In Südamerika gibt es das Konzept „Bem Vivir“ – das „Gute Leben“. Es steht für eine Welt, in der alle Menschen in Würde leben können. Es stellt eine alternative Vision von Wohlstand und Lebensqualität dar, die nicht auf materiellen Reichtum und Konsum ausgerichtet ist, sondern auf Harmonie mit der Natur, sozialer Gerechtigkeit und dem Wohlergehen der Gemeinschaft und eine faire Verteilung von Ressourcen und Verantwortung. In Brasilien, einem Land mit einer reichen Geschichte sozialer Kämpfe, gerät diese Vision jedoch zunehmend in Gefahr. Besonders Frauen, darunter Schwarze, armutsbetroffene Frauen und LBTQIAPN+ (lesbische, bisexuelle, trans*, queere, inter*, asexuelle/aromantische/agender, pansexuelle/polyamore und nicht-binäre*) Personen leiden unter den Folgen von Privatisierung und neoliberalen Reformen in der Sozialpolitik.
Maria Betânia Ávila und Rivane Arantes von der brasilianischen feministischen Organisation SOS Corpo, einer Partnerorganisation von Brot für die Welt, schildern, wo sie Probleme sehen und wie es besser werden kann. Das gesamte Interview mit Maria Betânia Ávila und Rivane Arantes finden Sie in der neu erschienenen Publikation „Umsteuern jetzt! Nur internationale Gerechtigkeit schafft soziale Sicherheit“ von Brot für die Welt.
Neoliberale Reformen gefährden Brasiliens Sozialstaat
Seit den 1990er Jahren steht Brasiliens Sozialsystem unter starkem Druck. Bereiche wie Bildung, Gesundheit und soziale Sicherung, die für viele Menschen lebenswichtig sind, werden zunehmend ins Visier privater Unternehmen genommen. Diese Konzerne verbreiten oft das Argument, dass das Sozialversicherungssystem „defizitär“ sei und Verluste mache – ein Vorwand, um staatliche Leistungen zu privatisieren und Profite zu erzielen.
Mit starker Interessenvertretung im brasilianischen Nationalkongress beeinflussen diese Unternehmen politische Entscheidungen, sodass Renten zum Beispiel für vulnerable Gruppen gekürzt werden. Dabei arbeiten Frauen ohnehin schon häufig in informellen Jobs und haben keinen oder kaum Anspruch auf Rente.
Heikle Lebensrealitäten marginalisierter Frauen
Die strukturelle Benachteiligung von Frauen liegt unter anderem in der gesellschaftlichen Erwartung, dass sie für Hausarbeit und familiäre Pflege zuständig sind. Frauen können neben der unbezahlten häuslichen Arbeit oft nur Teilzeit- oder informelle Jobs annehmen, was zu niedrigen Einkommen und geringer sozialer Absicherung führt. Diese Last verhindert nicht nur, dass Frauen ihr volles berufliches Potenzial entfalten, sondern hält sie auch in prekären wirtschaftlichen Verhältnissen gefangen.
Häufig erledigen arme und Schwarze Frauen die Haus- und Sorgearbeit für reiche Frauen. Doch wer kümmert sich dann um den Haushalt der armen und Schwarzen Frauen? Sie müssen sich Hilfe in ihrem Umfeld von Nachbar*innen und weiblichen Familienmitgliedern holen, denn der Staat und auch die männlichen Familienmitglieder fangen diese Doppelbelastung nicht auf. Hier zeigt sich ein klarer Klassenunterschied, wie Frauen vom Patriarchat betroffen sind.
Frauen, Menschen mit Behinderung und queere Personen im Teufelskreis der Ungleichheit
Sozialhilfeprogramme wie Bolsa Família, die Armut bekämpfen sollen, verschärfen diese Situation oft ungewollt: Sie verknüpfen den Erhalt von zusätzlichen Sozialleistungen zum Beispiel damit, dass Kinder zur Schule gehen oder sie gewisse Impfungen haben. Was an sich erstrebenswert ist wirft allerdings keinen Blick drauf, wer sich in der Praxis darum kümmern muss, dass diese Bedingungen erfüllt sind. Sie verweisen Frauen in die Rolle der alleinigen Verantwortlichen für die Sorgearbeit. Dadurch wird nicht nur ihre wirtschaftliche Teilhabe eingeschränkt, sondern auch die gesellschaftliche Ungleichheit weiter zementiert.
