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Brasilien: Kämpfe für soziale Gerechtigkeit

Neoliberale Reformen gefährden Brasiliens Sozialsystem, besonders für Frauen und marginalisierte Gruppen. SOS Corpo fordert gerechte Sorgearbeit und soziale Sicherheit für alle – feministisch, solidarisch und antirassistisch.

Von Farina Hoffmann am
Eine Person steht mit einem Gesetzbuch vor einer Statur

Nicht nur Maria Betânia Ávila und Rivane Arantes von SOS Corpo setzen sich für die am meisten Marginalisierten ein. Lúcia Fernanda Kaingang ist Anwältin und setzt sich schon lange für die Rechte Indigener in Brasilien ein. Hier ist sie vor der Statue der Justizia in Brasília.

In Südamerika gibt es das Konzept „Bem Vivir“ – das „Gute Leben“. Es steht für eine Welt, in der alle Menschen in Würde leben können. Es stellt eine alternative Vision von Wohlstand und Lebensqualität dar, die nicht auf materiellen Reichtum und Konsum ausgerichtet ist, sondern auf Harmonie mit der Natur, sozialer Gerechtigkeit und dem Wohlergehen der Gemeinschaft und eine faire Verteilung von Ressourcen und Verantwortung. In Brasilien, einem Land mit einer reichen Geschichte sozialer Kämpfe, gerät diese Vision jedoch zunehmend in Gefahr. Besonders Frauen, darunter Schwarze, armutsbetroffene Frauen und LBTQIAPN+ (lesbische, bisexuelle, trans*, queere, inter*, asexuelle/aromantische/agender, pansexuelle/polyamore und nicht-binäre*) Personen leiden unter den Folgen von Privatisierung und neoliberalen Reformen in der Sozialpolitik.

Maria Betânia Ávila und Rivane Arantes von der brasilianischen feministischen Organisation SOS Corpo, einer Partnerorganisation von Brot für die Welt, schildern, wo sie Probleme sehen und wie es besser werden kann. Das gesamte Interview mit Maria Betânia Ávila und Rivane Arantes finden Sie in der neu erschienenen Publikation „Umsteuern jetzt! Nur internationale Gerechtigkeit schafft soziale Sicherheit“ von Brot für die Welt.

Neoliberale Reformen gefährden Brasiliens Sozialstaat    

Seit den 1990er Jahren steht Brasiliens Sozialsystem unter starkem Druck. Bereiche wie Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung, die für viele Menschen lebenswichtig sind, werden zunehmend ins Visier privater Unternehmen genommen. Diese Konzerne verbreiten oft das Argument, dass das Sozialversicherungssystem „defizitär“ sei und Verluste mache – ein Vorwand, um staatliche Leistungen zu privatisieren und Profite zu erzielen.

Mit starker Interessenvertretung im brasilianischen Nationalkongress beeinflussen diese Unternehmen politische Entscheidungen, sodass Renten zum Beispiel für vulnerable Gruppen gekürzt werden. Dabei arbeiten Frauen ohnehin schon häufig in informellen Jobs und haben keinen oder kaum Anspruch auf Rente.

Heikle Lebensrealitäten marginalisierter Frauen

Ein weiterer Grund für die strukturelle Benachteiligung von Frauen liegt in der gesellschaftlichen Erwartung, dass sie für Hausarbeit und familiäre Pflege zuständig. Diese Verpflichtungen sind nicht das Ergebnis fehlender Fähigkeiten oder Bildung. Zusätzlich zeigen Studien, dass Frauen trotz gleicher Qualifikation schlechter bezahlt werden und unter prekären Bedingungen arbeiten. Der entscheidende Faktor ist die traditionelle Rolle von Frauen, die historisch und kulturell verankert ist und sie wirtschaftlich schlechter stellt. Denn Frauen können neben der unbezahlten häuslichen Arbeit oft nur Teilzeit- oder informelle Jobs annehmen, was zu niedrigen Einkommen und geringer sozialer Absicherung führt. Diese Last verhindert nicht nur, dass Frauen ihr volles berufliches Potenzial entfalten, sondern hält sie auch in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen gefangen.

