Dagmar Pruin: Frau Hary, Herr Shalev, wie erleben Sie die Situation derzeit in Israel?
Guy Shalev (GS): Als eine Organisation mit den Aufgabengebieten Gesundheit und Menschenrechte ist es für uns sehr wichtig, diese beiden Bereiche miteinander zu verbinden. Menschen medizinisch zu versorgen, Leben zu retten und sich gemäß den ethischen Prinzipien der Medizin zu verhalten, hat unmittelbar mit den Menschenrechten jedes und jeder Einzelnen zu tun. Für uns ist die medizinische Perspektive der Ausgangspunkt für die Krisen, die wir im vergangenen Jahr erlebt haben.
Was heißt das konkret?
GS: Zwei Tage nach dem 7. Oktober war ich in dem Hotel am Toten Meer, in dem Menschen aus einem der überfallenen Kibuzim Zuflucht gefunden haben. Ich war schockiert, als ich Familien sah, die teils mit ihren Haustieren entkommen waren. Sie wirkten wie halbtot. Jeden Abend machten sie eine Versammlung, um die Namen jener vorzulesen, die getötet oder als Geiseln verschleppt worden waren. Unsere Ärztinnen und Ärzte und unsere Freiwilligen waren bei jedem Treffen dabei, um reagieren zu können, falls jemand medizinische Hilfe brauchte. Solche unmittelbaren Kontakte mit den Auswirkungen der Krise haben wir auch an vielen anderen Orten erlebt, zum Beispiel in unseren mobilen Kliniken im Westjordanland, wo radikale Siedler palästinensische Dörfer überfallen haben. Dort haben kleine Kinder davon erzählt, wie sie mitten in der Nacht aufgewacht sind, weil ihr Haus angezündet worden ist.
Gibt es auch Kontakte in den Gaza-Streifen?
GS: Bis zum 7. Oktober 2023 waren in den vergangenen 14 Jahren mehr als 100 Delegationen israelischer Freiwilliger dort im Einsatz. Wir waren mit vielen Ärztinnen und Ärzten oder Krankenschwestern im täglichen Austausch. Jetzt ist die Situation sehr hart, weil wir kaum etwas tun können, um Menschen vor Ort zu helfen. Wir können nur fragen, wie es ihren Familien geht und was sie uns über die Situation in ihren Krankenhäusern und in ihren Communities sagen können. Für uns stehen die ganz direkten und persönlichen Aspekte von Menschenrechtsarbeit in einer Weise im Mittelpunkt, wie wir das noch nie zuvor erlebt haben.
„Wir spüren die Angst und den Zorn vieler Menschen“
Was beobachten Sie, Frau Hary?
Tania Hary (TH): Gisha kümmert sich seit bald 20 Jahren um Bewegungsfreiheit und den freien Zugang in und aus dem Gaza-Streifen. Nach den schrecklichen Ereignissen am 7. Oktober mussten wir uns in gewisser Weise neu erfinden. Sie haben alles verändert. Vorher haben wir uns gefragt, wie wir dabei helfen können, wirtschaftliche Aktivitäten zu verbessern, Familien zusammenzuführen, Menschen zu ihren Bewerbungsgesprächen oder Studierende an die Unis zu bringen. Plötzlich war alles, worauf wir uns konzentrieren konnten, die geringste Definition von humanitärer Hilfe und Zugang. In diesem sehr engen Feld bewegen wir uns bis heute. Wir befinden uns genau an der Schnittstelle zwischen dem, was in der israelischen Gesellschaft passiert, und dem Gaza-Streifen. Wir versuchen, beide Pole zusammenzuhalten. Die Traumata zu sehen, die Familien und Freunde von uns in Israel erlebt haben, die teils langjährige Partner unserer Organisation waren. Wir sind zutiefst besorgt über das Schicksal der Geiseln. Wir spüren die Angst und den Zorn vieler Menschen. Und gleichzeitig sehen wir die Verzweiflung und die Trauer der Menschen in Gaza durch die schweren Bombardierungen und die Beschränkungen von humanitärer Hilfe. Wir versuchen, den sehr tiefen Graben zwischen diesen beiden Polen zu überwinden. Es ist für mich kein Widerspruch, zu versuchen, beiden Polen gerecht zu werden und die Bedürfnisse auf beiden Seiten zu sehen. In Gaza versuchen wir gerade, medizinische Hilfe und Evakuierungen zu organisieren. Ich hoffe sehr, dass wir irgendwann zu dem zurückkehren können, was uns heute wie Luxus erscheint, aber in Wahrheit grundlegende menschliche Bedürfnisse sind – Dinge wie wirtschaftliche Aktivitäten, Bildung, Familienzusammenführung.
