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Mexiko: Staatsverbrechen Ayotzinapa ungeklärt!

Sechster und letzter Bericht der GIEI zu Ayotzinapa: Es war das Militär und es ist noch immer das Militär! Wo sind die Verschwundenen? Dies waren und sind die Aussagen und Forderungen der Familienangehörigen der 43 verschwundenen Studierenden aus der Landschule von Ayotzinapa.

Von Wolfgang Seiß am
GIEI Bericht

Das Militär und Ayotzinapa

Artikel von Rodolfo Mimbreño

In der Nacht vom 26. auf den 27. September 2014 wurden sie in Iguala, im Bundesstaat Guerrero, von Sicherheitskräften im Verbund mit der organisierten Kriminalität (OK) attackiert und verschleppt, seither sind sie verschwunden.

Gravierende Menschenrechtsverletzungen in Mexiko

Kein anderer Fall der gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Mexiko hat so viel internationale Aufmerksamkeit, Beachtung und Solidarität erfahren wie der Überfall in jener Nacht auf die Studierenden, das Verschleppen, die Morde und das unaufgeklärte Schicksal. Die Vorgängerregierung unter Präsident Peña Nieto entwarf eine perfide „historische Wahrheit“, die der mexikanischen und der Weltöffentlichkeit weismachen wollte, alle Verschleppten seien auf der Müllhalde von Cocula verbrannt worden.

In unermüdlicher Arbeit des argentinischen Forensischen Teams, Menschenrechtsorganisationen wie Tlachinollan oder des Centro Pro Derechos Humanos und nicht zuletzt dank der Arbeit in verschiedenen Phasen der „Internationalen unabhängigen Expertengruppe“ GIEI, der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, wurde nicht nur die vorgebliche historische Wahrheit als konstruiertes Lügengebilde aufgedeckt. Es wurden durch die GIEI auch minutiös Archive, Protokolle, Videoaufnahmen und Interviews mit Zeugen und mit den zunächst über 100 Verhafteten angeblich der Organisierten Kriminalität zugehörigen Personen durchgeführt.

Aufklärung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador

Nach dem Amtsantritt des derzeitigen Präsidenten López Obrador (AMLO) 2018 wurde 2019 die GIEI erneut ins Land gebeten, die Aufklärung des Falles zur Chefsache gemacht.

Die von Präsident López Obrador eingesetzte staatliche Untersuchungskommission „Comisión para la Verdad y el Acceso a la Justicia del Caso Ayotzinapa (Covaj)“  unter Vorsitz des Staatsekretärs für Menschenrechte, Bevölkerung und Migration, Alejandro Encinas, überraschte 2022, Monate nach dem fünften Bericht der GIEI, mit einem eigenständigen Bericht die Öffentlichkeit. Viele der Ergebnisse waren bereits im Bericht der GIEI enthalten. Noch überraschender war aber, dass der Bericht der COVAJ weder mit der GIEI abgestimmt noch zuvor wie vereinbart den Familiengehörigen vorgestellt wurde.

Nur 24 Stunden nach der Präsentation des Berichtes wurde der ehemalige Generalstaatsanwalt Murillo Karam, der die „historische Wahrheit“ präsentiert hatte, verhaftet. Encina betonte damals, dass diese „historische Wahrheit“ das Ergebnis eines konzertierten Handelns des Machtapparates war. Wäre damals aufgrund der vorliegenden Informationen sofort eingegriffen worden, hätte die Repression und die Ermordung der Studierenden vermieden werden können. Nicht nur dass Encinas die Vorgänge ein Staatsverbrechen nannte, er sprach auch zum ersten Mal öffentlich von der Ermordung der Studierenden, ohne dass dies zuvor mit den Angehörigen abgestimmt worden war.

Geflecht der Komplizenschaft und Vertuschung

Die ebenfalls 2019 eingesetzte Sonderstaatsanwaltschaft (UEILCA) zum Fall Ayotzinapa konnte aufgrund der GIEI-Untersuchungsergebnisse, eigener Ermittlungen und unabhängig vom Bericht der staatlichen Kommission COVAJ 83 neue Haftbefehle erwirken. Allerdings sah sie sich mit dem weiterhin existierenden Geflecht der Komplizenschaft und Vertuschung der Vorgänge konfrontiert: Die Generalstaatsanwaltschaft Mexikos intervenierte in das Verfahren und hob 21 Haftbefehle auf, darunter 16 gegen Militärangehörige, darunter der Kommandeur des 41. Infanteriebataillons, seinerzeit zugleich Koordinator der staatlichen Sicherheitskampagne „Sicheres Guerrero“.