Reiche Frauen sind vor dem Patriarchat auch nicht sicher, aber sie können die Sorgearbeit auslagern. Häufig erledigen arme und Schwarze Frauen die Haus- und Sorgearbeit für sie. Doch wer kümmert sich dann um den Haushalt der armen und Sachwarzen Frauen? Sie müssen sich Hilfe in ihrem Umfeld von Nachbar*innen und weiblichen Familienmitgliedern holen, denn der Staat und auch die männlichen Familienmitglieder fangen diese Doppelbelastung nicht auf. Hier zeigt sich ein klarer Klassenunterschied, wie Frauen vom Patriarchat betroffen sind.

Frauen, Menschen mit Behinderung und queere Personen im Teufelskreis der Ungleichheit

Sozialhilfeprogramme wie Bolsa Família, die Armut bekämpfen sollen, verschärfen diese Situation oft ungewollt: Sie verknüpfen den Erhalt von zusätzlichen Sozialleistungen zum Beispiel damit, dass Kinder zur Schule gehen oder sie gewisse Impfungen haben. Was an sich erstrebenswert ist wirft allerdings keinen Blick drauf, wer sich in der Praxis darum kümmern muss, dass diese Bedingungen erfüllt sind. Sie verweisen Frauen in die Rolle der alleinigen Verantwortlichen für die Sorgearbeit. Dadurch wird nicht nur ihre wirtschaftliche Teilhabe eingeschränkt, sondern auch die gesellschaftliche Ungleichheit weiter zementiert.

Besonders betroffen sind Schwarze, behinderte und marginalisierte Frauen sowie LBTQIAPN+-Personen. Diese Gruppen arbeiten und leben oft unter prekären Bedingungen, was in offiziellen Statistiken kaum sichtbar wird. Ein Beispiel: Es gibt kaum verlässliche Daten über die Lebensrealität von Frauen mit Behinderungen. Ein weiteres Beispiel sind die mangelnden Daten zu LBTQIAPN+-Personen. Die wenigen verfügbaren Zahlen wie die Erhebung des brasilianischen Statistikamts IBGE von 2022 zeigen lediglich, dass sich 2,9 Millionen Menschen über 18 als lesbisch, schwul oder bisexuell identifizieren. Doch diese Zahlen erfassen nicht die tatsächlichen Herausforderungen und Diskriminierungen, denen viele täglich ausgesetzt sind.

Für viele bedeutet ihre Identität – sei es als lesbische, trans*, nicht-binäre oder inter* Person – den Ausschluss vom regulären Arbeitsmarkt. Sie werden in informelle oder prekäre Jobs gedrängt, weil Arbeitgeber*innen sie nicht einstellen wollen. Sie haben Angst, dass zum Beispiel die Kund*innenschaft dann nicht mehr bei ihnen einkauft oder sie selbst haben eine feindliche und ablehnende Haltung. Diese informellen Jobs sind schlecht bezahlt und ohne soziale Absicherung. So entsteht ein Teufelskreis aus unsicherer Beschäftigung, niedrigen Löhnen und fehlendem Schutz.

Die Rolle der Kirche und ihr Einfluss auf die Gesellschaft

In Brasilien spielen religiöse Gruppen und Kirchen, vor allem neopentekostale christliche Kirchen, eine immer größere Rolle in der sozialen und politischen Landschaft. Diese neopentekostalen Kirchen, die zutiefst fundamentalistisch ausgeprägt sind, nutzen ihren Einfluss, um politische Entscheidungen zu beeinflussen. Ihre Macht erstreckt sich bis in lokale und nationale Institutionen, wo sie wichtige politische Entscheidungen mitbestimmen. Besonders in Wahlzeiten spielen diese Kirchen eine strategische Rolle. Sie nutzen ihre Verbindungen zu Militärs und lokalen Milizen, um politische Entscheidungen zu beeinflussen und ihre konservativen Werte durchzusetzen. Sie haben es geschafft, sich öffentliche Mittel anzueignen, die ursprünglich für soziale Wohlfahrtsprogramme vorgesehen waren wie etwa für die Unterstützung von Wohnungslosen, Drogenkosument*innen oder straffälligen Jugendlichen.

