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Rückschlag im rechtlichen Kampf gegen Pushbacks

Der brutale Massenpushback von 1.500 Personen nach Griechenland 2016 stellt keinen Verstoß gegen die europäische Menschenrechtskonvention dar. So zumindest lautet das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Damit höhlt das Gericht den Geist der Konvention aus und legitimiert die Etablierung von weitgehend rechtsfreien Räumen an den EU-Außengrenzen.

Von Dr. Andreas Grünewald am
Das Flüchtlingscamp Idomeni im März 2016

Das Flüchtlingscamp Idomeni im März 2016

Was bedeutet es für unseren Rechtsstaat, wenn wir Menschen auf der Flucht selbst die grundlegendsten Rechte absprechen – das Recht, um Schutz anzusuchen und gehört zu werden? Was heißt es für die Menschenrechte in Europa, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zentrale Bestandteile der Europäischen Menschenrechtskonvention schrittweise annulliert? Was sagt es aus über unsere Gesellschaft als Ganzes, wenn wir Notleidende, die erniedrigt, gequält und mit Gewalt außer Landes geworfen werden, mit den Worten abkanzeln: Selbst schuld. Es sind grundlegende Fragen, die das Urteil A.A. and others v. North Macedonia des EGMR aufwirft. Doch beginnen wir von vorne.

Der Fall: Die Zertrümmerung des „March of Hope“ 2016

Es war ein Akt der Verzweiflung. Am 14. März 2016 brachen rund 1.500 Menschen aus dem provisorischen Flüchtlingslager Idomeni in Nordgriechenland Richtung Nord-Mazedonien auf. Idomeni war infolge der Schließung der sogenannten „Balkanroute“ innerhalb kurzer Zeit zu einer improvisierten Zeltstadt mit 10.0000 Bewohnern angeschwollen, die im Regen und Schlamm unter unmenschlichen Bedingungen campten. Um diesem „Anschlag auf die Menschlichkeit“ (© Norbert Blüm, ehemaliger Arbeitsminister der CDU) zu entfliehen, traten einige der Notleidenden den „March of Hope“ an – eine euphemistische Bezeichnung für die Gruppe aus durchfrorenen, schlammverklebten Menschen, die einen reißenden Grenzfluss überquerten – nur um wenig später von nord-mazedonischen Sicherheitskräften eingekesselt zu werden. „Sie ließen uns eine Nacht bei Regen und Kälte im Freien ausharren“, erklärt Dyana, die mit ihrer Familie aus Aleppo geflohen war. „In der Früh drohten sie uns mit ihren Hunden und Waffen und drängten uns nach Griechenland zurück.“

Im Herbst 2016 erhob Dyana gemeinsam mit sieben weiteren Beschwerdeführer*innen, darunter einem Rollstuhlfahrer, Beschwerde vor dem EGMR. Die Sicherheitskräfte hätten gleich in zweifacher Weise gegen die europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen: gegen das Verbot der Kollektivausweisung (Artikel 4 des Zusatzprotokolls 4) sowie gegen das Recht auf wirksame Beschwerde (Artikel 13). Eine klare Sache, möchte man meinen. Die Abriegelung der mazedonischen Grenze ist ebenso gut dokumentiert wie der Massenpushback. Rechtsmittel dagegen standen den Menschen nicht offen. Von daher erhofften sich die Beschwerdeführer*innen, die das Verfahren gemeinsam mit dem Brot für die Welt-Partner ECCHR (European Center for Constitutional and Human Rights) angestrebt hatten, eine klare Verurteilung Mazedoniens – und ein deutliches Signal an andere Länder wie Kroatien, Polen oder Griechenland, dass (Massen-)Pushbacks illegal seien und vom EGMR nicht geduldet würden.

Das Urteil: Die Verantwortung tragen die Entrechteten

Doch es kam anders. Nach fünfeinhalb Jahren urteilten die Richter*innen des EGMR, Nord-Mazedonien hätte die betreffenden Rechte der EMRK nicht verletzt. Zwar leugnet das Gericht nicht den Tatbestand des Massenpushbacks. Doch es argumentiert, die Menschen hätten sich selbst in diese Situation gebracht. Ihnen hätte, so die übereinstimmende Meinung aller Richter*innen, ja die Möglichkeit offen gestanden, sich an die offiziellen Grenzübergänge zu begeben und dort legal Asyl zu beantragen. Stattdessen hätten sie sich entschieden, illegal die Grenze zu überqueren. Also selbst schuld.

