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Escazú: Vom Vertrag zur Tat, eine Herausforderung

Mexiko weist in den letzten Jahren unzählige umweltbezogene Konflikte auf. Meist ereignen sie sich auf Gemeinschaftsland. Ob Bergbaukonzessionen, Wasser- und Windkraftwerke: Lokale Gemeinden werden nicht informiert, nicht gefragt, Menschen werden bedroht und ermordet. Straflosigkeit ist die Regel. Gleichzeitig hat Mexiko das Escazú-Abkommen ratifiziert, wie viele andere Abkommen auch. Und nun?

 

Von Wolfgang Seiß am
nachhaltig?

Abstand zwischen Windpark und Wohngebiet von Union Hidalgo

Interview mit Eduardo Villareal, Koordinator des Bereiches Analyse und Lobbyarbeit und Jesús Guarneros, Mitarbeiter der mexikanischen Menschenrechtsorganisation PRODESC.

Wolfgang Seiss (W.S.): Mexiko hat im November 2020 das Abkommen von Escazú ratifiziert. Damit war der entscheidende Schritt für das Inkrafttreten des Abkommens erfolgt. Wie sieht PRODESC das Abkommen? Als Organisation habt Ihr euch ja mit dem Inhalt auseinandersetzt.

Eduardo Villareal (E.V.): Die Ratifizierung des Escazú Abkommens durch den mexikanischen Senat führt zu unterschiedlichen Erwartungshaltungen in der mexikanischen Gesellschaft, den Menschenrechtsorganisationen und insbesondere bei den Menschenrechtsverteidiger*innen, die sich für die Umwelt und den Schutz des Territoriums einsetzen. Aus Sicht von PRODESC ist das Abkommen von weitreichender Bedeutung, weil es den Rahmen zum Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen stärkt. Und zwar genau in den Fällen von Unternehmensprojekten, die sich in Territorien indigener und bäuerlicher Gemeinden etablieren wollen. Kein geringes Thema in einem Land, in dem die Gefährdung der Personen, die sich für die Umwelt einsetzen, so hoch wie in kaum einem anderen Land weltweit ist.

(W.S.): Was sind die zentralen Probleme?

(E.V.): In der Begleitung indigener Gemeinschaften, die ihre Ländereien zu verteidigen suchen, haben wir festgestellt, dass die erste von etlichen Herausforderungen in fehlenden Informationen über diese Vorhaben, wie zum Beispiel Infrastruktur- oder Energieprojekte besteht. In vielen Fällen, in denen die Gemeinschaften Kenntnis über die Durchführung dieser Projekte erlangen, geschieht dies zu einem Zeitpunkt, an dem die Projekte kurz vor Baubeginn stehen. Oder die unter größter Geheimhaltung formulierten Genehmigungen stehen kurz bevor. Um Informationen zu bekommen, müssen die Gemeinden lange juristische Verfahren innerhalb eines Justizsystems anstrengen, das sie in aller Regel ausschließt und diskriminiert. Die indigenen und bäuerlichen Gemeinden sind legitime Eigentümer der Ländereien, auf denen Projekte geplant werden. Jedoch werden sie an Diskussionen über deren Durchführung nicht beteiligt. Falls Konsultationsmechanismen erreicht werden können, sind sie pure Simulationen. Sie garantieren keine vollständige Beteiligung aller Personen. Die Interessen der Gemeinden zu schützen steht dabei an letzter Stelle. Und wenn die Menschenrechtsverteidiger*innen es schaffen, die Vertreibung und die Verletzung ihrer Rechte anzuklagen, werden sie von den unterschiedlichen, am jeweiligen Territorium interessierten, politischen und wirtschaftlichen Akteuren stigmatisiert, kriminalisiert, angegriffen oder ermordet.

