„Es ist nicht die Migration, die kriminell ist. Kriminell ist das Gesetz 036-2015, das diese Migration verbietet“, verkündet ein lokaler Vertreter der Provinz Agadez im Konferenzsaal der Hauptstadt Niamey, und erntet dafür viel Beifall. 036-2015 – diese Zahlen stehen im Niger für einen 180 Grad-Kurswechsel in der Migrationspolitik von einem Laissez-faire-Ansatz zu einer militarisierten Kontrolle von Migrationsbewegungen. Und sie stehen für eine europäische Agenda: die Auslagerung (Externalisierung) einer restriktiven Migrationspolitik in Herkunfts- und Transitländern. Der Niger ist im europäischen Diskurs ein Schlüsselland für diese Strategie, weil durch ihn wichtige Migrationsrouten Richtung Mittelmeer führen. Und so haben Deutschland und die EU auf das Gesetz gedrängt, und dessen Umsetzung vorangetrieben – mit vielen Finanzmitteln, Export von militärischer Technologie und Kooperationsprogrammen im Sicherheitsbereich. So ist Mission EUCAP Sahel Niger, die eigentlich Sicherheit und Stabilität schaffen soll, im Niger auch für Migrationskontrolle zuständig. Vor kurzem hat Frontex zusätzlich ein Kooperationsabkommen mit der Mission geschlossen.
Freizügigkeit - eine europäisches Privileg?
„Was die EU nicht verstehen will: ein überwiegender Teil der Migrant*innen möchte gar nicht nach Europa. Ihr Ziel sind unsere Nachbarländer – Algerien, Libyen, Mali oder Nigeria – wo sie temporär Arbeit suchen“, erklärt Azizou Chehou, Koordinator des von Brot für die Welt geförderten Netzwerks Alarm Phone Sahara (APS) und Vorsitzender der Konferenz. „Das Gesetz gefährdet das Überlebensmodell von Hunderttausenden, da es Migrant*innen unter den Pauschalverdacht der Illegalität stellt. Und es hat einen ganzen Wirtschaftszweig ruiniert, da auch jegliche Dienstleistung an Migrant*innen wie Transport oder Beherbergung seither strafbar ist und streng geahndet wird.“ Somit bedroht das Gesetz die Entwicklung des gesamten Landes – insbesondere aber von Agadez, Stadt und zugleich Provinz im Norden des Niger. Die Wirtschaft der Region, die bis 2015 vom völlig legalen Transport von Migrant*innen lebte, liegt darnieder. Perspektivenlosigkeit und zunehmend auch Drogenprobleme prägen den Alltag des einst florierenden Knotenpunkts von Handel, Tourismus und Migrationsrouten.
Ein Gesetz, das fundamentale Rechte bricht
Am härtesten trifft das Gesetz die Migrierenden selbst. Streckenbeobachter (lanceurs d'alerte) von APS, die entlang der Migrationsrouten Richtung Libyen und Algerien leben, berichten bei der Konferenz, dass die Menschen auf immer gefährlichere Routen in der Wüste ausweichen, um Kontrollen zu umgehen. Sie meiden Wasserstellen – und riskieren bei Pannen ihr Leben. Andere erzählen von dem prekären Leben der Migrant*innen, die Im Niger stranden, und aus Verzweiflung in die Kriminalität rutschen. Kaum auszuhalten sind die Schilderungen einer Frau, die in die Fänge von Menschenhändlern geriet und mit brutaler Gewalt eineinhalb Jahre zur Zwangsprostitution gezwungen wurde.
Es sollte Entscheidungsträger im Niger und in der EU hellhörig machen, dass der Menschenhandel in und durch Niger seit 2015 angestiegen ist, obwohl das Gesetz 036-2015 vorgibt, eben diesen zu bekämpfen. Das Gegenteil ist der Fall: die Illegalisierung der Migration treibt immer mehr Migrant*innen in die Hände von Kriminellen. Das betonen gleich mehrere der rund 100 Teilnehmenden der zweitätigen Konferenz, die aus ganz Westafrika angereist oder zugeschaltet sind. Das breite Teilnehmerfeld ist eine Botschaft: das Gesetz verletzt nicht nur die Würde und Rechte von Bewohner*innen des Niger, sondern aus der gesamten Region, die kulturell und wirtschaftlich eng vernetzt ist.
Rechtliche und politische Gegenstrategien
Da das Gesetz ebendiese Vernetzung gefährdet, haben zwei nigerianische Anwälte im Namen von zwei NGOs aus Mali und Niger, die Mitglieder bei APS sind, Klage beim Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) eingereicht. „Das Gesetz verstößt klar gegen das ECOWAS-Freizügigkeitsprotokoll“, erklärt Ibrahim Muktar, einer der Anwälte, bei der von Brot für die Welt mitfinanzierten Konferenz. Zudem würden fundamentale Rechte von Migrant*innen durch das Gesetz verletzt, wie sie in unzähligen Zeugenaussagen dokumentiert haben. Zwar argumentiert die nigrische Regierung, die Klage sei nicht zulässig, da die zwei NGOs keine legitimierten Vertreterinnen geschädigter Individuen seien. „Uns geht es aber nicht nur um Einzelpersonen“, führt Muktar aus. „Wir klagen gegen die Verletzung grundlegender Rechte, die die Gesellschaft als Ganzes betreffen.“ In wenigen Wochen wird der Gerichtshof über die Zulässigkeit der Klage entscheiden.
Die politische und gesellschaftliche Tragweite des Gesetzes und der Externalisierung der europäischen Migrationsabwehr für die Öffentlichkeit und politische Entscheidungsträger herauszuarbeiten, ist eine weitere Strategie, die mit der Konferenz verfolgt wird. Aufgrund steigender Kritik wird das Gesetz derzeit von der Regierung überarbeitet. Während internationale Organisationen den Revisionsprozess beratend begleiten konnten, blieb die kritische Zivilgesellschaft und unser Partner APS davon bisher völlig ausgeschlossen. „Deswegen müssen wir den Druck erhöhen“, forderte Azizou Chehou am Ende der Konferenz. „Die EU und die nigrische Regierung dürfen nicht länger Gesetze über die Köpfe von uns Bürgerinnern und Bürgern hinweg formulieren. Die Kriminalisierung der Migration im Niger muss beendet werden.“ Auch dafür gibt es noch einmal viel Beifall.