Sie gewinnen zunehmend Einfluss und Vertrauen der Bevölkerung, insbesondere an Orten, an denen der Staat nicht ausreichend für bedürftige Einzelpersonen und Familien sorgt. Neopentekostale Kirchen bieten häufig soziale Unterstützung an, aber diese Hilfe hat einen hohen Preis: Die Programme dieser Kirchen stärken patriarchalen Strukturen, unterstützen die Idee, dass Frauen in erster Linie für die Familie verantwortlich sind und diskriminieren queere Menschen. Dies gefährdet den Grundsatz der Säkularität des Staates und übt "im Namen Gottes" Gewalt gegenüber marginalisierten Gruppen aus.

Eine Lösung: Die feministische Sorgeökonomie

Die Organisation SOS Corpo setzt sich für eine Sorgeökonomie ein. Das bedeutet, dass Sorgearbeit nicht nur im Privaten stattfindet, sondern als zentrale gesellschaftliche Aufgabe anerkannt wird. Ziel ist es, die Last gerechter zu verteilen und allen Menschen Zugang zu sozialer Sicherheit zu garantieren.

SOS Corpo fordert:

  • Universelle soziale Sicherheit für alle
    • Soziale Sicherheit sollte kein Privileg für diejenigen sein, die es sich leisten können oder die formell beschäftigt sind. Es muss ein System geschaffen werden, das jede Form von Arbeit anerkennt – von produktiver Erwerbsarbeit bis hin zur oft unsichtbaren reproduktiven Arbeit wie Hausarbeit und Sorgearbeit. Menschen, die unbezahlt für ihre Familien sorgen, verdienen denselben Schutz wie Beschäftigte. Der Staat muss sicherstellen, dass jeder in schwierigen Zeiten – sei es Schwangerschaft, Krankheit oder Alter – sozial abgesichert ist.
  • Solidarität als Grundprinzip
    • Solidarität umfasst mehr als nur die Unterstützung zwischen verschiedenen Generationen. Sie bedeutet, dass Menschen, die derzeit arbeiten, Verantwortung übernehmen, um jene zu unterstützen, die nicht arbeiten können oder bereits ihren Beitrag zur Gesellschaft geleistet haben. Ein solches solidarisches System bietet nicht nur individuelle Absicherung, sondern stärkt auch den sozialen Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl.
  • Umverteilung zur Bekämpfung von Ungleichheit
    • Soziale Sicherheit muss gezielt dazu beitragen, Ungleichheit abzubauen. Dafür sind Maßnahmen nötig, die auf die verschiedenen Formen von Benachteiligung eingehen – sei es wirtschaftlich, geschlechtsspezifisch oder ethnisch. Eine umverteilende Sozialpolitik hilft, strukturelle Diskriminierung zu überwinden und schafft die Grundlage für eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft.
  • Feministisch und antirassistisch
    • Feministische Konzepte der sozialen Sicherheit erkennen die vielfältigen Formen von Diskriminierung an, denen Frauen und marginalisierte Gruppen täglich ausgesetzt sind. Der Staat muss Maßnahmen ergreifen, die Frauen stärken und ihre Autonomie fördern, anstatt sie auf die Rolle von Opfern oder Versorgerinnen zu reduzieren. Eine gerechte soziale Sicherheit bekämpft systemische Diskriminierung.

 

Ein Blogbeitrag von Zulfizar Alieva, Praktikant*in bei Brot für die Welt.

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