Jesús Guarneros (J.G.): Illustrierend ist der Fall der Binnizá-Gemeinden von Unión Hidalgo im Bundesstaat Oaxaca. Er macht deutlich, welchen Herausforderungen sich die Gemeinden, die durch Wirtschafts- oder Infrastrukturprojekte in ihren Territorien beeinträchtigt sind, bei der Suche nach Gerechtigkeit und Wiedergutmachung stellen müssen. Die Binnizá-Gemeinschaft wehrt sich seit 2013 gegen eine Windkraftindustrie, die sich in dem Gebiet niederlassen will. Dabei nehmen die Firmen Verletzungen der Menschenrechte der indigenen Völker und Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger*innen in Kauf. Im Jahr 2004 baute das Energieunternehmen Demex, eine mexikanische Tochterfirma der spanischen Firma Renovalia Energy, auf dem Gebiet von Unión Hidalgo einen Windpark: Piedra Larga I und II. Die Gemeinde war nicht konsultiert worden. Die Verträge wurden mit vermeintlichen Privateigentümern des Landes abgeschlossen, obwohl das Land im Gemeinschaftsbesitz war. Seit 2013 fordert die Gemeinde die Annullierung der Verträge für die Errichtung des Windparks und die Rückgabe der Ländereien. 2017 strengte die Gemeinde einen neuen Prozess gegen die Firma Eólica Oaxaca an, Tochterunternehmen der französischen Electricité de France (EDF). Für ein weiteres Windkraftvorhaben, den Windpark Gunaa Sicarú, hatte die Firma Erkundigungen auf dem Gebiet der Gemeinde unternommen - wiederum, ohne deren Zustimmung erhalten zu haben. Damit verletzte sie offenkundig die Autonomierechte der Gemeinde und deren Recht auf Selbstbestimmung. Seit die Gemeinde sich organisierte, um ihre Rechte zu verteidigen, lebt sie in einem Umfeld, das von Spannungen, Spaltungen und Gewalt gegen die Menschenrechtsverteidiger*innen geprägt ist. Die Unternehmen und Konzerne haben das Narrativ geschürt, das Menschenrechtsverteidiger*innen die sozioökonomische Entwicklung der Gemeinde verhindern. Das Angebot finanzieller Anreize und das Versprechen, Arbeitsplätze zu schaffen, verschlechterte den sozialen Zusammenhalt in der Gemeinde und das Risiko für die Menschenrechtsverteidiger*innen. Mitglieder der Gemeinde und PRODESC machten Aggressionen öffentlich, die von der Stigmatisierung in sozialen Medien, Bedrohungen der physischen Integrität bis hin zur Ermordung von Gemeindemitgliedern und Entführungsversuchen reichten. Internationale zivilgesellschaftliche Organisationen, Menschenrechtsorganisationen und Expert*innen haben die mexikanische Regierung und die Unternehmen gebeten, Schutzmaßnahmen für die Menschenrechtsverteidiger*nnen von Unión Hidalgo zu ergreifen und die Attacken gegen sie zu stoppen. Mittlerweile gibt es Fortschritte in dem Fall. Es existiert eine Gerichtsentscheidung zugunsten der Gemeinde. Sie bestätigt das Recht auf freie, informierte, vorherige Zustimmung (FPIC) und erkennt Rechtsverletzungen an, die bereits begangen wurden, bevor die Anlage gebaut wurde. Jedoch bestehen weiterhin große Herausforderungen, diese juristische Entscheidung umzusetzen. Sowohl das Unternehmen als auch der Staat kommen in diesem Fall ihren Verpflichtungen nicht nach.

(W.S.): Was könnte Escazú für diesen Fall bedeuten?

(E.V.): Das Escazú-Abkommen greift wenigstens in der Theorie diese Art von Problemen auf. Es schafft die Verpflichtung, dass bei den Konsultationen zu Projekten oder Aktivitäten in einem bestimmten Gebiet eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorgelegt werden muss. Es sichert Transparenz hinsichtlich der diesbezüglichen Informationen zu. Und es legt Garantien für den Zugang zur Justiz fest. Es erlaubt den Justizbehörden, vorsorgliche Schutzmaßnahmen zu erlassen, bevor irreparable Schäden entstanden sind. Gleichzeitig stärkt das Abkommen denSchutz für Menschenrechtsverteidiger*innen und sieht integrale Reparationsmechanismen vor. Wenngleich wir als PRODESC das Inkrafttreten des Abkommens begrüßen, liegt die größte Herausforderung in der effektiven Umsetzung der beschriebenen Standards. Vor allem in einem Kontext, der immer feindlicher gegenüber Menschenrechtsverteidiger*innen gesinnt ist und in dem Großprojekte in indigenen Territorien immer mehr zunehmen. Zudem schickt sich die Zentralregierung an, diejenigen Institutionen zu schwächen, die die Einhaltung dieser neuen internationalen Verpflichtungen durch den mexikanischen Staat sichern könnten. Der Beteiligungsspielraum der Bürger*innen wird einschränkt. Sorge bereitet uns der jüngste Vorschlag, das Nationale Institut für Transparenz, Zugang zu Information und Schutz persönlicher Daten (INAI) abzuschaffen. Es wurde gerade deswegen gegründet, das Recht auf Informationszugang und Sicherheit persönlicher Daten in Mexiko zu garantieren. Seine Abschaffung könnte die Tür öffnen, eine undurchsichtige Informationslage zu schaffen und Informationen politischer Kontrolle zu unterwerfen.