In Gaza befinden sich nach wie vor Menschen, die entweder eine doppelte Staatsbürgerschaft oder einen internationalen Pass haben. Wie ist deren Situation?
TH: Wir versuchen seit Mai erfolglos, Menschen aus dem Gaza-Streifen zu bekommen, die doppelte Staatsbürgerschaft oder ein Visum haben. Wir sprechen über Menschen, die die notwendigen Dokumente haben, um an einem sicheren Ort leben zu können. Es gibt zum Beispiel den Fall eines 18-Jährigen, dessen Mutter in Europa lebt. Sie versucht verzweifelt, ihren Sohn herauszubekommen. Europäische Länder sollten mehr darauf bestehen, ihre eigenen Bürgerinnen und Bürger evakuieren zu können.
Arbeiten Sie dabei mit der ägyptischen Regierung zusammen?
TH: Ägyptens sagt: Seit Israel die Grenze zwischen Gaza und Ägypten übernommen hat, gibt es keinen geregelten Verkehr mehr. Israel hält die Grenze besetzt und erlaubt niemandem, die Grenze mitzukontrollieren. Ägypten oder Jordanien erkennen diesen Zustand nicht an. Wir haben immer wieder öffentlich erklärt, dass das inakzeptabel ist und sowohl Ägypten als auch Jordanien humanitäre Hilfe in den Gaza-Streifen zulassen müssen. Doch letztendlich hat Israel als Besatzungsmacht die Verantwortung und die Möglichkeit, den Transit über sein Gebiet zuzulassen. Über einen kleinen Flughafen haben einige medizinische Evakuierungen in die Vereinigten Arabischen Emirate stattgefunden. Es gibt also Möglichkeiten, die von den Regierungen Jordaniens und Ägyptens auferlegten Hindernisse zu umgehen.
„Arbeite ich mit meinem direkten Feind zusammen?“
Den Sommer 2000 habe ich in Israel und den Palästinensischen Gebieten verbracht und erlebt, dass Menschen aus Israel zum Beispiel in Clubs in Ramallah getanzt haben. Dann kam die zweite Intifada und von einem Moment auf den nächsten ging eine tiefe Spaltung durch die beiden Gesellschaften. Plötzlich war von „den Anderen“ die Rede. In Ihren Organisationen arbeiten Menschen aus Israel und Palästina. Erleben Sie bei sich eine solche Spaltung nun ebenfalls?
GS: Die Vorsitzende unseres Aufsichtsrats ist eine palästinensische Ärztin. Am 12. Oktober sollte eine Delegation nach Gaza reisen. Sie hatte bereits Medikamente und Spielzeug organisiert. Nach dem 7. Oktober reiste sie in das Hotel am Toten Meer und verteilte alles dort. Für sie war das völlig selbstverständlich: Menschen brauchen Hilfe. Also geht sie dorthin. Aber die Angst vor dem Anderen war nach dem 7. Oktober sehr präsent. Menschen hatten das Gefühl, der israelische Staat könne sie nicht schützen. Selbst in Städten sehr weit weg von Gaza lebten Menschen mit der Angst, sie könnten überfallen und getötet werden.
TH: Ich kann diese Angst mit einer persönlichen Beobachtung illustrieren. Vor dem 7. Oktober blieben bei Bombenalarm die Türen öffentlicher Schutzbunker in den israelischen Städten offen. Wer sich auf den Straßen aufhielt, fand also immer einen Bunker, um sich in Sicherheit zu bringen. Nach dem 7. Oktober blieben alle Türen zu.
