Ein Artikel von Gerold Schmidt*
Gerold Schmidt ist freier Journalist und Übersetzer. Im Kontext des Escazú-Abkommens führte er mehrere Interviews mit Partnerorganisationen von Brot für die Welt zu den Themen Menschenrechtsverteidiger*innen, Umwelt, Naturressourcen und Rechte indigener und bäuerlicher Gemeinden.
Die kleinbäuerliche Siedlung Yerutí in der paraguayischen Provinz Canindeyú ist noch relativ jung. Sie wurde erst 1991 gegründet. Das Land stellte damals der Staat im Rahmen einer Agrarreform zur Verfügung. Auf einer Fläche von 1 225 Hektar siedelten sich 93 Campesino-Familien an. Jede von ihnen bekam etwa 10 Hektar Land zugeteilt. Außerdem blieb ein Teil des Geländes als Reserve in Gemeinbesitz. Das wirtschaftliche Überleben in Yerutí war von Anfang an schwierig. Denn, so der Anwalt Hugo Valiente von der Menschenrechtskoordination Paraguays (Codehupy): „Die Siedlung erhielt ansonsten keine wirkliche Hilfe vom Staat. Die Bäuer*innenfamilien blieben dort ohne technische Hilfe, ohne Märkte, ohne Kreditunterstützung zurück.“ Das führte dazu, dass die Familien im Wesentlichen eine Subsistenzlandwirtschaft für den Eigenbedarf betrieben.
Doch bereits zu Beginn der 2000er Jahre verändert sich das Umfeld der Siedlung massiv. Eine Entwicklung, die bis heute anhält und in der gesamten Provinz Canindeyú ihre Entsprechung findet. Der Soja-Boom verleiht der Landschaft ein vollkommen anderes Bild. Immer mehr Gensoja wird in riesigen Monokulturen für den Export angebaut. Dahinter stehen meist Unternehmen mit enormem Kapital. Die Siedlung Yerutí erfährt nur wenige Jahre nach ihrer Gründung einen langsamen Niedergang. Für Hugo Valiente ist Yerutí ein emblematischer Fall der Landnahme. Er beschreibt das Vorgehen des Agrobusiness und die Folgen: „Sie entleeren die Siedlung, entfernen die Bäuer*innen. In der Regel geschieht das, indem sie ihnen das Besitzrecht für das Land abkaufen. Denn die Bäuer*innen haben keine Eigentumstitel.“ Zwar darf das Land der Siedlung Yerutí theoretisch nur für eine rationale bäuerliche Familienlandwirtschaft mit agro-ökologischer Technologie genutzt werden. Doch das steht im Gesetz, in der Praxis gibt es keine staatliche Intervention oder Aufsicht. Daher rückt die Gensoja nicht nur von außen direkt an die Siedlung, sondern breitet sich ebenso in ihrem Innern aus.
Konkret heißt dies: Um Yerutí herum haben sich ehemalige Rinderfarmen nun in Sojafelder mit einer Größe von fünftausend bis zehntausend Hektar verwandelt. Innerhalb der Siedlung geschieht die faktische Landnahme durch einige kleinere Investor*innen, oft brasilianischer Herkunft. Sie kommen mit relativ wenig Kapital. Das erlaubt ihnen, zwischen zehn oder zwanzig kleinbäuerliche Parzellen zu „pachten“ und so eine Gesamtfläche von hundertfünfzig oder zweihundert Hektar zu erreichen. In der Logik des Agrobusiness ist das eine kleine Fläche, den Siedlungscharakter zerstört es trotzdem.
Makrogeschichte und Mikrogeschichte
„Die Bäuer*innen bekommen Geld, aber im Normalfall viel weniger, als ihr Land wert ist“, führt Hugo Valiente weiter aus. „Die dort bleiben, sind arm, ohne fachliche Unterstützung, sehen sich einer wahren Soja-Lawine gegenüber, die sich auf die Siedlung zubewegt. Am Ende nehmen auch sie das Geld und gehen weg. In einen Armutsgürtel in irgendeiner Stadt oder in eine andere Siedlung. Das Geld reicht ihnen für sechs Monate oder ein Jahr. Einen richtigen Job in der Stadt bekommen sie nicht.“ Valiente nennt dies die „Makrogeschichte“ von Yerutí. Er berichtet aber auch von einer „Mikrogeschichte“, die er als Anwalt der Codehupy aus nächster Nähe mitverfolgt hat. Es ist die Geschichte der Familien, die geblieben sind und allein dadurch Widerstand leisten. Dazu gehört die Familie Portillo, deren Fall bis vor den Menschenrechtsausschuss des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen ging. Mit der Gensoja kam auch der vermehrte Einsatz von Agrargiften nach Yerutí. Die regelmäßigen Spritzungen mit Pestiziden vernichten nicht nur Unkraut. Sie beeinträchtigen die Gesundheit der oft in unmittelbarer Nähe der Soja-Felder wohnenden verbliebenen Kleinbäuer*innen. 2011 kam es in der Siedlung nach einer Sprühaktion zu einer massiven Vergiftung. 22 Personen wurden mit schweren Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert. Der Bauer Rubén Portillo starb.
