"Gesundheit ist auch ein soziales Problem" - Gespräch mit Ronald Lalthanmawia von der indischen Brot für die Welt-Partnerorganisation CMAI (Christian Medical Association of India). Das Interview führte Andreas Behn
Zahlreiche Krankheiten und ein unzureichendes Gesundheitssystem sind nach wie vor eines der dringlichsten Probleme in Indien. Deswegen ist es begrüßenswert, dass die deutsche Präsidentschaft für den kommenden G7-Gipfel das Thema Gesundheit auf die Tagesordnung gesetzt hat. Allerdings ist dabei wichtig, dass dieses Problem umfassend, also nicht nur aus medizinischer Sicht betrachtet wird. Denn mangelnde Gesundheit ist meist auch ein soziales Problem. Krankheiten wie Tuberkulose, Malaria, Masern, Durchfall und Atemwegsentzündungen sind zu einem guten Teil armutsbedingt. Um es auf den Punkt zu bringen: Unterernährung ist immer noch die Hauptursache für die meisten Todesfälle im Gesundheitsbereich. Deswegen sollte die G7-Gruppe die sozialen Aspekte bei der medizinischen Versorgung nicht unterschätzen.
Auf der Tagesordnung des Gipfeltreffens steht auch die Problematik antimikrobieller Resistenzen, also die zunehmende Immunität von verschiedenen Krankheitserregern gegen Medikamente. Dabei handelt es sich nicht nur um die Resistenz gegen Antibiotika, sondern auch gegen andere Arten von Heilmitteln. Dieses weltweit verbreitete Problem ist auch in Indien zunehmend zu spüren, insbesondere bei der Behandlung von Tuberkulose und bestimmten Malaria-Typen.
Kaum ein Land der Welt leidet so sehr unter Infektionskrankheiten wie Indien. Diese Tendenz wird durch mangelhafte Abwasserversorgung, verschmutztes Trinkwasser und Unterernährung noch verschlimmert. Obwohl in der gesamten ostasiatischen Region kaum verlässliche Informationen über die epidemiologischen Aspekte der antimikrobiellen Resistenzen zur Verfügung stehen, haben Analysen indischer Laboratorien in letzter Zeit nachgewiesen, dass die Immunität der Krankheitserreger gegen die Wirkstoffe der üblichsten Medikamente kontinuierlich ansteigt. Dies trifft vor allem auf Salmonellen, die Shigella-Bakterien, Mykobakterien, den Tripper-Erreger Neisseria gonorrhoeae und die Erreger von Cholera und Meningitis zu.
Auch die HIV-infizierte Menschen sind mit dieser Schwierigkeit konfrontiert. Aufgrund der rapiden Verbreitung der antiretroviralen Therapie in Indien in den vergangenen Jahren nimmt gleichzeitig auch die antimikrobielle Resistenz gegen diese Medikamente zu. Inzwischen wurde ein staatliches Programm ins Leben gerufen, um die Ausbreitung und die Auswirkungen dieser Immunität zu beobachten.
Beim Kampf gegen die Immunität von Bakterien, Viren und Parasiten könnten die G7 eine Vorreiterrolle einnehmen. Bei zahlreichen Krankheiten mangelt es in Indien und anderen Staaten des Südens an Datenbanken über Ausmaß und Ausprägung der antimikrobiellen Resistenzen. Die unvollständigen Informationen führen dazu, dass Gesundheitsprogramme oft nicht den Effekt erzielen, der möglich wäre. Die G7 könnten bei der Implementierung solcher Programme helfen, indem die Zielsetzungen für alle Länder vereinheitlicht werden. Im besten Falle könnten einheitliche Standards beim Umgang mit antimikrobiellen Resistenzen entwickelt werden, ähnlich wie bei den Millenniums-Entwicklungszielen (MDGs).
Um zu verstehen, wie kritisch die Lage des Gesundheitswesens in Indien ist, müssen auch die Kosten von medizinischer Behandlung, Vorsorge und von eventuell notwendigen Krankenhausaufenthalten betrachtet werden. Aufgrund der hohen Ausgaben für Gesundheit sind jährlich über 60 Millionen Menschen mit Armut konfrontiert. Das liegt daran, dass die große Mehrheit der Inder über keine Krankenversicherung verfügt. Aufenthalte in Krankenhäuser können ganze Familien ruinieren. Noch nie wurde so viel Geld für Gesundheit ausgegeben wie heute: In urbanen Regionen betragen die medizinischen Ausgaben 5,5 Prozent des Einkommens, in ländlichen Gegenden sogar 6,9 Prozent.
Neue Zahlen machen deutlich, wie unzureichend das öffentliche Gesundheitssystem ist. In Indien werden 80 Prozent der ambulant behandelten Patienten und 60 Prozent der Krankenhaus-Patienten vom privaten Sektor versorgt.
In diesem Kontext stellt sich die Frage, was die neue Regierung unternehmen will, um die Kostenexplosion und die damit einhergehende Unterversorgung der Bevölkerung im medizinischen Bereich zu bremsen. Früher war der Zugang zu preisgünstigen Medikamenten ein zentraler Pfeiler der Gesundheitspolitik. Auch jetzt plädiert unser Premierminister Narendra Modi öffentlich dafür, medizinische Produkte in Indien kostengünstig herzustellen. Doch bis jetzt ist nicht abzusehen, ob dies wirklich umgesetzt werden wird.
Die Zivilgesellschaft mobilisiert seit längerem für Verbesserungen im prekären Gesundheitsbereich. Schwerpunkt der Kampagnen von Aktivisten ist der Zugang zu bezahlbaren Behandlungen und Arzneimittelen für alle. Zudem wird ein rationeller und bewusster Umgang mit Medikamenten propagiert, unter anderem mit Verweis auf die Möglichkeit, generische Medikamente zu bevorzugen. Auch beteiligen sich viele Organisationen der Zivilgesellschaft an staatlichen Programmen zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung, beispielsweise im Bereich der Vorbeugung gegen Müttersterblichkeit oder bei der medizinischen Versorgung von Neugeborenen.
Die Kampagnen der Zivilgesellschaft sind aber nicht so stark, dass sie auch auf dem G7-Gipfel gehört werden könnten. Dennoch hoffe ich, dass das Treffen Einfluss auf die weltweite Gesundheitspolitik nehmen kann. Vor allem erwarte ich, dass bezüglich der Millenniums-Ziele der Länder des Südens Bilanz gezogen wird und auf dieser Grundlage ein neuer Aktionsplan entwickelt wird. Es geht aber auch um ganz konkrete Dinge. Zum Beispiel weltweit einheitliche Vorgaben zur Kontrolle bei der Entsorgung von medizinischen Abfällen.