vielen Staaten, vor allem in Mittelamerika, bleibt die Lage für die Zivilgesellschaft indes weiter schwierig, was die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten betrifft. So war 2022 das bis dato tödlichste Jahr für Journalist:innen der Region; die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte listet 38 ermordete Medienvertreter:innen auf. Und weil in Lateinamerika viele Taten straflos bleiben und die Rechtsstaatlichkeit zunehmend aufgehoben wird, werden viele Morde niemals aufgeklärt. Viele Länder werden von Gewalt zwischen Drogenkartellen, kriminellen Banden und Sicherheitskräften erschüttert.
Menschenrechtsverteidiger:innen werden eingeschüchtert, verschleppt oder ermordet sowie Menschen, die für ihre Rechte eintreten und demonstrieren, verhaftet oder von Polizei, Militärs oder bewaffneten privaten Milizen zurückgedrängt. Sorge bereitet der Zivilgesellschaft zudem die Verflechtung von Staat, Sicherheitsapparat und Organisierter Kriminalität. Neben Brasilien zeigt auch Kolumbien eine ermutigende Entwicklung für die Zivilgesellschaft: Gustavo Petro, seit Juni 2022 Präsident Kolumbiens, hat beispielsweise eine Umweltaktivistin in sein Kabinett geholt. Er stellt die Umsetzung des Friedensabkommens von 2016 hoch oben auf seine politische Agenda und verspricht, die Empfehlungen der Wahrheitskommission umzusetzen.
Im Fokus
Nach zwei Jahren Aktivismus und öffentlichen Protesten, die mit landesweiten Demonstrationen 11. Juli 2021 ihren Höhepunkt erreichten, gilt als das Jahr, in dem der Widerstand der kubanischen Zivilgesellschaft zusammengebrochen ist.
Der Einparteienstaat geht massiv gegen alle vor, die mit der Politik der Kommunistischen Partei nicht einverstanden sind. Er hat fast alle sozialen Bewegungen zerschlagen und führende Oppositionelle zum Schweigen gebracht. Nicht nur die politische Krise, sondern auch schwere Versorgungsengpässenwaren allerdings Anlass dafür, dass auch im Jahr 2022 immer wieder Proteste aufkamen. Jedoch unterdrückten Sicherheitskräfte diese mit gleicher Härte wie in den Jahren zuvor. Die Regierung ließ Tausende verhaften. Viele von ihnen sitzen seither ohne Gerichtsverfahren im Gefängnis, andere wurden zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Handlungsräume für NGOs sind durch staatliche Unterdrückung kaum vorhanden. Meinungs- und Versammlungsfreiheit werdendurch Überwachung und willkürliche Inhaftierungen von Kritiker:innen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen kontrolliert und eingeschränkt.
Die Lage in Haiti wird bestimmt durch Naturkatastrophen, Inflation und politische Unruhen ‒ und das nicht erst seit der Ermordung des letzten gewählten Präsidenten im Sommer 2021.
Angesichts des politischen Machtvakuums durch abgesagte Wahlen, der fehlenden Legitimität des kommissarisch eingesetzten Präsidenten Ariel Henry und der vielen nicht besetzten Sitze im Parlament weitet sich der Einfluss bewaffneter Banden weiter aus. Sie kontrollieren mittlerweile die Hälfte des Landes. Nach Einschätzungen von Expert:innen gibt es etwa 300 solcher Gruppen und Milizen, die oft eng mit der Polizei zusammenarbeiten. Insbesondere in der Hauptstadt Port-au-Prince ist das öffentliche Leben stark von der Bandenkriminalität geprägt und kam 2022 zeitweise vollständig zum Erliegen. Entführungen sind an der Tagesordnung. So wurde im zweiten Quartal mit landesweit 326 Entführungen ein neuer Höchststand erreicht. Zivilgesellschaftliche Organisationen können weiterhin nur mit Einschränkungen und unter strengen Sicherheitsvorkehrungen arbeiten. Ende 2021 entwickelten sie und Vertreter:innen politischer Parteien das Montana-Abkommen, einen Vorschlag für eine Übergangsregierung und einen Aktionsplan für soziale Gerechtigkeit und humanitäre Hilfe, um für Stabilität im Land zu sorgen. Verhandlungen über das Abkommen kamen bisher zu keinem Ergebnis.