Die Argumentation des EGMR ist einfach. Und sie ist einfach falsch. Denn die nord-mazedonischen Grenzen waren zu diesem Zeitpunkt völlig dicht. Die EU-Mitgliedsländer, allen voran Österreich, hatten die Balkanstaaten zu diesem Schritt gedrängt, denn „die Zeit des Durchwinkens“ sei nun vorbei. Mit Erfolg: zwischen dem 8. März und 21. September 2016 wurde kein einziger Asylantrag in Nord-Mazedonien registriert. Es war zum Zeitpunkt der Massenpushbacks nicht möglich, in Nord-Mazedonien um Asyl anzusuchen. Punkt. Das Urteil des EGMR – es basiert auf einer Fiktion.

Die Analyse: Auf dem Spiel steht mehr als das Verbot der Kollektivausweisung

Carsten Gericke - Hamburger Anwalt, der seitens des ECCHR Dyana und die anderen Beschwerdeführer*innen vertritt – steckt das Urteil des EGMR bei unserem Gespräch noch spürbar in den Knochen. „Es ist ernüchternd, dass der Gerichtshof, der für sich in Anspruch nimmt, die praktische und effektive Umsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zu garantieren, derzeit immer neue und restriktivere Regeln dafür aufstellt, um dann zu argumentieren: Ja, eine Kollektivausweisung liegt vor. Ja, den Schutzsuchenden wurde jedes Recht auf ein individuelles Verfahren und Rechtschutz verweigert. Aber eine Verletzung des menschenrechtlichen Verbots der Kollektivausweisung können wir trotzdem nicht feststellen.“

Bereits in den Vergangenen Jahren hatte der EGMR Pushbacks in Spanien unter bestimmten Bedingungen für legitim erachtet. Das Urteil von Dienstag reiht sich darin ein, dreht die Schraube aber noch weiter. „Es reicht dem Gerichtshof nun scheinbar, dass es irgendwo einen Grenzposten gibt, wo Menschen auf der Flucht theoretisch einen Asylantrag stellen können“, so Gericke. „Ob dies auch faktisch möglich ist, spielt wohl keine Rolle mehr. Warum sollte ein Rollstuhlfahrer den unglaublich beschwerlichen Weg durch nasse Felder, überschwemmte Wiesen und einen reißenden Grenzfluss wählen, um nach Mazedonien zu gelangen, wenn er auch – wie der Gerichtshof annimmt – zum nächsten Grenzübergang hätte gelangen können, um Asyl zu beantragen? Das Urteil ist aus meiner Sicht rechtlich nicht konsistent, und verkennt auch die damalige Situation vor Ort. Denn nach der angeordneten Schließung des humanitären Korridors am 8. März 2016 waren die Grenzübergänge für Geflüchtete ausnahmslos geschlossen. Hierauf hatten wir im Verfahren explizit hingewiesen und auch entsprechende Statistiken vorgelegt.“ Mit dem Urteil von Dienstag setzt der EGMR ein klares Signal aus: Wir fahren den Menschenrechtsschutz zurück. Es ist die Politik, die an den EU-Außengrenzen diese Entwicklung angestoßen hat. Dass ihr der EGMR nun so willfährig folgt, ist ernüchternd – und wohl auch eine Folge des politischen Drucks seitens rechter Regierungen.

Brot für die Welt fordert: Die Rechte von Menschen auf der Flucht müssen gewahrt bleiben

„Wir wollen doch nur, dass wir Rechte haben“, erkärt Dyana unter Tränen in einer Videobotschaft nach der Urteilsverkündung. Genau dieses basale Recht, Rechte zu haben, stellt der EGMR für die Betroffenen des Massenpushbacks von 2016 mit seinem jüngsten Urteil in Frage. Wer die kollektive Zurückweisung von Menschen für zulässig erklärt, annulliert zugleich das Recht der Betroffenen, im Rahmen der Pushbacks als individuelle Inhaber von Rechten behandelt und angehört zu werden. Die fehlende Artikulationsmöglichkeit der Einzelperson – die Abwesenheit der Möglichkeit, ihre Rechte geltend zu machen – sie wird mit der Duldung der Kollektivausweisung vom Gerichtshof legitimiert.

Was dies für laufende und zukünftige Versuche, mit Rechtsmitteln gegen Pushback anzukämpfen, bedeutet, ist noch offen. Ob Dyana und ihre Mitstreiter*innen Rechtsmittel gegen die Entscheidung einlegen werden, ebenso. Sicher ist, dass Brot für die Welt auch in Zukunft die Opfer von Pusbbacks unterstützten wird, ebenso wie die Arbeit des ECCHR und anderer Organisationen, die gegen diese Praxis ankämpfen. Unrecht darf nicht zu Recht werden.

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