26° Encuentro Nacional de Mujeres
Eine Reise zu den Frauen Argentiniens
Ich habe meine erste Reise gemacht.
Über ein verlängertes Wochenende; am Freitag musste ich nicht arbeiten, weil es regnete. Dann ist es sehr matschig in der Villa, denn nur wenige Wege sind befestigt, und es kommen weniger Kinder. Am Montag war ein Feiertag (Día de la Raza), der vom Mittwoch praktischer- und sinnvollerweise auf den Montag verlegt wurde.
So konnte ich für ein paar Tage das große Buenos Aires verlassen. Eine Freundin hatte mich eingeladen, mit ihr, zwei anderen Freundinnen und Frauen ihrer Arbeitsstelle mitzukommen auf das 26° Encuentro Nacional de Mujeres in Bariloche, Patagonien.
Ein Treffen vieler Frauen, die in Argentinien leben, für Dialog und Diskussion. Vielmehr wusste ich nicht, als ich aufbrach – und auch nicht, dass die Distanz Buenos Aires – San Carlos de Bariloche der von Schweden – Nordafrika gleichkommt. Aber in einem großen Land wie diesem haben sich längst alle Dimensionen verschoben – und hätte
der Bus nicht ein kaputtes Rad gehabt, wären wir bestimmt auch weniger als 28 Stunden gefahren!
Bariloche liegt im argentinischen Seengebiet, im Nationalpark Nahuel Huapi.
Dort, in der kleinen Stadt San Carlos de Bariloche, fand dieses Jahr das Treffen statt, das jedes Jahr woanders ist und jährlich mehr Frauen zusammenbringt.
Es war eine unglaubliche Veranstaltung. 20.000 Frauen hatten die Reise dorthin angetreten, um sich dort zu organisieren – für eine veränderte Gesellschaft. Schulen hatten kostenlose Unterkunft angeboten. In Gruppen wurde zu den verschiedensten Themen der Gesellschaft gearbeitet, deren Relevanz ich teilweise erst dort zum ersten Mal vor mir sah; ebenso Themen, die in Europa ähnliche Aktualität besitzen – wie Abtreibung. Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Argentinien nicht strafbar laut Gesetz, wenn die Schwangerschaft das Leben der Frau gefährdet oder durch eine Vergewaltigung hervorgerufen wurde. Aber dieses Recht wird von vielen Seiten der Gesellschaft
nicht respektiert. Eine Abtreibung ist sehr geächtet. Viele Mädchen sehen sich gezwungen, illegale Wege zu suchen. Nicht wenige sterben daran, einige gebähren Kinder mit schweren Behinderungen infolge einer missglückten Behandlung. Behinderung, die Situation der indigenen Frauen, Universität und Ausbildung und Arbeit, die globale Krise, die Situation der Bäuerinnen. Religion und Staat, Prostitution und Vergewaltigung, Feminizid und dessen Geflecht aus Frauenverachtung, Korruption und Straflosigkeit.
Ich entschied mich, an der Gruppe zum Thema "Frauen und Migration" teilzunehmen. In der Villa (Elendsviertel), in dem ich arbeite, leben sehr viele Migranten aus Paraguay und Bolivien. Von Tag zu Tag stieß ich auf ihre Erfahrungen mit dem Rassismus, der sich hier vor allem gegen Indigene und "Negros" richtet. Der Weiße ist der Schönste. Die Kinder in meinem Schulzentrum sehen alle sehr unterschiedlich aus, manche haben dunklere Haut als andere. "Negrita" – kleine Schwarze - und "Paraguayo", das sind Schimpfwörter, die leider ab und zu dafür hinhalten müssen, Streitigkeiten zwischen den Kindern auf schnellem, brutalem Wege zu lösen.