Diese willkürliche Einmischung führte zum Rücktritt, nicht nur des leitenden Staatsanwaltes Omar Gómez Trejo, sondern auch von einem Großteil des Ermittlungsteams.

Der letzte Bericht der GIEI

Nach dem Ausscheiden Ende 2022 von Claudia Paz y Paz und Francisco Cox arbeiteten die beiden verbliebenen Mitglieder der GIEI Carlos Beristain und Angela Buitrago weiter daran, Zugang zu Informationen und Unterlagen des Militärs zu erhalten. Dabei konnten sie auf die Unterstützung von Präsident López Obrador zählen, der die Offenlegung der Archive anordnete.

Mit der Vorstellung des jüngsten und letzten Berichtes der GIEI am 25. Juli 2023 steht fest. Sie verließ am 31. Juli das Land, ohne dass der Fall endgültig geklärt ist.

Denn, trotz Aufforderung des Präsidenten als Oberkommandierender der Streitkräfte, kamen diese den mehrfachen Anfragen und Bitten auf vollständigen Zugang zu Dokumenten nicht nach. Sie leugneten die Anwesenheit von Militärangehörigen, Geheimdienststellen, die in die Vorfälle involviert waren und passten ihre Aussagen dem jeweiligen Ermittlungsstand der GIEI an. Falschaussagen, Vertuschungen und Manipulationen von Informationen durch die Sicherheitskräfte gingen weiter.

Geheimdienstliches Zentrum CMI nutzte Spionagesoftware

Um nur ein Beispiel zu zitieren: Im Laufe der Ermittlungen erhielt die GIEI Dokumente des Verteidigungsministeriums (SEDENA) mit dem Kürzel CMI. Zunächst beantwortete SEDENA Nachfragen damit, es würde „Contenido Mediatico de Información“, etwa „Medieninformationsinhalte“ bedeuten, keineswegs „Militärisches Geheimdienstzentrum – Centro Militar de Intelligencia“.

Andere Informationen, darunter Recherchen des Nachrichtennetzwerkes von Carmen Aristegui, machten deutlich, dass es sehr wohl ein geheimdienstliches Zentrum ist, aktiv die Spionagesoftware Pegasus betrieb und seine Arbeit bereits Anfang 2014 aufnahm und nicht erst wie später von SEDENA behauptet Anfang 2015.

In ihrem VI. Bericht stellt die GIEI aufgrund der Analyse von Telefondaten, vertraulichen Zeugenaussagen, der Sichtung und dem Vergleich verschiedenster Dokumente fest, dass alle Sicherheitskräfte von lokaler bis Bundespolizei, Armeeeinheiten, Marine und Geheimdienststellen in die Geschehnisse involviert waren, vor Ort des Geschehens waren, in Minutenabständen Informationen an die jeweiligen Vorgesetzten lieferten, massiv an der Konstruktion der historischen Wahrheit beteiligt waren. Darunter auch an der Folter von Verhafteten, auf deren dadurch erzwungenen Aussagen sich die Beweisführung der „historischen Lüge“ stützte.

Alle waren an dem Verschwindenlassen der 43 aus Ayotzinapa beteiligt

Was ist die Quintessenz des Berichtes der GIEI, die schweren Herzens das Land verlässt? In einer unglaublich konzertierten Aktion waren Mitglieder von Marine und Militär, Polizei, lokale und bundesstaatliche Autoritäten, Organisiertes Verbrechen sowie Geheimdienstorgane des Staates über die Vorfälle in jener Nacht informiert, involviert und aktiv an der bis heute andauernden Vertuschung beteiligt. Die Existenz eines fünften Busses, vermutlich beladen mit Heroin für den Transport in die USA, konnte ebenso durch die GIEI dokumentiert werden wie die Anwesenheit von Militärs des 27. und 41. Infanteriebataillons, des Militärgeheimdienstes SEIDO und von Marinesoldaten auf der Müllhalde von Cocula vor dem Ankommen der Staatsanwaltschaft.

Indizien, die darauf deuten, dass die Studierenden in drei Gruppen aufgeteilt wurden, bevor sie weggebacht und vermutlich noch nach Tagen ermordet wurden, legt der Bericht ebenso vor wie die Hinweise mit Namen von Funktionären in unterschiedlichen Funktionen, die an den Geschehnissen beteiligt waren. Aber die Mitglieder der GIEI betonten auch die Unmöglichkeit, angesichts dieser andauernden Blockade- und Verschleppungstaktik der Sicherheitskräfte, in den Ermittlungen weiterzukommen.

