Magda, der Film Green Border der polnischen Regisseurin Agnieszka Holland zeichnet ein schockierendes Bild der Situation an der polnisch-belarussischen Grenze im Jahr 2021. Schutzsuchende werden auf beiden Seiten der Grenze auf brutalste Weise gejagt. Gewalttätige Pushbacks gehören zum täglichen Geschäft der Grenzbeamten, Flüchtende scheinen jede Form von Recht und Würde verloren zu haben. Du selbst bist regelmäßig in der Grenzregion.Wie nahe kommt der Spielfilm der Realität vor Ort?
Sehr nahe. Viele Menschen, die es über die polnisch-belarussische Grenze geschafft haben und die ich in Polen oder Deutschland kennengelernt habe, haben das durchgemacht, was der Film zeigt – oder Schlimmeres. Bei meinem letzten Aufenthalt in der Grenzregion haben wir in einem Krankenhaus einen Mann unterstützt, dem ein polnischer Grenzbeamter auf der Flucht in den Rücken geschossen hatte. Zudem haben wir von einem zuckerkranken Syrer erfahren, der mehrfach von polnischen Grenzbeamten gepushbackt wurde, obwohl er ihnen gesagt hatte, er sei zum Überleben auf Insulin angewiesen. Die Beamten haben das ignoriert, wenig später haben Aktivist*innen ihn tot im Wald gefunden.
Der Film spielt im Jahr 2021. Was hat sich seither geändert?
Die Zustände an der Grenze sind aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. Schutzsuchende versuchen jedoch weiterhin, über Moskau und Minsk in die EU zu gelangen. Polen selber brüstete sich 2022 damit, über 40.000 Puhsbacks an der Grenze durchgeführt zu haben. Leider ist der Film aber insofern schon wieder überholt, als sich die Gewalt an der polnisch-belarussischen Grenze, ebenso wie an allen EU-Außengrenzen, seit 2021 potenziert hat. Beispielsweise hat Polen 2022 den Mauerbau entlang der Grenze vollendet. Die Mauer, die sehr hoch und mit Nato-Stacheldraht versehen ist, fordert viele Schwerverletzte und Todesopfer. Auch das Vorgehen der Grenzbeamten ist noch brutaler geworden. Das geht Hand in Hand mit einem öffentlichen Diffamierung der Flüchtenden, einer totalen Entmenschlichung. Geflüchtete werden als Gefahr und Bedrohung inszeniert, die es abzuwehren gilt. Mit allen Mitteln. Das gilt freilich nur für nichtweiße, nichtchristliche Geflüchtete, wie der Ukraine-Krieg gezeigt hat. Dieser himmelschreiende Unterschied in der Behandlung von flüchtenden Ukrainer:innen und Flüchtenden aus anderen Weltregionen hat für mich etwas Surreales.
„Ohne die lokale Bevölkerung wäre humanitäre Krise noch massiver“
Neben der Brutalität der Grenzbeamten gibt es auch Menschen in der Grenzregion, die mit großer Aufopferung Nothilfe für Geflüchtete in den Wäldern leisten. Wie hast du ihr Engagement erlebt?
Ohne den Einsatz dieser Menschen wäre die humanitäre Krise in den polnischen Wäldern der Grenzregion noch massiver. Bis Sommer 2022 galt in der Grenzregion der Ausnahmezustand. Die Bevölkerung fühlte sich wie in einer besetzten Militärzone, Straßensperren und Helikopter überall, die Militarisierung war enorm. Gleichzeitig waren die lokalen Bewohner:innen die einzigen, die Zugang zu der Zone hatten, die Schutzsuchende verstecken, mit lebensnotwendigen Dingen versorgen und medizinische Notbetreuung leisten konnten. Die ganze Verantwortung lastete auf ihren Schultern. Zugleich lebten und leben sie oft Tür an Tür mit den Grenzbeamten, die Jagd auf Geflüchtete machen. Der Film Green Border zeigt dieses Spannungsverhältnis, aber auch – in vereinzelten Fällen – Akte ungeahnter Humanität.
