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Aus Sicht der Opfer

Der 30. August ist der internationale Tag für die Opfer von gewaltsamen Verschwindenlassen. Im Interview gibt die mexikanische Journalistin Marcela Turati einen Überblick über aktuelle Herausforderungen und Prozesse zu diesem Thema in Mexiko.

Von Melanie Bleil-Rommé am

Die mexikanische Journalistin Marcela Turati beim Interview in Berlin, Juni 2019

In Mexiko gelten mehr als 40.000 Personen als verschwunden. Über die Schicksale der Verschwundenen und ihrer Familienangehörigen berichtet die Journalistin Marcela Turati seit mehr als 22 Jahren. Sie schreibt für investigative Zeitungen wie „El Proceso“ und begleitet Familienkomitees auf der Suche nach ihren Angehörigen und Gerechtigkeit. Mit anderen Journalisten gründete Marcela Turati die Webseite „Wohin gehen die Verschwundenen“, die umfassend über die Opfer und aktuelle Prozesse berichtet und gleichzeitig wichtige Informationen in bisher noch nie dagewesener Form zusammenträgt. Im Interview erklärt Marcela Turati, was Verschwindenlassen in Mexiko bedeutet und warum die aufklärerische Arbeit von Journalisten so wichtig ist.

Wie begann das Thema Verschwindenlassen in Mexiko bekannt zu werden?

1998 begann unter dem Präsidenten Vicente Fox die Aufarbeitung der ersten Fälle von Verschwindenlassen aus der Zeit des sogenannten „Schmutzigen Kriegs“ in Mexiko. Ich habe als Journalistin die ersten Ausgrabungen von Körpern und den Beginn der Suche nach Verschwundenen in den militärischen Basen begleitet. Damals gründeten sich auch die ersten Familienorganisationen. Die Mütter suchten nach ihren verschwundenen Kindern, die zwischen 1960 bis 1980 verschwanden. Sie waren in schwarz gekleidet und machten auf den Demonstrationen mit schwarz-weiß Fotos auf die unaufgeklärten Schicksale aufmerksam. Auf einer dieser Demonstrationen war auf einmal ein Foto in Farbe dabei. Es zeigte einen jungen Mann in Fußballtrikot. Seine Schwester sagte, er sei erst vor kurzem verschwunden und mischte sich unter die schwarz gekleideten Frauen – das war der erste aktuelle Fall von Verschwindenlassen, den ich wahrnahm.

Wer sind die Opfer des Verschwindenlassens?

Darüber fehlen uns noch viele Informationen. Manchmal sind es strategische Leute, wie zum Beispiel ein Journalist aus dem Bundesstaat Michoacán, der über den Diebstahl von wertvollen Mineralien berichtete, oder es sind die Leute, die für ihre Landrechte kämpfen. Aber es gibt auch ganz andere Gründe: im Bundesstaat Tamaulipas erzählten Überlebende, dass das Drogenkartell "Zetas", Reisebusse anhielt und die Kontakte auf den Handys der Passagiere durchsuchte. Wenn jemand eine Nummer aus einem bestimmten Bundesstaat gespeichert hatte, nahmen sie ihn mit, denn er könnte zu dem dort ansässigen, verfeindeten Drogenkartell gehören. Aber sie ließen auch junge Männer verschwinden, die sie für Arbeiten des Drogenkartells "rekrutieren" wollten. Es können also auch ganz absurde Gründe sein, wie ein Tattoo, dein Autokennzeichen oder einfach die in den Augen der Kartelle „falsche Uhrzeit", um auf der Straße zu sein.

Bis heute verschwinden Menschen in Mexiko. Wie entwickelte sich die derzeit hohe Aufmerksamkeit für das Thema?

2006 rief Präsident Calderón den „Krieg gegen die Drogen“ aus. Ich und alle anderen Medien waren damit beschäftigt, über die Zahl der Toten im ganzen Land zu berichten. In meinen Berichten stellte ich vor allem die Opfer der Gewalt in den Mittelpunkt. Die Berichte von Opfern zu Fällen von Verschwindenlassen wurden immer mehr. Erst da bemerkten wir als Journalisten das Ausmaß des Phänomens. Es war damals aber längst nicht bekannt. 2010 begannen die ersten Workshops zur psychosozialen Begleitung der Familienangehörigen von Verschwundenen durch die zivilgesellschaftliche Organisation SERAPAZ. Aus den gestärkten Familienkomitees entwickelte sich ein paar Jahre später die „Nationale Bewegung für unsere Verschwundenen in Mexiko“. Die landesweite Bewegung hat eine politische Agenda entwickelt, die vom aktuellen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador zumindest teilweise aufgenommen wird.