Die Arbeit der Zivilgesellschaft in El Salvador wird stark durch den Kampf der Regierung gegen bewaffnete Banden, die sogenannten Maras, beeinträchtigt.
Nachdem Mitglieder der berüchtigten „Mara Salvatrucha 13“ im März 2022 binnen drei Tagen 87 Menschen umgebracht hatten, wies Präsident Nayib Bukele das Parlament an, einen zunächst auf 30 Tage befristeten Ausnahmezustand zu verhängen. Dieser wurde seitdem mehrmals verlängert. Der Staat kann dadurch zentrale Grundrechte wie das Recht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, das Recht der Unverletzlichkeit privater Kommunikation und das Recht auf einen unverzüglichen Rechtsbeistand einschränken. Davon ist auch die Zivilgesellschaft betroffen: Bereits 2021 hatte Bukele zivilgesellschaftliche Organisationen, Think Tanks und Journalist:innen als Teile der Organisierten Kriminalität bezichtigt ‒ sowie die Maras als verlängerten bewaffneten Arm der Opposition, der NGOs und der internationalen Gemeinschaft. Damit tragen die NGOs, die in den von Banden kontrollierten Vierteln arbeiten, das Risiko, jederzeit kriminalisiert zu werden. Gleichwohl genießt der Regierungsstil von Bukele Rückhalt in der Bevölkerung: Viele Menschen in El Salvador leben trotz der autoritären Tendenzen heute gefühlt sicherer. Auf der anderen Seite wurden laut Regierungsquellen bis Ende Dezember 2022 62.792 Personen verhaftet, darunter 1.082 minderjährige Jugendliche, 918 Jungen und 164 Mädchen.
Anfang 2022 trat Daniel Ortega seine vierte Amtszeit als Präsident von Nicaragua an. Er kontrolliert mittlerweile Regierung, Parlament, öffentliche Verwaltung, Justiz und die verbleibenden Medien.
Für die Zivilgesellschaft bedeutet das: noch weniger Freiheit, noch mehr Druck. Schon während des Wahlkampfes 2021 wurden zahlreiche Oppositionelle und regierungskritische Demonstrant:innen verhaftet. Das Wahlergebnis ‒ nach offiziellen Angaben stimmten 75 Prozent für Ortega ‒ gilt als gefälscht. Seit der Wahl geht die Regierung noch härter gegen ihre Gegner:innen vor. Das Anti-Geldwäschegesetz behindert die Arbeit regierungskritischer zivilgesellschaftlicher Organisationen stärker denn je: Unter dem Vorwand der Terrorismusfinanzierung und anderer fadenscheiniger Gründe wurde allein 2022 mehr als 3.200 Organisationen ‒ und damit fast der Hälfte der NGOs im Land ‒ der Rechtsstatus entzogen.
Systematisch werden auch die Grundrechte politischer Gefangener durch Isolationshaft, Folter und schlechte medizinische Versorgung verletzt. Im März 2022 verwies die Regierung den örtlichen Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes des Landes, weil er Häftlinge in Gefängnissen besucht hatte. Außerdem wurden hunderte Oppositionelle ohne Rechtsgrundlage ausgebürgert. Im selben Monat verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat eine Resolution zu Nicaragua: Die Menschenrechtsverletzungen sollen unabhängig untersucht werden.
Zivilgesellschaftliche Organisationen sind besorgt: Präsident Alejandro Giammattei ließ staatliche Institutionen wie das „Sekretariat für Frieden“ oder die „Präsidialkommission für Menschenrechte“ schließen. Angehörige der Justiz werden verfolgt.
Das Land ist tief gespalten ‒ vertieft noch durch die Schließung der friedensstiftenden Institutionen. Das vergangene Jahr brachte weitere Rückschritte: So wurde im Mai die
Generalstaatsanwältin Consuelo Porras wiedergewählt, die Straflosisgkeit und Korruption auf allen Ebenen deckt. Der Ombudsmann für Menschenrechte, Jordan Rodas, ging im August 2022 ins Exil. Er war eine der letzten kritischen Stimmen im Land. Ohnehin sind die zivilgesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten sehr beschränkt. Repressionen gegen Menschenrechtsverteidiger:innen, soziale Einrichtungen und NGOs nehmen zu. Sukzessive werden rechtsstaatliche Prinzipien und die Gewaltenteilung ausgehebelt. Die Regierung versucht per Gesetz, die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen stärker zu kontrollieren. Ein NGO-Gesetz etwa reglementiert nicht nur Geldtransfers, sondern erteilt dem Innenministerium auch das Recht, Organisationen ohne Gerichtsverfahren aufzulösen. Menschenrechtsverteidiger:innen und Journalist:innen werden diffamiert, stigmatisiert und kriminalisiert. Besonders gefährdet ist, wer Land-, Umwelt-, und Indigenenrechte verteidigt oder darüber berichtet.