(W.S.): Was bedeutet das für die weitere Arbeit zu Escazú?

(E.V.): Im Prinzip und als Grundidee ist das Inkrafttreten des Abkommens eine gute Nachricht für die unterschiedlichen Gemeinschaften, die zum Thema Schutz und Verteidigung der Umwelt arbeiten. Das Abkommen stellt ein legales Instrument dar. Es soll dazu beitragen, bessere Bedingungen für die öffentliche Entscheidungsfindung zu schaffen - in all den Bereichen, die Escazú beschreibt. Die Forderung nach mehr und verbesserter Information, nach einer wirklichen Stimme für die Gemeinden, lässt sich im Geist des Abkommens erkennen. Die Ratifizierung und das Inkrafttreten müssen gefeiert werden. Kurz gesagt, es ist sehr positiv, auf das Abkommen zählen zu können.

Das Inkrafttreten des Abkommens ist jedoch erst der Beginn eines viel breiteren und vielschichtigeren öffentlichen Prozesses: Das Abkommen erfordert Aufmerksamkeit, Handlungsschritte und politische Führung. Ausgangspunkt müssen die unterschiedlichen Positionen und Interessen von Regierung, Gemeinden, Zivilgesellschaft, Wissenschaft, politischer Opposition und Parteien sein. Das erlaubt es, dass das Thema als eine nationale und regionale Priorität auf der politischen Agenda verbleibt. Dieses Abkommen wird praktische Ergebnisse zeigen, wenn es mit einer Perspektive umweltbezogener Regierungsführung umgesetzt wird. Einschließlich der Unterstützung, des Anschiebens und der Sichtbarmachung aus unterschiedlichen politischen Positionen, Blickwinkeln, Richtungen.

Wenn keine politische Aufmerksamkeit mehr auf das Abkommen gerichtet wird, läuft es Gefahr, lediglich ein weiteres unterzeichnetes Abkommen zu sein. So wie viele andere internationale Verträge in unserem Land. Im Grunde eine schriftliche Absichtserklärung in einem juristischen Dokument, ohne Widerhall in der Praxis, bei öffentlichen Entscheidungen oder bei organisatorischen Veränderungen innerhalb der Behörden finden. Letztlich ein Papiertiger.

(W.S.): Welche konkreten Schritte müssen getan werden?

Das Inkrafttreten des Escazú Abkommens bedeutet unter anderem, dass die Behörden es kennen, anerkennen und in ihrem Mandat verinnerlichen müssen. Das heißt, auf Ebene der unterschiedlichen Behörden muss analysiert werden, welche bisherigen Tätigkeiten durch die neuen in Escazú bestimmten Verantwortlichkeiten betroffen sind. Welche Veränderungen vorgenommen werden müssen, um das Abkommen zu erfüllen. Für die Koordination unter den verschiedenen Regierungsebenen und Behörden müssen entsprechende Instanzen geschaffen werden. Diese müssen sich auf das Abkommen und die daraus resultierenden Verpflichtungen beziehen. Denn ohne diese Instanzen, die die Abstimmung zwischen den Behörden initiieren, wird das Abkommen nur Stückwerk sein. Einzelne und inkoheränte Aktionen werden wenig zur Zielerreichung beitragen. In der Ausgestaltung dieser öffentlichen Politik müssen Indikatoren ausgearbeitet werden, die es erlauben, Fortschritte in der Umsetzung festzuhalten. Um Anpassungen und Schärfungen vorzunehmen, Lücken festzustellen und Lernerfahrungen zu machen. Und wie jedes öffentliche Instrument erfordert das Abkommen darüberhinaus eine Kostenanalyse von Regierungsseite. Es müssen die potentiellen Kosten identifiziert werden, um Rechte und Verpflichtungen des Abkommens umzusetzen. Ohne zusätzliche finanzielle Mittel, die es erlauben, auch punktuelle Akzente zu setzen, wären die vom Abkommen betroffenen Behörden in der Umsetzung der Verpflichtungen überfordert.

Als Menschenrechtsorganisation stehen wir hinter dem Escazú Abkommen. Aber mehr noch interessiert uns, die Umsetzung zu beobachten und uns an der Entfaltung all der notwendigen Voraussetzungen zu beteiligen, damit eine effektive Umsetzung möglich ist. Die Erfahrung lehrt uns, dass juristische Verträge dieser Art für die Gemeinden nur dann Wirklichkeit werden, wenn all die anderen politischen, organisatorischen, budgetbezogenen und bürokratischen Aspekte mitbedacht und eingehalten werden.

 

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