Exkurs Gensoja und Agrargifte
Die Soja-Ernte Paraguays wird so gut wie komplett nach Brasilien exportiert. Laut Valiente „funktioniert Paraguay in diesem und in anderen Bereichen fast wie ein brasilianisches Protektorat.“ Die paraguayische und brasilianische Soja haben als endgültiges Marktziel hauptsächlich China, weniger die Europäische Union. Stichworte sind hier Biotreibstoff und Futtermittel für die intensive Tiermast. Damit die Gensoja-Monokulturen von Unkraut frei bleiben, werden als meistverbreitete Agrargifte auch in Paraguay Glyphosat-Produkte verwendet. Doch ebenso das hochgiftige Paraquat (seit 2007 in der EU verboten) sowie andere weniger geläufige Pestizide werden benutzt. Dazu Hugo Valiente: „Die Verwendung dieser Agrochemikalien oder Agrotoxine ist hier wie in jedem Land sehr stark gesetzlich geregelt. Es gibt eine sehr präzise, detaillierte Verwaltungsvorschrift unter welchen Bedingungen diese Pestizide angewendet werden dürfen. Aber vor Ort existieren keine Kapazitäten für deren Kontrolle. Wohl aber eine Menge öffentlicher Korruption. Wenn die Umweltinspektor*innen einmal Besuche in situ machen, dann nur, um Bestechungsgelder zu kassieren, um ein Auge zuzudrücken und die Dinge geschehen zu lassen. Die Pestizide werden in völlig unangemessenen Konzentrationen ausgebracht.“ Im Fall von Yerutí wurde nicht auf Glyphosat getestet. Die Tests richteten sich auf den Nachweis chlororganischer Verbindungen. Auch die waren besorgniserregend.
Valiente: „Der Fall ist ausgezeichnet dokumentiert. Er zeigt, dass die paraguayische Justiz in einer absolut komplizenhaften Art und Weise gehandelt hat, um zu vertuschen, was passierte. Es gab toxikologische Untersuchungen, Blutuntersuchungen. Zusätzlich zur klinischen Untersuchung, die sich auf die äußeren Befunde und Symptome stützte: Erbrechen, Schwindel, Kopfschmerzen, Augenreizungen, aber auch viele Hauterkrankungen. Aber alle Testergebnisse verschwanden aus den Akten. Die Staatsanwaltschaft war sehr effizient darin, die Beweise zu verlieren.“ Die Justiz verhinderte auch eine Autopsie Portillos. Aber ein Labor der Nationaluniversität führte eine unabhängige Untersuchung des Brunnenwassers im Haus der Familie Portillo durch. Das Wasser enthielt mindestens drei Agrargifte. Zum Teil in einer Konzentration, die höher war, als sie ein Mensch tolerieren kann. Es handelte sich zudem um Pestizide, wie Lindan und Aldrin, die sowohl auf internationaler wie nationaler Ebene in der Landwirtschaft verboten sind.
Revolutionäre Rechtsinterpretation des UN-Menschenrechtsausschusses
Angesichts des fehlenden effektiven Zugangs zur paraguayischen Justiz beschloss die Familie Portillo, den Fall im September 2013 mit Unterstützung von Codehupy vor den UN-Menschenrechtsausschuss zu bringen. Diesen erkennt Paraguay an. Anders als den UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. „Dessen Zuständigkeit hat Paraguay immer abgelehnt, damit nationale Fälle von Rechtsverletzungen im Umwelt- und Sozialbereich nicht vor internationale Instanzen kommen“, erklärt Valiente. Vor dem Menschenrechtsausschuss plädierten die Familie Portillo und Codehupy auf die Verletzung des Rechts auf Leben. Die Mühlen der Vereinten Nationen mahlen langsam. Doch in seinem Urteil vom 14. August 2019 nahm der Ausschuss eine innovative und weitreichende Interpretation des Rechts auf die Unverletzlichkeit der Wohnung aus der Umweltperspektive vor. Valiente: „Dieses Recht wird demnach nicht nur verletzt, wenn die Polizei ohne richterliche Anordnung in dein Haus eindringt und eine illegale Durchsuchung durchführt. Eine Rechtsverletzung liegt auch vor, wenn die Besprühungen auf der Soja-Plantage eine Auswirkung auf den bäuerlichen Hof sowie auf die Umwelt, die Ernten, das Wasser, die Lebensqualität der Bäuer*innenfamilie haben. Diese Auslegung im Licht der umweltbezogenen Inhalte der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte von Kleinbauern und anderen Personen, die in ländlichen Gebieten leben, ist eine Revolution auf der Ebene der internationalen Schutzsysteme.“ Laut Hugo Valiente hat die Entscheidung des Ausschusses dazu geführt, dass Yerutí inzwischen als Präzedenzfall in einer Reihe von Umweltklagen oder Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit dem Klimawandel zitiert wird. Doch für die Familie Portillo und weitere Campesino-Familien in der Siedlung hat sich die Situation nicht verbessert.