Was sind weiterhin die größten Hindernisse für ein Ende des Verschwindenlassens?

Das sind viele, vor allem strukturelle. Straflosigkeit auf verschiedenen Ebenen – eine fehlende schnelle Antwort seitens der Regierung, die Angst die Fälle zur Anzeige zu bringen, die Zusammenarbeit von Polizei und organisiertem Verbrechen, fehlende strafrechtliche Verfolgung und ausbleibende Suche. Es fehlt weiterhin an Prävention. Zum Beispiel verschwanden 2011 einige Monate lang auf bestimmten Straßen in Tamaulipas an den immer gleichen Stellen Menschen. Die Reisebusse kamen nur mit Frauen, Kindern und älteren Menschen und den Reisekoffern an der Grenze an. Das Drogenkartell „Zetas“ zwang die männlichen Passagiere auszusteigen. Obwohl es immer wieder Berichterstattungen in den lokalen Medien dazu gab, versuchte die Regierung die Fälle zu vertuschen. Niemand aus der Regierung warnte die Menschen davor zum Beispiel in bestimmte Reisebusse zu steigen. Man hätte viele Menschen retten können, doch es wurde nichts unternommen. Wir wissen nicht mal wie viele Menschen wirklich verschwunden sind und immer noch verschwinden, weil es zu viele Datenbanken gibt, die nicht miteinander zusammenhängen. Das liegt auch am bisherigen Desinteresse der staatlichen Behörden das Thema ernst zu nehmen und zu kontrollieren. Es verschwinden weiterhin Menschen und es scheint kein Ende zu nehmen.

Waren das Desinteresse der staatlichen Behörden die Motivation zur Gründung einer eigenen Webseite zum Verschwindenlassen?

Ich habe eine Webseite gegründet, die sich speziell mit dem Verschwindenlassen von Mexikaner*innen und von Migrant*innen beschäftigt. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit ist seit langer Zeit der Fall von San Fernando, bei dem im Jahr 2010 72 Migrant*innen ermordet wurden. Besonders Migrant*innen sind den Drogenkartellen schutzlos ausgeliefert. Es gibt kaum ein Register darüber, weil die Familienangehörigen in Zentralamerika zu wenig Informationen haben. Aber auch in Mexiko sind die Informationen für die Familienangehörigen nur schwierig zu sichten und zu systematisieren.

Auf der Webseite „Wohin gehen die Verschwundenen“ habt Ihr eine eigene Karte mit Gräbern erstellt. Wie seid Ihr darauf gekommen?

Es gab keine verlässlichen Daten zu Gräbern, außer bei der Nationalen Menschenrechtskommission und von einer Universität. Doch diese Daten beruhen unter anderem auf Zeitungsinformationen. Wir wollten aber verlässliche Fakten haben, denn die Identifizierung der Toten in den Gräbern könnte viele Fälle von Verschwindenlassen aufklären. Aber es fehlen so viele Informationen. Wir mussten immer wieder Datenbanken durchsuchen, um an verlässliche Daten zu kommen. Doch diese ändern sich immer wieder, weil die Informationen von der jeweiligen Verwaltung verändert und neu klassifiziert werden.

Wie seid Ihr an verlässliche Informationen zu den Gräbern gekommen?