Besonders betroffen sind Schwarze, behinderte und marginalisierte Frauen sowie LBTQIAPN+-Personen. Für viele bedeutet ihre Identität – sei es als lesbische, trans*, nicht-binäre oder inter* Person – den Ausschluss vom regulären Arbeitsmarkt. Sie werden in informelle oder prekäre Jobs gedrängt, weil Arbeitgeber*innen sie nicht einstellen wollen. Sie haben Angst, dass zum Beispiel die Kund*innenschaft dann nicht mehr bei ihnen einkauft oder sie selbst haben eine feindliche und ablehnende Haltung. Diese informellen Jobs sind schlecht bezahlt und ohne soziale Absicherung. So entsteht ein Teufelskreis aus unsicherer Beschäftigung, niedrigen Löhnen und fehlendem Schutz.
Eine Lösung: Die feministische Sorgeökonomie
Die Organisation SOS Corpo setzt sich für eine Sorgeökonomie ein. Das bedeutet, dass Sorgearbeit nicht nur im Privaten stattfindet, sondern als zentrale gesellschaftliche Aufgabe anerkannt wird. Ziel ist es, die Last gerechter zu verteilen und allen Menschen Zugang zu sozialer Sicherheit zu garantieren.
SOS Corpo fordert:
- Universelle soziale Sicherheit für alle
- Soziale Sicherheit sollte kein Privileg für diejenigen sein, die es sich leisten können oder die formell beschäftigt sind. Es muss ein System geschaffen werden, das jede Form von Arbeit anerkennt – von produktiver Erwerbsarbeit bis hin zur oft unsichtbaren reproduktiven Arbeit wie Hausarbeit und Sorgearbeit. Menschen, die unbezahlt für ihre Familien sorgen, verdienen denselben Schutz wie Beschäftigte. Der Staat muss sicherstellen, dass jeder in schwierigen Zeiten – sei es Schwangerschaft, Krankheit oder Alter – sozial abgesichert ist.
- Solidarität als Grundprinzip
- Solidarität umfasst mehr als nur die Unterstützung zwischen verschiedenen Generationen. Sie bedeutet, dass Menschen, die derzeit arbeiten, Verantwortung übernehmen, um jene zu unterstützen, die nicht arbeiten können oder bereits ihren Beitrag zur Gesellschaft geleistet haben. Ein solches solidarisches System bietet nicht nur individuelle Absicherung, sondern stärkt auch den sozialen Zusammenhalt und das Gemeinschaftsgefühl.
- Umverteilung zur Bekämpfung von Ungleichheit
- Soziale Sicherheit muss gezielt dazu beitragen, Ungleichheit abzubauen. Dafür sind Maßnahmen nötig, die auf die verschiedenen Formen von Benachteiligung eingehen – sei es wirtschaftlich, geschlechtsspezifisch oder ethnisch. Eine umverteilende Sozialpolitik hilft, strukturelle Diskriminierung zu überwinden und schafft die Grundlage für eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft.
- Feministisch und antirassistisch
- Feministische Konzepte der sozialen Sicherheit erkennen die vielfältigen Formen von Diskriminierung an, denen Frauen und marginalisierte Gruppen täglich ausgesetzt sind. Der Staat muss Maßnahmen ergreifen, die Frauen stärken und ihre Autonomie fördern, anstatt sie auf die Rolle von Opfern oder Versorgerinnen zu reduzieren. Eine gerechte soziale Sicherheit bekämpft systemische Diskriminierung.
Ein Blogbeitrag von Zulfizar Alieva, Praktikant*in bei Brot für die Welt.