Interview

„Ein Quadratmeter Widerstand“

In Nicaragua hat die Regierung Ortega nahezu alle NGOs verboten – und damit die lange funktionierende Zivilgesellschaft im Land zerstört. Ein Interview über die Folgen mit Claudia Pineda von der nicaraguanischen Initiative „Sé humano“, einer Partnerorganisation von Brot für die Welt. Pineda lebt seit 2021 im Exil in Costa Rica.

Von Online-Redaktion am
Menschen in Nicaragua protestieren gegen die Politik der Regierung.

Menschen in Nicaragua protestieren gegen die Politik der Regierung.

Frau Pineda, berühmte Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus Nicaragua wie Gioconda Belli oder Sergio Ramírez erzählen in dem kürzlich erschienenen Buch „Libertad tras las rejas" die Geschichte von elf Frauen, die wegen ihres Kampfes für Menschenrechte und ihrer Kritik an der Ortega-Regierung im Gefängnis gelandet sind und 2023 aus ihrer Zelle heraus des Landes verwiesen wurden. Sie haben die Recherchen und das Buch betreut. Was hat Sie besonders beeindruckt?

Die psychische Kraft und Resilienz der elf Frauen, darunter Politikerinnen der Opposition, aber auch normale Hausfrauen, die Jüngste 23, die Älteste über 70. Weder Folter und Isolation noch Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe während der Haft haben sie gebrochen! Ein Aspekt, aus dem alle elf Zeuginnen Kraft zogen, war die Unterstützung durch ihre Familien und Freunde draußen. Alle 40 bis 90 Tage durfte man die Gefangenen besuchen. Dann erfuhren sie, was draußen passierte, sie lebten ja bis zu zwei Jahre lang total abgeschottet, manche lasen immer und immer wieder die Etiketten der Wasserflaschen, um überhaupt etwas zu lesen zu haben! Von ihren Familien bekamen sie auch Lebensmittel – das Essen im Gefängnis war oft verdorben.

Was gab ihnen innerhalb der Gefängnismauern Kraft?
Die Solidarität, die die Frauen untereinander lebten und spürten. Etwa, indem sie aufeinander Acht gaben, sich trösteten, auch mit Handzeichen kommunizierten, wenn sie in Zellen saßen, die sich gegenüberlagen. Eine Zeugin drückte es so aus: Wir haben versucht – und es geschafft -, uns in unseren winzigen Gefängniszellen den einen Quadratmeter Widerstand und Würde zu bewahren.

Die im Buch porträtierten Frauen gingen wie viele Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner im Sommer 2021 auf die Straße, weil Ortega vor der damals anstehenden Wahl im November keine Demonstrationen zulassen wollte. Was konkret wurde den Frauen bei der Verhaftung vorgeworfen?
Die Staatsanwaltschaft brachte verschiedene Begründungen vor: Die einen Frauen wurden wegen Landesverrats festgenommen, andere wegen vermeintlicher Konspiration, weil sie sich über Chat-Gruppen zu Demonstrationen verabredet hatten. Mit ihren Tweets und Social-Media-Posts fielen sie für das Regime auch unter Terrorismusverdacht, auch Cyberkriminalität wurde einigen von ihnen angelastet – alles absurde Vorwände, sie zum Schweigen zu bringen oder von einer Kandidatur abzuhalten. Als die Stimmung in der Bevölkerung zu kippen drohte, weil auch bekannte integre Persönlichkeiten und Ex-Guerilleras der Sandinisten, wie zum Beispiel Dora Maria Tellez, verhaftet wurden und es immer mehr politische Gefangene gab, haben Polizei und Staatsanwälte nochmal draufgelegt und den Frauen vorgeworfen, mit Drogen zu handeln – und hierfür Beweise gefälscht.

Viele Aktivist:innen leben heute im Exil. Gibt es in Nicaragua noch eine funktionierende Zivilgesellschaft?
Nein, die existiert nicht mehr. Wer kann, verlässt das Land; wir haben heute zehn Prozent – oder eine Million – weniger Menschen im Land. 3.000 NGOs, alle Gewerkschaften und alle Verbände, auch von Unternehmen und Richtern, wurden verboten beziehungsweise aufgelöst. Das Regime will keinerlei Organisationen  mehr im Land; die alleinige Kontrolle soll der Staat und sollen die von ihm installierten Beamt:innen und Richter:innen haben. Selbst die katholische Kirche spürt den Druck des  Regimes – obwohl sie die Regierung von Ortega so lange unterstützt hatte.

Was geschieht in und mit einer Gesellschaft ohne Zivilgesellschaft?
Bürger- und Menschenrechte werden gekippt, wenn keiner mehr für sie eintritt. Es gibt auch keine Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt mehr. Das Misstrauen zwischen den Menschen nimmt zu, auch im privaten Bereich – es gibt ja auch Leute, die glauben, die Missstände im Land werden nicht von der eigenen Regierung, sondern von anderen Kräften verursacht. Fehlt die Zivilgesellschaft, wirkt sich das auch wirtschaftlich aus, weil die jungen Leute das Land verlassen. Jeder und jede Vierte der befragten Minderjährigen will emigrieren, kein Wunder, denn es will auch niemand mehr in Nicaragua investieren und Jobs schaffen. Nicaragua wird von Jahr zu Jahr weniger produktiv und noch ärmer. Und immer abhängiger von Devisen, vor allem von remesas, den Rücküberweisungen der im Ausland lebenden Landsleute an ihre Familien.

2023 ließ Ortega 222 politische Gefangene, darunter auch die elf Frauen aus dem Buch, ausweisen. Sind diese kritischen Stimmen aus der Zivilgesellschaft jetzt verstummt?
Nein. Ich kenne niemanden, der aufgegeben hat, für ein demokratisches und ein die Menschenrechte achtendes Nicaragua zu kämpfen. Die Aktivist:innen im Exil machen ebenso engagiert weiter, organisieren sich jetzt eben in den USA, in Costa Rica, in Spanien. Sie haben auch Kontakt mit Menschen in Nicaragua, aber das geht nur sehr leise, sehr geheim, unter dem Radar, um niemanden zu gefährden. Viele nicaraguanische NGOs, die jetzt im Ausland arbeiten, bekommen auch weiterhin finanzielle Unterstützung, etwa „Sé humano“ von Brot für die Welt. Aber natürlich sind sie alle geschwächt. Sie versuchen derzeit schlichtweg zu überleben.

Nimmt die Welt die Not der Zivilgesellschaft in Nicaragua ausreichend wahr?
Die Politik in Europa und den USA ist sich des Problems bewusst. Aber die Regierungen dort können derzeit politisch nicht viel machen. Sie haben nicht wirklich Instrumente in der Hand, das Ortega-Regime zu stoppen. Moralische Appelle prallen an Ortega ab. Ein Verfahren gegen ihn über ein internationales Strafgericht würde Jahre dauern. Manche schlagen ein Wirtschaftsembargo vor. Aber das würde Nicaragua noch ärmer machen und noch mehr Menschen in die Flucht treiben. Und daran wiederum haben weder Europa noch die USA ein Interesse.

Interview: Martina Hahn

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