Die Europäische Union steckt in einer Krise. Die Auseinandersetzungen, die angesichts der Aufnahme und dem Umgang mit Schutzsuchenden aus den Krisenregionen des Nahen Ostens und Afrikas, seit Monaten die politische Agenda dominieren und blockieren, fördern deutlich zutage, dass die Nationalstaaten uneins sind. Die europäische Idee und gemeinsames Problemmanagement rangieren im Abseits. Bemühungen die Staaten an der südlichen europäischen Außengrenze bei der Aufnahme Geflüchteter zu unterstützen und durch Relocation zu entlasten, sind bekanntlich ins Stocken geraten, bevor sie überhaupt in Gang kamen. In Griechenland fehlt es an allen Ecken und Enden an Personal, um die Registrierung der Ankommenden vorzunehmen, ihnen Übersetzer an die Seite zu stellen und ein Asylgesuch aufnehmen zu können. Stattdessen stecken tausende Schutzsuchende in humanitären Notsituationen, die in der Europäischen Union im Jahr 2016 eigentlich schon längst überwunden und nicht mehr vorstellbar schienen. Hunger, Durst, fehlende Sanitäranlagen sind aber in den Hotspots in denen ca. 8000 Menschen teils in Gefängnis ähnlichen Situationen ausharren, keine Ausnahmen. Aus den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist trotz der anhaltenden Dramatik außer Lippenbekenntnissen kaum effektive Unterstützung zu erwarten.
Ein starker Unwille gegenüber einer grundlegend neu ausgerichteten Migrationspolitik, Dissens untereinander und die Unfähigkeit der Mitgliedstaaten die Schutzverantwortung innerhalb Europas fair zu schultern, führt dazu, dass die Europäische Union ihre Handlungsfähigkeit nach außen unter Beweis stellen möchte.
Als externe Dimension der Migrationspolitik wird diese Politik bezeichnet, die mittels politischem Dialog und konkreter Zusammenarbeit mit Nicht-EU Staaten zur Migrationskontrolle verfolgt wird. In den letzten Monaten und Wochen sind immer wieder und häufiger menschenrechtlich fragwürdige Aspekte der externen Dimension der Migrationspolitik bekannt geworden.
Da ist einerseits das Abkommen mit der Türkei, dessen Kern darin besteht, dass viel Geld fließen und Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger vergeben werden, wenn im Gegenzug die Flucht über die Ägäis unterbunden und reguliert wird. Zusätzlich bestehen zahlreiche Vereinbarung und Projekte mit Regierungen afrikanischer Staaten und unmittelbaren Nachbarregionen der EU. Ganze Staaten werden als sicher erklärt. Sie sollen für Menschen, die in der EU unerwünscht sind, in den sicheren Herkunfts- und Drittstaaten den benötigten Schutz gewähren.
Der politische Dialog mit den jüngst noch als Schmuddelkindern geltenden Staaten der internationalen Gemeinschaft wird intensiviert. Libyen, Niger und Sudan, selbst Eritrea, die viele Jahre politisch ausgegrenzt waren, zählen zu den Schlüsselländern der europäischen Kooperation mit Afrika. Um den „Zustrom“ der Menschen zu verhindern, so die eigennützige Logik, muss er umgeleitet, aufgestaut und unterbrochen werden. Zwar soll den Menschen dort, wo sie zu Flüchtlingen werden, geholfen werden. Die Regierungen solcher Staaten werden jedoch durch die partnerschaftlichen Absichtserklärungen und Projektvorhaben hofiert und höchstens leidlich dazu angehalten, den Schutz von Menschenrechten zu verbessern und zu garantieren.
Die Europäische Union hat den Friedensnobelpreis erhalten, weil ihre politische Vision nachhaltiger Frieden ist – nicht auf Abschreckung und Konditionalisierung setzende Sicherheitspolitik bei wachsender Unsicherheit und Spannung im inneren.
Statt der oft planlos wirkenden Aktionspläne und kurzfristigen Reaktionen auf Migration und Flüchtlinge, die als Probleme für die eigene Sicherheit begriffen werden, sollten die globalen Entwicklungsziele, wie sie in der Agenda 2030 formuliert sind, einen erkennbaren, kohärenten Referenzrahmen für alle Politikressorts der EU bilden – innen und außen. Die aktuelle europäische Politik widerspricht sich gerade dort, wo Entwicklungs- und Migrationspolitik kombiniert greifen sollen. Indem Grenzen militarisiert, Migranten und Flüchtlinge in Staaten gezwungen werden, in denen ihr Schutz nicht ausreichend gewährleistet ist oder an den Außengrenzen der Union sterben, weil es keine sicheren Zugangswege für ihr Asylgesuch gibt, verlagern und verstärken sich die Problemlagen. Völkerrechtliche Grundvereinbarungen werden missachtet, Prinzipien über Bord geworfen und Standards gesenkt, gleichzeitig fließen Milliarden von Euro in Grenzanlagen und Überwachungsgerät. Eine solche Politik ist gefährlich und schafft Unsicherheit. Weltweit findet sie Nachahmer und Vorbilder. Das „australische Modell“ etwa oder Israels Umgang mit Flüchtlingen aus Afrika oder die US-amerikanische Politik an der Grenze zu Mexiko. Dabei verfehlen die Konzepte allesamt das Ziel, Flucht zuvorzukommen. Denn solange lediglich Fluchtwege versperrt werden und der Vollzug von Rückübernahmeabkommen im Fokus der Politik stehen, statt der Gründe, die Menschen zu Flüchtlingen machen, kann nicht erwartet werden, dass tatsächlich ein sinnvoller Beitrag zur Problemlösung geleistet wird. Ebenso wenig ist es möglich glaubhaft nach außen die Einhaltung menschenrechtlicher Standards und die Aufnahme von Schutzsuchenden zu fordern, wenn innerhalb der Union solidarische Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen nicht möglich und das Sterben an den Außengrenzen inhumaner Alltag geworden ist.
Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union müssen sich auf ihre gemeinsame Vision besinnen. Um den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und Achtung der Menschenrechte gerecht werden zu können, müssen sie sich darauf konzentrieren, die Konflikte im inneren beizulegen. Aber auch die externe Dimension der Migrations- und die Entwicklungspolitik müssen diesen Normen folgen. Die Überwindung von Armut und Unrecht sollte vor den Eingriffen in die Migrationspolitik von Drittstaaten stehen.