In meiner Gruppe waren etwas 20 Frauen, die einen Ort suchten, von ihren alltäglichen Erfahrungen zu berichten und miteinander darüber zu sprechen. Das Problem ist nicht das Nichtvorhandensein von schützenden Gesetzen oder eingeräumten Rechten, sondern deren Nichteinhaltung. Eine Frau, die in Buenos Aires in einem Ministerium arbeitet, erzählte: Kommt ein bolivianischer Mann um einen Antrag zu stellen, wird sein Papier erst einmal für ein paar Monate beiseite gelegt und nicht bearbeitet. Kommt eine bolivianische Frau, wird das Papier noch einmal doppelt so lange nicht bearbeitet. Das ist die Situation: Rassismus und Diskriminierung, die alle betrifft, aber im Besonderen die Frauen.
Gemeinsam wurden Schriften erarbeitet; Abends auf einem traditionellen Fest in einer Turnhalle mit tausenden Frauen Folklore getanzt, gefeiert, Murga – der Straßentanz der ehemaligen schwarzen Sklaven - getanzt und getrommelt, mit einer Freude und Solidarität untereinander, die beeindruckte und mitriss.
Zuvor waren wir in einem unglaublichen Zug durch die ganze Stadt marschiert. Presse war kaum da. Dabei habe ich selten solche pressewirksamen Bilder gesehen. Das ist so schade. Soweit ich sehen kann, ist das eine der wenigen geschaffenen Realitäten, in der solche Themen zur Sprache kommen und eine Stimme finden, in die Öffentlichkeit getragen werden. Aber eine Veränderung wird den Frauen nicht einfach gemacht. Das ist keine Studentenbewegung, auch wenn viele junge Leute dort waren. Es war ein Längsschnitt durch die Gesellschaft, denn es kamen alte und junge. Ein Querschnitt, denn es kamen Frauen aus allen Schichten, Argentinierinnen aus Buenos Aires und den nördlichen, ländlichen Provinzen, Chileninnen, Bolivianerinnen, Peruanerinnen, Paraguayanerinnen...
Meine drei Freundinnen und ich waren wohl die einzigen Europäerinnen. Von irgendeiner
Videokamera wurde ich dann auch irgendwann ausfindig gemacht und durfte ein Interview in schlechtem Spanisch geben...
Einen Tag haben wir uns hinausgeschlichen, um die
Natur zu sehen. Mit einem kleinen Bus und einem Reiseführer machten wir uns auf bis nach San Martín de los Andes durch die Anden, auf der Ruta de los Siete Lagos (Route der sieben Seen), bis 20 km vor die chilenische Grenze.
Der See Nahuel Huapi, an dem Bariloche liegt, ist zu einer ähnlichen Zeit entstanden wie viele Seen der Alpen, und war diesen nicht ganz unähnlich.
Unterwegs aber sah es dann anders aus.
Da vor etwa sechs Monaten ein Vulkan an der Grenze in Chile ausgebrochen war, ist noch die ganze Landschaft mit Asche bedeckt. An manchen Stellen ist sie zu riesigen Haufen zusammengefegt,
an anderen stehen noch einige unter der Last zusammengebrochene Häuser.
In einem Moment stand ich vor den Anden, der Schönheit der Natur ergeben.
Im nächsten Moment stand ich mitten zwischen tausenden von Frauen, deren Gedanken in der ganzen Stadt, an Kirchen und Mauern, auf Straßen und Plakaten, ihre Spuren hinterließen.
Ich treibe ab, du treibst ab, wir alle schweigen. / Ich entscheide, mein Körper gehört mir)
Die einzelnen Veranstaltungen des Treffens waren öffentlich kaum ausgeschildert; um nicht zu provozieren und häßliche Zusammenstöße mit anderen, gegnerischen Stimmen zu vermeiden.
Und danach? Die Zeitung, die auf dem Treffen verteilt wird (und die Wochenzeitung der
Kommunitischen, revolutionären Partei Argentiniens ist - politische Parteien turnen dort also auch ein wenig herum...) schreibt:
"Este Encuentro nos servirá para llenarnos de argumentos y volver a nuestros lugares con fuerza para seguir dando la batalla. Los talleres con su funcionamiento horizontal y democrático nos permiten que no haya voces silenciadas ni otras que tapen el resto."