Wie es das Kommissionsmitglied Carlos Beristain ausdrückte: „Mexiko steht an einem Scheideweg und hat aufgrund der Ergebnisse des GIEI-Berichts den Hebel in der Hand, die vollständige Aufklärung des Falles zu erreichen. Die Empfehlungen im Bericht der GIEI sind eindeutig, die der Staatsanwaltschaft übergebenen Dokumente und Namen ebenso. Oder, das Vergessen und die Lüge bleiben institutionalisiert.“

Machtmissbrauch und Kontrolle durch das Militär

Dabei auf das Entgegenkommen des Militärs zu setzen, scheint mehr als ein Sisyphus-Unterfangen zu sein, wenn schon die Anweisung ihres Oberkommandieren nicht ausreichte, alle Archive und Unterlagen zu öffnen und bereitzustellen.

Betrachtet man die von der GIEI dokumentierte Verzögerung, Negierung, Manipulation der Daten, die scheibchenweise Überstellung von Informationen und Daten von Seiten der Sicherheitskräfte, so sieht es nicht nach deren vollständiger Kooperation aus. Stattdessen erhielt das Militär Kontrolle über Seehäfen und Flughäfen, Infrastrukturprojekte, Tourismusvorhaben und auch die Nationalgarde soll dem Militär unterstellt werden. Sehr bedenkliche Aussichten auf die Zukunft Mexikos und die Rolle des „Militärs als Staat im Staat“.

Jedoch stellte sich Präsident López Obrador in seiner Morgenansprache einen Tag später vor die Institution der Streitkräfte. Er betonte, er respektiere die Gesichtspunkte der Experten, teile sie aber nicht. Denn schließlich sei es der Zusammenarbeit von Marine und Heer und der Entscheidung, Straflosigkeit nicht zuzulassen, zu verdanken, dass man in dem Fall weitergekommen sei. Der Präsident betonte, eine Sache seien die Institutionen und eine andere einzelne Staatsbedienstete. Man könne nicht aufgrund des Fehlverhaltens eines Funktionärs eine ganze Institution brandmarken. Gleichzeitig betonte er, man habe eine Annäherung an die Geschehnisse, wer die Verantwortlichen waren, und er würde zu seinem Versprechen stehen, den Fall aufzuklären.

Schlussbericht – aber kein Schlusspunkt!

In ihrer Schlusserklärung vom 31. Juli 2023 betonte die GIEI, dass trotz aller Widrigkeiten heute ein ehemaliger Generalstaatsanwalt, zwei Generäle, 20 Militärangehörige und über 100 Mitglieder der Organisierten Kriminalität, diverse Sicherheitskräfte und staatliche Funktionäre verhaftet seien. Jedoch laute die Anklage auf organisiertes Verbrechen, nicht gewaltsames Verschwinden Lassen der Studierenden. Und dass die 2022 aufgehobenen Haftbefehle wieder neu ausgestellt worden seien und dass es einmalig in Lateinamerika sei, dass ein solcher Fall nicht nur von Regierungsvertretern in Anwesenheit des Präsidenten als Staatsverbrechen bezeichnet wurde und trotz aller Widrigkeiten, soweit vorangetrieben werden konnte.

Die GIEI habe in sechs Berichten Fakten dokumentiert und Empfehlungen ausgesprochen, die es gelte, durch die Justiz und die Behörden Mexikos umzusetzen. Der Fall habe nicht nur Bedeutung für die Suche nach den verschwundenen Studierenden und der Aufklärung, sondern grundsätzlich für notwendige Veränderungen zur Bekämpfung von Straflosigkeit und effektiver Ermittlungsarbeit, die für Mexiko so nötig sei (siehe Originaldokument der GIEI weiter unten).

Die Internationale Gemeinschaft in Form der solidarischen Zivilgesellschaft aber auch Regierungsvertreter:innen hatten in der Vergangenheit immer wieder das Thema Ayotzinapa zur Sprache gebracht. Hatten sich trotz der Versuche der Vorgängerregierung nicht auf die „historische Wahrheit“ oder besser, die „historische Lüge“ eingelassen.

Was werden nun die Reaktion und Antwort sein? In den aktuellen Zeiten  ist Mexiko als Wirtschaftspartner noch wichtiger als zuvor.  Es bleibt zu hoffen, dass auch auf Regierungsebenen Menschenrechtsverletzungen deutlich angesprochen und Unterstützung für die GIEI demonstriert wird. Zum Beispiel durch Einladung und Hintergrundgespräche mit den Mitgliedern der GIEI, aber auch mit Staatssekretär Encinas, dem Vorsitzenden der staatlichen Kommission COVAJ. Auch ein Treffen mit den Familienangehörigen setzt ein Zeichen für die Aufklärung des Falles.

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