GS: Menschen leben mit der Überzeugung: Ich muss mich und meine Familie schützen. Niemand wird das für mich übernehmen. Das geht natürlich einher mit der Dämonisierung von palästinensischen Menschen. Wir haben Freiwillige, die plötzlich Angst hatten, in die mobilen Kliniken im Westjordanland zu gehen, teils, auch weil ihre Familienangehörigen sie davon abgehalten haben. Auf der anderen Seite gibt es auch jene, die sagen: Nein, das sind keine Feinde und auch keine Tiere. Man muss dazu auch wissen: Der Medizinsektor ist eine Welt, in der Israelis und Palästinenserinnen und Palästinenser zusammenarbeiten, anders als etwa der Bildungssektor. Es ist auch nicht Teil unseres Lebens, zusammen zu leben und aufzuwachsen. Ich hatte erst als Erwachsener zum ersten Mal Kontakt mit Palästinensern. In der Medizin ist das anders: 50 Prozent der Apotheker, 40 Prozent der Pflegekräfte und 20 Prozent des Ärztepersonals besteht aus Palästinenserinnen und Palästinensern mit israelischer Staatsbürgerschaft. Im Moment sind aber auch dort viele verängstigt. Menschen gucken sich die Social Media-Posts ihrer Kolleginnen und Kollegen der vergangenen Jahre an und fragen sich: Arbeite ich mit meinem direkten Feind zusammen? Es sind zum Teil wirklich absurde Vorwürfe. Aber die Angst ist tief eingesickert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand in Deutschland das Gefühl: „Wir sind umgeben von Freunden. Wir sind sicher.“ In Israel ist die Situation grundlegend anders. Das Land ist umgeben von Ländern, die es auslöschen wollen. Wie erleben Sie nach dem 7. Oktober die politische Debatte dazu?
GS: Leider ist es eine natürliche Reaktion: In einer solchen Weise angegriffen worden zu sein, führt zu der Sehnsucht nach Stärke, danach, mit mehr Macht aufzutreten und die Schwäche mit Aggression zu überkompensieren. Das gilt für das eigene Leben genauso wie für die Reaktion einer Gesellschaft. Die unmittelbaren Entscheidungen nach dem 7. Oktober – Macht auszustrahlen, aggressiv aufzutreten und sich abzuschirmen gegenüber dem Leid der anderen Seite – spielten sich ab in einem sehr sensiblen Moment. Die israelische Regierung hat das definitiv ausgenutzt und damit teils persönliche Motive verfolgt, wie etwa Benjamin Netanjahu, dem ein Prozess droht. Und es gibt weitere politische Abwägungen. In der gegenwärtigen politischen Atmosphäre ist es für unverantwortliche Politikerinnen und Politiker und Wortführerinnen und Wortführer in der Gesellschaft möglich, die Gesellschaft in die Richtung von Aggression und Stärke zu führen. Israel war noch nie so schwach wie heute. Alle Ereignisse nach dem 7. Oktober haben den internationalen Druck erhöht und etwa die Möglichkeit von Sanktionen erhöht. Und auch moralisch ist das Land geschwächt: Israel gilt jetzt als Land, das Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt. Alles, was darauf abzielte, Stärke zu beweisen, hat uns schwächer gemacht.
„Wir leben in einer absurden Situation“
Gibt es für diese Art von Debatten Raum?
TH: Ja, den gibt es. Menschen haben in den schrecklichen, schrecklichen Ereignissen des 7. Oktober Gelegenheiten erkannt. Seit Jahren haben sie dafür geworben, die palästinensische Bevölkerung aus dem Gaza-Streifen zu vertreiben und das Land zu übernehmen. Dieser Moment ist für sie ein Grund zu feiern. Das ist sehr düster. Gleichzeitig steigt die Aufmerksamkeit. Ich will nicht zu optimistisch sein. Aber ich glaube, dass Menschen immer mehr registrieren, dass sich etwa Netanjahu an die Macht klammert und seine Entscheidungen an seinem eigenen politischen Überleben ausgerichtet sind. Und die Entscheidungen mancher Kabinettsmitglieder orientieren sich an dieser Perspektive, den 7. Oktober als Gelegenheit zur Vertreibung der Palästinenser zu begreifen. Bislang war es eine Minderheit, die das als problematisch angesehen hat. Aber immer mehr realisieren, dass die Entscheidungen im vergangenen Jahr nicht getroffen wurden aus der Hoffnung heraus, die Sicherheit des israelischen Volks wiederherzustellen.
