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Kafka auf Kos

Der Besuch des griechischen Hot Spots auf Kos wird zu einer kafkaesken Erfahrung. Die Behörden zeichnen zwei Tage lang ein Lagebild des dortigen Asylzentrums, welches mit der katastrophalen Realität nichts zu tun hat. Gut, dass unser Partner Equal Rights Beyond Borders nicht die Nerven verliert und trotz aller Widrigkeiten für Recht und Würde von Schutzsuchenden kämpft.

Von Dr. Andreas Grünewald am
Das Closed Controlled Access Center auf Kos

Das Closed Controlled Access Center auf Kos

Jemand musste Feysal K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.*

*Anfangssatz von Kafkas Roman Der Prozess, Name adaptiert

Wäre Franz Kafka 100 Jahre später geboren, er hätte seinen Roman Der Prozess auf Kos schreiben müssen. Dieser Gedanke kommt mir öfter beim zweitägigen Besuch des Closed Controlled Access Center (CCAC) auf der griechischen Insel. Der Protagonist von Kafkas Roman findet sich eines Tages in Haft und mit einer Behörde konfrontiert, die fortan sein Leben bestimmt, und zugleich ungreifbar bleibt. Die Hilflosigkeit, die aus einer Konfrontation mit Behörden erwächst, die nur sinnfreie Auskünfte erteilt und jegliche Verantwortung für ihr Tun von sich weist, hat Kafka eindrücklich beschrieben. Ebendieses Gefühl der Hilflosigkeit befällt mich nun bei der von EU-Parlamentarierin Birgit Sippel angeführten Delegationsreise auf Kos.

Zurück in der Zukunft der EU-Flüchtlingspolitik

Das CCAC auf Kos ist für die griechische Regierung und die EU ein Vorzeigeprojekt. 40 Millionen Euro hat die EU investiert, um ein Asylerstaufnahmelager am Rande der EU zu installieren – drei Kilometer Luftlinie vom türkischen Festland entfernt. Das Versprechen: schnelle Verfahren, Kontrolle und Ordnung. 2022, ein Jahr nach der Eröffnung des CCAC, war ich zum ersten Mal auf Einladung unserer Partnerorganisation Equal Rights Beyond Borders (ERBB) mit Birgit Sippel vor Ort – und geschockt: rechtswidrige Internierungen, katastrophale hygienische Zustände – und eine Architektur, die an Guantanamo erinnert. Immerhin, die Behörden gelobten Verbesserungen. Im September 2025 sind wir zurück, um uns das anzusehen.

Ja, alles sei jetzt unter Kontrolle, versichert uns der ehemalige Leiter des CCAC, der mittlerweile zum Leiter aller griechischen Asylzentren aufgestiegen und extra aus Athen angereist ist. Mit aktuell rund 700 Personen aus Afghanistan, Syrien, Somalia oder Pakistan sei die Zeit der Überbelegung vorbei (das CCAC bietet offiziell Platz für rund 1.200 Personen). Die vom Antifolterkommitte des Europarats (CPT) in einem Bericht von 2024 geschilderten unhaltbaren Bedingungen (kaputte Unterkünfte, Bettwanzen, ungenießbares Essen und vieles mehr) würden nicht mehr existieren. Auch die medizinische Versorgung der Bewohner*innen funktioniere nun hervorragend. Er müsse jetzt kurz fünf Minuten weg, wir könnten ja mal mit der aktuellen Lagerleitung herumlaufen, und uns selbst ein Bild machen.

Weggesperrt hinter Stacheldraht: Geflüchtete auf Kos

Uns so machen wir uns auf den Weg, Zwischen meterhohen Metallzäunen mit Nato-Stacheldraht und massiven Betonmauern stehen immer wieder kleinere Containersiedlungen, meist zweistöckig. Schatten gibt es keinen, dafür viel Asphalt, Kameras – und noch mehr Stacheldraht. Gezeigt wird uns dann ein gerade renoviertes Containerlager – welches nicht für die Bewohner freigegeben ist – und dennoch einen schäbigen Eindruck macht. 50 Zimmer verteilt auf zwei Stockwerke, jedes circa acht Quadratmeter groß und mit jeweils zwei Stockbetten und einem Einzelbett ausgestattet.