Zunächst glaubten wir, wir könnten uns einfach ins Auto setzen und zu den Gräbern fahren. Doch direkt beim ersten Massengrab sagten sie uns, dass wenn wir dort reingingen, nicht mehr lebend rauskommen würden. Da wurden wir uns über die Gefahr und Absurdität unseres Vorhabens bewusst. Ebenso wurde uns deutlich, dass viele Gräber noch immer aktive Schauplätze der Kriminalität sind. Selbst wenn an einem Tag Körper beispielsweise von der Polizei gefunden werden, kommen am nächsten Tag weitere hinzu. Es sind streng kontrollierte Orte, zu denen Familienangehörige oder die Polizei nur punktuell Zutritt bekommen. Dann beschlossen wir die einzelnen Staatsanwaltschaften in den Bundesstaaten nach ihren Daten zu befragen. Das war ein sehr schwieriger Prozess, der damit anfing, dass wir lernen mussten, wie in die einzelnen Bundesstaaten die Gräber und Überreste bezeichnet werden. Es dauerte Monate bis wir unsere Informationen zusammen hatten.

Zeigt die Karte denn alle Informationen vollständig an?

Es sind nicht alle Gräber und Funde auf der Karte dargestellt.  Es gibt Probleme wie im Bundesstaat Guerrero , wo die Behörden seit fünf Jahren kein Register der Gräber führen; in anderen Bundesstaaten zählen sie nur die Gräber rund um die Hauptstadt. Manchmal hat die Staatsanwaltschaft einfach behauptet, es gäbe keine, obwohl wir wissen, dass Gräber existieren. In anderen Fällen ist die Informationsbeschaffung schlicht zu gefährlich.

Wem nutzen die zusammengetragenen Informationen zu den Gräbern?

Die Karte nutzt, um Vertuschung von offiziellen Daten vorzubeugen, Ermittlungen zu erleichtern, und die Rechte von Familienangehörigen einzufordern. Journalist*innen nutzen die Karte, um staatliche Informationen in ihren Bundesstaaten abzugleichen und auf Falschmeldungen aufmerksam zu machen. Die Familienangehörigen reklamieren bei den zuständigen Staatsanwaltschaften, dass sie nicht über bestimmte Gräber informiert wurden, obwohl diese das Grab bereits offiziell registriert hat und Körper aufgefunden wurden. Sie tun dies in der Hoffnung, dass unter den Funden ihre Verschwundenen sind. Auch die neue mexikanische Regierung nutze die Karte, um ihre erste Zählung der aufgefundenen Gräber von Januar bis Mai 2019 damit abzugleichen. Sie nahm diese Karte als Ausgangsbasis und nicht die der Nationalen Menschenrechtskommission. Zudem können Ermittler die Karte nutzen, denn sie zeigt Gräber und Funde der letzten zehn Jahre nach Bundesstaaten geordnet auf. Die Visualisierung hilft. So kann man bestimmte Logiken, wie Korridore und Routen des Verschwindenlassens zu bestimmten Zeiten erkennen.

Wird sie noch weiterentwickelt werden?

Ja, wir wollen noch historische Daten einspeisen. Dann könnte man erkennen, wann zum Beispiel noch ganze Körper in den Gräbern fand und ab wann sie verbrannt oder in Säure aufgelöst wurden. Damit kann man bestimmten, welche Methoden wann angewendet wurden und sie bestimmten Drogenkartellen zuschreiben. Außerdem soll sie von 2016 bis auf 2018 aktualisiert werden. Und es gibt noch viele weitere offene Fragen.

Wo bestehen noch blinde Flecken bei der Aufarbeitung des Verschwindenlassens in Mexiko?

Von Indigenen wissen wir sehr wenig. Beispielsweise weiß ich von einem Dorf des Bundesstaats Querétaro, aus dem die Männer immer wieder in den Norden fuhren um in den USA zu arbeiten und verschwanden. Doch die Fälle wurden nicht angezeigt. Daher wissen wir viel zu wenig, was in indigenen Gemeinden passiert. Auch Regionen, über die es kaum Berichterstattung gibt, sind betroffen. Beispielsweise werden Indigene aus der Sierra Tarahumara im Norden versklavt, ermordet und verschwundengelassen. Vor kurzem fuhr ich in ein Dorf bestehend aus nur 90 Häusern. Neun Männer aus diesem Dorf waren verschwunden. Ein massiver Einschnitt und eine Tragödie für das Dorf. Über alles was in ländlichen Gebieten geschieht, wissen wir viel zu wenig.

Für ihre konsequente Berichterstattung aus Sicht der Opfer wird Marcela Turati am 16. Oktober 2019 der Maria Coors Carbot-Preis der Columbia Universität verliehen. Wir gratulieren ihr herzlich dazu!

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