Der Staat ignoriert das Urteil
Zwar weist der Menschenrechtsausschuss eindeutig daraufhin, dass der Staat Paraguay die Auswirkungen der massiven Sprühaktionen auf das Leben der Bewohner*innen von Yerutí und die Umwelt vorhersehen musste, Normenverstöße nicht ahndete und seine Schutzpflicht verletzte. Er verurteilte ihn zudem zu integralen Wiedergutmachungsleistungen, der gerichtlichen Verfolgung der Verantwortlichen für den Tod Rubén Portillos und zu Vorbeugemaßnahmen, damit sich ähnliche Vorfälle nicht wiederholen können. Doch Paraguays Regierung bewegt sich nicht. Ein weiteres Mal der Anwalt Valiente: „Der Staat leistet großen Widerstand, die vom UN-Ausschuss angeordneten Wiedergutmachungsmaßnahmen umzusetzen. Bis heute haben wir den Staat nicht dazu bringen können, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Die Lage in der Siedlung verschlechtert sich ununterbrochen: In den vergangenen zwei Jahren gab es weitere Abholzungen. Ganze Wasserläufe, Bäche, die vor zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren noch dem Fischfang dienten, sind heute ganz verschwunden. Feuchtgebiete wurden trockengelegt. Erst kürzlich, Ende letzten Jahres, gab es in der Siedlung viele Fälle von Hautausschlägen. Das sind klinische Symptome für eine mögliche Pestizidvergiftung. “ Der neueste Konflikt in Yerutí: Das Bildungsministerium hat dieses Jahr ohne vorherige Ankündigung die Schule in Yerutí geschlossen. Offiziell eine Rationalisierungsmaßnahme des Ministeriums, wonach die geringe Schüler*innenzahl die Investition in die Schule nicht mehr rechtfertigt. Als Alternative bleibt den Kindern eine Schule im nächsten Ort. Das bedeutet jeden Tag zehn Kilometer zu Fuß hin, zehn Kilometer zurück.
Für die Codehupy ist die Schulschließung ein weiterer Akt, um die Schlinge enger zu ziehen. Damit die Menschen, die dort noch widerstehen, aus der Siedlung weggehen. Valiente: „Eine kleinbäuerliche Landwirtschaft ist kaum noch möglich. Die täglichen Besprühungen setzen dich praktisch einem chemischen Krieg aus. Zugang zu medizinischer Versorgung gibt es nicht. Und nun wird den Kindern noch die Schule geschlossen. Wir werden rechtliche Schritte einleiten, um die endgültige Schulschließung zu verhindern.“ Unterdessen legen die verlassenen Häuser zahlreicher Campesino-Familien in Yerutí ein trauriges Zeugnis ab.
* Gerold Schmidt ist freier Journalist und Übersetzer sowie Diplom-Volkswirt. Berichtet seit 30 Jahren zur politischen und wirtschaftlichen Situation in Mexiko und Mittelamerika. Spezialisiert auf die Themen: Menschenrechte, Klimakrise, Umweltbewegungen, Biodiversität, kleinbäuerliche und indigene Landwirtschaft. Als Fachkraft von Brot für die Welt arbeitete er in den 2010-er Jahren beim Studienzentrum für den Wandel im Mexikanischen Landbau (CECCAM) in Mexiko-Stadt.
Quellen: Ausführliches Interview mit Hugo Valiente am 17. März 2021, Urteil des Menschenrechtsausschusses des Internationalen Paktes für Bürgerliche und Politische Rechte der UNO zu Yerutí, Informationen der paraguayischen Organisation BASE IS (https://www.baseis.org.py/colonia-yeruti-territorio-arrasado-por-el-agronegocio/)