"Dieses Treffen wird uns dazu nützen, uns mit Argumenten zu wappnen und gestärkt in unsere Orte zurückzukehren, für den Kampf dort. Die Workshops von horizontaler und demokratischer Funktion ermöglichen, dass es keine komplett zum Schweigen gebrachte Stimmen gibt, noch solche, die alle anderen ersticken."
Im "Taller Aborto" sind Frauen, die eine Legalisierung der Abtreibung befürworten und deren entschiedene Gegnerinnen; natürlich, eine Gruppe ist stärker als die andere;
das ist dann Demokratie.
Auf dem Heimweg setzte sich ein 15-jähriges Mädchen neben mir auf den Sitz im Bus.
Ich hätte gern ein wenig geschlafen, als es dunkel wurde draußen und die seit Stunden laufende argentinische Schlagermusik ausgemacht wurde; aber es wurde ein Film eingelegt. Das Mädchen neben mir ließ meine halbherzig vorgebrachte Ausrede ("Ich verstehe den Film nicht") nicht durchgehen und begann mir parallel zu erklären, was gerade im Film passierte. "Destino Mora" – ein Film aus Puerto Rico über das Schicksal eines Kindes, jungen Mannes dann, der von seinem Vater vergewaltigt diesen mit der Axt schlägt, von zu Hause wegrennt, im Gefängnis landet, dort unter Drogenentzug gesetzt wird von falschen Freunden, die ihm eine Niere entnehmen...Ich spare mal den Rest der Handlung aus; die grobe Realität ist schon greifbar. Ich versuchte ab und zu wegzusehen, ohne dass es das kleine Mädchen neben mir bemerkte. Elena, schaust du noch? Er erschießt jetzt seine Familie. Weil niemand ihn liebt und niemand ihn versteht.
Das ist der Vater, siehst du? Der ist jetzt gelähmt, er möchte ihn erschießen, aber er fragt sich, ob ein solches Leben im Rollstuhl nicht eigentlich die größere Qual für ihn wäre, weißt du, er möchte ihn quälen für das, was er ihm angetan hat."
Mit aufrüttelnder Verständlichkeit und Selbstverständlichkeit führt sie ihre Erläuterungen fort. Dann beginnt sie diese mit ihren eigenen Erlebnissen zu vermischen. Ihre Stimme ist keine Kinderstimme mehr. Sie hat 11 Geschwister. Ihre kleine Schwester, 12 Jahre alt und 2 Reihen vor mir, hatte vor einem halben Jahr eine Fehlgeburt. Ihr Bruder ist auch in Schwierigkeiten mit den Drogen, er war gerade vier Jahre im Gefängnis. Wegen der Drogen? Nein, er hat geraubt. Zu Hause hat sie eine Schachtel mit Briefen von ihm. Ihre Mutter fuhr alle zwei Wochen hin, um ihn zu besuchen.
Draußen scheint der Mond über der kargen Landschaft der Pampa.
Ihr Vater ist gleichzeitg ihr Opa. Er hat seine Tochter geheiratet. Er liebte sie halt.
Das Mädchen blickt mich an: Welches Haarshampoo benutzt du? Ich mag Pantene, und Sedal, gestern habe ich beide gleichzeitig benutzt, riech mal an meinen Haaren.
Ich antworte und rieche.
Es gibt Momente, in denen Geschichten dieser Art einfach sehr tief berühren.
Das zieht mich auf den Boden, denn es lässt mich auf der Realität aufschlagen. Gleichzeitig entlässt es mich nach oben, weil Kenntnis des Lebens auf eine merkwürdige Weise auch frei macht.
Ich hoffe, ich kann Euch mit diesem Bericht – dem es an Fachwissen und Historienstudium an vielen Ecken fehlt – dennoch eine Freude machen.
Ich verabschiede mich damit auf bald,
aus dem argentinischen Frühling, der bereits wunderschöne Tage beschehrt,
Elena