Du setzt dich nicht nur in Polen, sondern auch in Deutschland für Schutzsuchende ein, die über Polen in die EU gekommen sind. Wie kam es dazu?
Für mich ist die Arbeit in Deutschland eine logische Weiterführung meiner Arbeit in Polen. Die Grundannahme meines Engagements ist: Es gibt eine gemeinsame europäische Verantwortung für den Schutz von Geflüchteten. Die Situation an der Grenze Polen-Belarus ist nicht nur eine polnische Angelegenheit. Es ist auch seine sehr deutsche Angelegenheit. Denn Deutschland weiß um die Zustände an der polnisch-belarussischen Grenze. Und dass fast alle Geflüchteten, die in Polen aufgegriffen und nicht gepushbackt werden, teils monatelang inhaftiert werden: auch Kinder, Folteropfer oder Opfer sexualisierter Gewalt. Dennoch unternimmt Deutschland nichts. Im Gegenteil, es unterstützt die Abschottungspolitik Polens materiell und rhetorisch – und führt Menschen, die hier Schutz suchen, nach Polen zurück.
„Die Gewalt gegen 'die Anderen' ist stark mit dem europäischen Projekt verwoben“
Brot für die Welt fördert seit dem vergangenen Herbst ein Projekt von dir und dem Verein Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg, das genau hier ansetzt und sogenannte Dublin-Rückführungen nach Polen unterbinden will.
Genau. Unser Ziel ist es, die Rückführungen nach Polen zu stoppen, zumindest für besonders vulnerable Gruppen und Nationalitäten, die in Polen keine Aussicht auf ein faires Asylverfahren haben. Dazu arbeiten wir auf mehreren Ebenen. Wir leisten individuelle Betreuung von Betroffenen, rechtliche Unterstützung und vermitteln in besonders schweren Fällen auch ins Kirchenasyl. Gleichzeitig entwickeln wir Instrumente, die es auch anderen Aktivist:innen und Rechtsexpert:innen erleichtern sollen, Dublin-Rückführungen nach Polen zu verhindern. Beispielsweise, indem wir Fakten über unmenschliche Behandlung und fehlenden Rechtsschutz von Geflüchteten in Polen sammeln und auf Deutsch publizieren. Das Material kann in Verfahren als Argumentationshilfe verwendet werden.
Hast du die Hoffnung, dass sich die Situation für Geflüchtete in Polen mit der neuen Regierung verbessert?
Einige Menschenrechtsorganisationen in Polen erhoffen sich einen besseren Zugang zu Geflüchteten, etwa in den Internierungslagern. Ich bin aber skeptisch, dass sich an der generellen Linie etwas ändert. Die Gewalt gegen „das Andere“ ist viel zu stark mit dem europäischen Projekt verwoben. Schau dir nur die Gewaltexzesse des Kolonialismus an. Die Gewalt, die früher in den Kolonien ausgeübt wurde, wird nun an den Außengrenzen und innerhalb Europas gegen „die Anderen“ fortgesetzt. Davon wird auch die neue polnische Regierung nicht abrücken.
Der Film Green Border läuft am 1. Februar in den Kinos an. Am 31. Januar präsentiert Brot für die Welt gemeinsam mit dem Verein Asyl in der Kirche Berlin-Brandenburg und weiteren Organisationen den Film in einer Preview in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg. Die Teilnahme ist kostenlos, jedoch nur nach vorheriger Anmeldung möglich.
Nach dem Film gibt es die Gelegenheit, sich über die aktuelle Lage an der polnisch-belarussischen Grenze, Kirchenasyl und andere Formen solidarischen Handels auszutauschen, unter anderem mit Magda Qandil. Vor ihrer Arbeit in Deutschland und an der Grenze Polen-Belarus hat sie u.a. für Ärzte ohne Grenzen gearbeitet und war in der humanitären Hilfe und Advocacy-Arbeit für Geflüchtete in Syrien, dem Libanon, der Türkei und am Balkan aktiv.