GS: Wir leben im Moment in einer absurden Situation. Viele politische Kräfte der Opposition links der Mitte erkennen, welche Motive hinter vielen politischen Entscheidungen standen. Doch sobald Libanon oder Iran Israel bedrohen, unterstützen sie Netanjahus aggressiven Kurs. Deshalb gibt es die große Mehrheit, die den Krieg unterstützt. Es fühlt sich an, als würden viele vergessen, dass sie Netanjahu in die Karten spielen.
Welche Unterstützung erhoffen Sie sich von der internationalen Gemeinschaft bzw. von Deutschland?
TH: Wir haben starke Statements und hilfreiche Kommentare aus Deutschland erlebt. Nie zuvor haben wir solch kritischen Positionierungen gegen die israelische Regierung gesehen. Aber leider haben sie nicht ausgereicht. Israel reagiert nicht auf diese Kritik. Deshalb werben wir für mehr Druck und mehr diplomatische Bemühungen. Es braucht jetzt Maßnahmen, die einen wirklichen Einfluss haben. Wir erleben einen noch nie da gewesenen Moment. In Gaza haben das menschliche Leid und die Zerstörung ein beispielloses Ausmaß erreicht. Niemand ist mehr sicher. In diesem Moment braucht es Mut und nie zuvor dagewesene Handlungsbereitschaft, um das Leid in Gaza zu stoppen und das Land wieder aufzubauen. Und hoffentlich führt dieser Prozess zu tatsächlich nachhaltigen Veränderungen, um Sicherheit und Würde für alle Menschen in dieser Region zu sichern.
GS: Ich habe dazu zwei Gedanken. Der eine: Wir sehen, dass die Netanjahu-Regierung stärker und stärker wird, solange sie keinen Widerstand gegen ihre Politik wahrnimmt. Zu Beginn des Krieges waren viele überzeugt: Die Reaktion der israelischen Regierung ist viel zu aggressiv. Sie wird das stoppen müssen. Solange die Regierung erlebt, dass die Reaktionen milde ausfallen oder nur aus kritischen Worten bestehen, kann sie immer sagen, zu sich wie zur israelischen Gesellschaft: Ihr habt euch immer gesorgt, wir müssten einen Preis zahlen, wenn wir Hunderttausende Palästinenser vertreiben. Aber schaut, wir zahlen keinen Preis. Wir können machen, was wir wollen. Das stärkt sie immer weiter und verschafft ihr die Überzeugung, diesen Kurs immer weiter fortsetzen zu können. Für Israelis wie uns, die die Regierung kritisieren, ist das eine schwierige Situation, weil wir mit unseren Warnungen ständig widerlegt werden. Der andere Gedanke: Wir teilen viele grundlegende Werte mit der deutschen Gesellschaft. Einige davon wurden auf eine so schlimme Weise verletzt, dass ich denke: Menschen in Israel brauchen das Gefühl, dass diese Werte immer noch gültig sind, und die Quelle dafür liegt außerhalb unseres Landes. Die Idee, schwer verletzte Babys nicht aus dem Gaza-Streifen herauszulassen oder Menschen dringend benötigte medizinische Hilfe zukommen zu lassen, hätten wir uns nicht vorstellen können. Jetzt ist das normal. In den vergangenen sieben Monaten konnten nur 250 kranke und verletzte Personen den Gaza-Streifen verlassen. Ich selbst brauche die Unterstützung, dass unsere Werte immer noch gelten, auch wenn sie so zerrieben worden sind in den Debatten bei uns zuhause. Man kann nicht Hunderttausende Menschen verhungern lassen. Man kann sie nicht vertreiben oder Menschen an Seuchen oder Mangelernährung sterben lassen, ganz ohne moralische Skrupel.
Den Essay von Dagmar Pruin mit dem Titel „...sich der Mitleidlosigkeit verweigern“ können Sie hier lesen.