Herr Ellmers, wer braucht die UN mehr – der Globale Norden oder der Globale Süden?
Beide Weltregionen brauchen die UN. Denn für viele Themen, etwa die Klimakrise oder die Erhaltung der Biodiversität, ist sie die einzige Organisation, die weltweite Regeln schafft. Die UN besitzt hier das Monopol. Sie ist auch der bedeutendste Akteur im Bereich der humanitären Hilfe.
Und wer schätzt die UN mehr?
Definitiv der Globale Süden. Anders als bei der G20 oder dem Internationalen Währungsfonds haben in der UN-Vollversammlung alle 193 Länder der Welt einen Platz am Verhandlungstisch. Jedes Land hat dort eine Stimme, egal wie klein es ist. Alle, die nicht bei den G20 dabei sind, sehen in der UN die wichtigste Vertreterin ihrer Stimme. Sie schätzen die UN auch, weil deren Schwerpunkte auf konkrete Interessen Afrikas, Lateinamerikas und Asiens ausgerichtet sind: Der Globale Süden will durch die UN primär Entwicklung und Gerechtigkeit fördern. Der Globale Norden die Bereiche Frieden und Umwelt.
Derzeit kann die UN keine der vier Ziele garantieren. Woran liegt das?
Ich sehe drei Ursachen. Erstens die Krise des Multilateralismus und die geopolitische Fragmentierung: Viele Staaten haben nur ihre eigenen Interessen oder die einer ihnen nahen Gruppe im Blick. Dieser Rückzug aufs Nationale äußert sich – zweitens – über die Budgetkürzungen durch Mitglieder, vornehmlich die USA: Bis 2026 muss deshalb wohl jede fünfte Stelle bei der UN abgebaut werden. Ein dritter Grund ist die veraltete Architektur der UN. Sie wurde vor 80 Jahren gegründet, und der Sicherheitsrat mit seinen fünf ständigen Mitglieder USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien spiegelt noch immer die Nachkriegsordnung wider, obwohl die längst obsolet ist. Alle Fünf haben ein Vetorecht, sie müssen einstimmig abstimmen, nur dann kommt eine Resolution durch. Doch einer blockiert immer. Das war auch in den zurückliegenden Jahren so, als über Resolutionen abgestimmt wurde, die womöglich Frieden oder zumindest eine Waffenruhe gebracht hätten.
Was entgegnen Sie den vielen Menschen in Deutschland, die auch deswegen die UN schlichtweg als zahnlosen Tiger sehen?
Ich entgegne ihnen, dass die UN nur so stark sein kann, wie die Mitglieder das zulassen! Wollen die 193 Länder eine durchsetzungsstarke UN, müssen sie auch mitmachen. Doch ohne Mandate und Ressourcen kann die UN als Institution gar nicht viel schaffen. Übrigens höre ich den Vorwurf, die UN sei schwach und untätig, kaum im Globalen Süden. Unsere Partner dort wollen, dass Verhandlungen zu für sie oft überlebenswichtigen Themen über die UN laufen und in UN-Gremien stattfinden – eben, weil sie den Wert der UN für sich erkennen und auch anerkennen.
Wem kommt das UN-Bashing bei uns entgegen?
Allen, die dagegen sind, was die UN tut und wofür sie steht. Klimaleugner*innen und Rechtspopulist*innen finden es nicht gut, dass die UN versucht, das Klima zu schützen und Projekte zur Anpassung an die Klimakrise zu initiieren. Ergo dreschen sie auf die UN ein. Viele Menschen sind auch enttäuscht, weil die UN, verkürzt ausgedrückt, „keinen Frieden in der Ukraine schafft“ – obwohl die relevanten UN-Gremien vielleicht sogar eine Friedensresolution vorgelegt haben. Sie übersehen, wie schon gesagt, dass die UN nur so stark sein kann, wie die Mitgliedsländer sie stark sein oder im Sicherheitsrat abstimmen lassen.
Wer bringt sich zukunftsfähiger in die UN ein – der Globale Norden oder Süden?
Die politische Initiative für grundlegende wirtschafts- und finanzpolitische Fragen bei der UN kommen heutzutage vor allem von den Ländern des Globalen Südens. Es sind überwiegend sie, die für die Partnerorganisationen von Brot für die Welt überlebenswichtige Themen und politische Initiativen in die Generalversammlung tragen! Kurz: Die Visionen kommen derzeit eher aus dem Süden.
Zum Beispiel?
Die Reform der internationalen, zutiefst ungerechten Schuldenarchitektur. Viele Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen sind hochverschuldet, jeder Euro, der in die Tilgung der Schulden fließt, fehlt für öffentliche Güter und krisenreaktive Sozialschutzsysteme. Mehr als drei Milliarden Menschen, das ist mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung, leben in einem Land, das mehr Geld für Zinszahlungen ausgibt als für Bildung oder Gesundheit. Diesen Menschen würde ein Insolvenzregime helfen, das rechtsverbindliche Urteile zur Schuldenstreichung fällen kann und die Grundbedürfnisse armer Länder und Menschen schützt. Die UN haben jetzt das Mandat, in einem zwischenstaatlichen Prozess über so ein Regime zu verhandeln. Das trifft aber bei den großen Gläubigerländern nicht auf Begeisterung.
Zählt auch die geplante Steuerrahmenkonvention zu den Süd-Visionen?
Ja. Dass die UN derzeit über eine Steuerrahmenkonvention verhandelt, ist eine Initiative der Afrika-Gruppe. Ohne Steuereinnahmen fehlt den Ländern das Geld für Entwicklung. Sie fordern, dass transnationale Unternehmen endlich die Steuern in dem Land bezahlen, in dem sie Umsatz und Gewinn machen. Eine fair gestaltete internationale Regelung der Unternehmensbesteuerung könnte den öffentlichen Haushalten weltweit 500 Milliarden US-Dollar pro Jahr an zusätzlichen Steuereinnahmen bringen, davon allein den Entwicklungsländern 200 Milliarden US-Dollar – Geld, das sie wegen der massiven Kürzungen der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit durch die USA, aber auch durch Deutschland, noch dringender brauchen.
Wie wichtig ist für den Globalen Süden eine weitere Vision: die Reform des Sicherheitsrats?
Brasilien und Indien fordern einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat. Das ist verständlich, es ist das stärkste UN-Gremium, am Veto der Fünf geht bislang nichts vorbei. Das Problem: Als Vetomacht könnten und würden sicherlich auch sie sämtliche von ihnen unerwünschte Resolutionen blockieren. Hinzu kommt, dass auch diese beiden Länder nicht zwingend für den gesamten Globalen Süden sprechen – innerhalb der G77, einer losen Koalition von 134 Entwicklungsländern innerhalb der UN, sehe ich so manche Spaltung. Besser wäre es meines Erachtens, das Vetorecht ganz abzuschaffen.
Interview: Martina Hahn