Irgendwie schaffe ich es dann, mir Zutritt zu einem bewohnten Containerlager zu verschaffen – zum sichtlichen Missfallen der Leiterin des CCAC. Der schmale, etwa 25 Meter lange Flur ist ziemlich dunkel, da nur eine einzige Lampe funktioniert. So merke ich nicht gleich, dass es überall von der Decke tropft, und auch aus dem Bad ein Rinnsal fließt. Die Folge: der ganze Flur steht unter Wasser. Es stinkt, an vielen Stellen hat der durchnässte Boden Löcher. Eine Bewohnerin beschwert sich über das völlig ungenießbare Essen und die unzureichende Versorgung mit Trinkwasser (1,5 Liter/Tag). Dann zeigt sie mir ihre Arme, die von Bisswunden übersät sind. Bettwanzen und anderes Ungeziefer sind eine Dauerplage im Lager, bestätigen später die Mitarbeiter*innen von ERBB, die selbst keinen Zugang zu den Wohnbereichen der Asylsuchenden erhalten. Für die Matratzen im Lager gebe es weder Bettlaken noch Decken, auch dringend notwendige Kleidung werde von der Lagerleitung nicht verteilt. Das wiederaufbereitete Wasser sorge bei vielen Bewohner*innen für Ausschläge, ergänzt eine Vertreterin von Ärzte ohne Grenzen. Die Leitung des CCAC lehne eine Überprüfung der Wasserqualität jedoch ab. Und der Zugang zu medizinischer Versorgung, naja, der funktioniere einfach nicht. Neulich sei ein neunmonatiges Baby aus dem Lager verstorben.

Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht. (Kafka, Der Prozess)

Gerne würden wir danach mit den Verantwortlichen über die krasse Diskrepanz zwischen deren Schilderungen und der realen Lage sprechen. Doch der aus Athen angereiste Spitzenbeamte ist nicht mehr auffindbar. Die Lagerleitung wiederum macht die Bewohner*innen für die schlechten Zustände verantwortlich. Ähnlich argumentiert der Vertreter der EU-Kommission in Griechenland, der auch angereist ist. Ein Spitzenlager sei das gewesen bei der Eröffnung. Aber man müsse verstehen, die Bewohner*innen hätten einen anderen kulturellen Hintergrund, sie seien traumatisiert und frustriert, da gehe dann alles kaputt. Kurze Zeit später benutze ich ein Klo, welches in einem für die Bewohner*innen unzugänglichen Bereich liegt. Auch hier: Die Wasserleitung leckt in einem fort, grün-weißer Schleim kriecht die Rohre und den Boden entlang. Was die EU und Griechenland hier für 40 Millionen Euro errichtet haben, fällt nur vier Jahre nach der Eröffnung wieder auseinander. Ja, ganz zufrieden sei er auch nicht mit der Art und Weise, wie die Griechen das Geld ausgegeben hätten, meint der EU-Vertreter gegen Ende des Gesprächs. Man werde das in der Zukunft besser machen.

Partnerorganisation von Brot für die Welt arbeitet unermüdlich an Verbesserungen

Es sind Sätze wie diese, die die Mitarbeiter*innen unserer Partnerorganisation ERBB einfach nicht mehr hören können. Trotzdem machen sie weiter, dokumentieren Missstände und kämpfen über den Rechtsweg für Verbesserungen. Neben vielen gewonnen Asylverfahren haben sie dabei auch immer wieder strukturelle Veränderungen erwirkt wie geringere Inhaftierungszeiten und besseren Schutz für unbegleitet Minderjährige. Unzählige menschenverachtende Praktiken jedoch bleiben: Willkürliche Internierungen von Asylsuchenden oder die systematische Zerstörung der Handykameras der Bewohner*innen. Die Behörden verhängen zudem 6-18-monatige Abschiebehaft in Fällen, von denen sie selbst sagen, dass keinerlei Aussicht auf Abschiebung bestehe.

Pushbacks: negiert, und doch präsent

Und dann sind da noch die gewalttätigen Pushbacks. Am Ende unserer Delegationsreise sind wir bei der griechischen Küstenwache zu Gast, um über unzählig dokumentierte Pushbacks und von der Küstenwache provozierte Schiffsunglücke mit Todesfolgen, zu sprechen. „Wie bitte?“, fragt der uniformierte Beamte. „Pushbacks? Schiffsunglücke? Gibt es nicht. Ist alles genau dokumentiert.“ Ich hake nach. Was hat es mit den Schwimmwesten auf sich, den Babyschuhen und Windeln, die ich am Strand gefunden habe. Oh, da habe man vergessen aufzuräumen, bekomme ich zur Antwort. Das sei doch ganz altes Zeug, Schnee von gestern. Ich atme tief durch, und wende meinen Blick kurz ab. Er bleibt auf einem Plakat hängen, welches unter einem Heiligenbild das Büro schmückt. Ich kann kaum fassen, was ich da lese:

People sleep peaceably in their beds at night only because rough men stand ready to do violence on their behalf. [George Orwell]**

** Das Zitat wird Orwell irrtümlicherweise zugeschrieben.

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