Vor allem Umweltschützer:innen, Frauenrechtsaktivist:innen und Kämpfer:innen für die Rechte Indigener lebten unter Bolsonaro in ständiger Angst. Die Wahl von Lula da Silva brachte Hoffnung.
Das Land ist gespalten ‒ das zeigt nicht nur die Präsidentschaftswahl, die Lula da Silva in einer Stichwahl am 30. Oktober 2022 gegen Amtsinhaber Jair Bolsonaro gewann, sondern auch der Sturm auf das Regierungsviertel in Brasilia Anfang 2023 durch Bolsonaro-Anhänger:innen. Die Ablösung Bolsonaros lässt Menschenrechtsverteidiger:innen und insbesondere Indigene dennoch Hoffnung auf bessere Zeiten schöpfen. Zur Wahl waren so viele indigene Kandidat:innen wie nie angetreten. Neun von ihnen wurden ins Parlament gewählt. Bolsonaros ausbeuterische Wirtschaftspolitik traf insbesondere die indigene Bevölkerung und den verfassungsrechtlich verankerten Schutz ihres Landes. Höchst problematisch war 2022 die Menschenrechtslage im ganzen Land; Organisationen berichteten immer wieder von Morden und anderen Gewalttaten durch Polizist:innen, die zumeist straffrei bleiben. Es gab massive Übergriffe gegen Umweltschützer:innen. Sie leben in Brasilien gefährlich, weil sie der Nutzung und Ausbeutung von Böden und Wäldern im Wege stehen.
Nach Jahren politischer und ökonomischer Krise durchlebt Peru den Zerfall seiner demokratischen Strukturen.
Auslöser hierfür war die Inhaftierung des ehemaligen Präsidenten Pedro Castillo, die nach seinem erfolglosen Versuch das Parlament aufzulösen im Dezember 2022 das Fass zum Überlaufen brachte. In Protestmärschen forderten Demonstrant:innen die Freilassung Castillos, Neuwahlen und die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Über 60 Menschen sind dabei mittlerweile umgekommen, die meisten wurden Opfer von Polizeigewalt in den südlichen Bundesstaaten Perus. Über 1.500 Menschen wurden verletzt und Dutzende verhaftet. Doch das Aufbegehren gegen die vom rechtsgerichteten Kongress eingesetzte Regierung unter der seit Dezember amtierenden Präsidentin Dina Boluarte bleibt ungebrochen. Höhepunkt war ein Marsch auf die Hauptstadt.
Es kamen Zehntausende, teilweise aus abgelegenen Provinzen, um dem Aufruf „Einnahme von Lima“ zu folgen. Das führte zu Straßenschlachten, bei denen die Sicherheitskräfte Tränengas und Gummigeschosse einsetzten. Ein Gebäude ging in Flammen auf, etliche Menschen wurden schwer verletzt. Zugleich wurde Ende Januar auf brutale Weise die staatliche Universität San Marcos geräumt. Student:innen hatten sie als Zeichen des Widerstands besetzt und wollten Tausenden der Demonstrierenden eine Unterkunft bieten. Die Polizei rückte mit gepanzerten Fahrzeugen an, setzte Tränengas ein und misshandelte besonders indigene Frauen. Gut 200 Aktivist:innen blieben tagelang ohne Rechtsgrundlage in Haft. Die Polizei rechtfertigte das mit dem zuvor ausgerufenen Ausnahmezustand. Sowohl Regierung als auch Kongress zeigen sich nicht bereit, dem Ruf der Protestierenden nach Neuwahlen nachzukommen. Im Gegenteil, die Regierung reagiert mit zunehmender Repression, willkürlichen Inhaftierungen und Diffamierungskampagen, um die Protestierenden als Terrorist:innen darzustellen. In sieben Bundesstaaten wurde der Ausnahmezustand ausgerufen. Damit wurden auch Grundrechte außer Kraft gesetzt.
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