Police officers detain a demonstrator during a protest against a partial mobilization in Moscow, Russia, Saturday, Sept. 24, 2022. (AP Photo)
Zentralasien und Europa

Ein Kontinent im Zeichen des Krieges

Der russische Angriff auf die Ukraine hat ganz Europa und Zentralasien geprägt. Aber auch unabhängig vom Krieg erlebte die Region Rückschritte bei Freiheitsrechten.

Überblick

In Europa und den angrenzenden zentralasiatischen Ländern dominiert im Jahr 2022 ein Thema: Russlands Einmarsch in das unabhängige Nachbarland Ukraine am 24. Februar 2022. Die Folgen sind weltweit spürbar. Mit großem Engagement sind zivilgesellschaftliche Organisationen in der Ukraine aktiv in der humanitären Versorgung, der psychosozialen Begleitung von vulnerablen Gruppen oder der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, um nur einige Bereiche zu nennen. Die Betreuung des großen Zustroms an Geflüchteten aus der Ukraine hält auch in den angrenzenden Staaten zivilgesellschaftliche Organisationen in Atem. Auch russische Aktivist:innen setzen sich angesichts allgegenwärtiger Repression in ihrem Land gegen den Krieg und gegen Menschenrechtsverbrechen im Nachbarland ein und nehmen damit hohe Risiken in Kauf. Viele russische Aktivist:innen und Journalist:innen arbeiten mittlerweile aus dem Exil.

Auch in anderen Ländern der Region brachte dieses Jahr einen weiteren Rückschritt im Umgang mit Freiheitsrechten. Die Regierungen von Kasachstan, der Türkei, Griechenland oder Tadschikistan wandten Gesetze an, die vorgeblich gegen Hasskommentare und Falschnachrichten im Netz gerichtet waren. Tatsächlich aber kamen sie vielerorts zum Einsatz, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Und unter dem Vorwand, Terrorismus und Extremismus bekämpfen zu wollen, behinderten dieselben Regierungen die Arbeit von NGOs, indem sie administrative Hürden errichteten, die schwer zu überwinden waren, und Geldströme regulierten.

Ein besonderes Augenmerk verdient in diesem Jahr Großbritannien, das CIVICUS in die Länder mit beschränkten Handlungsräumen herabgestuft hat. Verantwortlich dafür ist, dass im Zuge des Brexit Wirtschaftsinteressen sowie eine restrikrive Migrationspolitik zunehmend Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte außer Kraft setzen. Im vergangenen Jahr brachte die britische Regierung eine Reihe von Gesetzesänderungen auf den Weg, die zivilgesellschaftliches  Engagement einschränken. Hoffnungsvoll macht die große Hilfsbereitschaft: In vielen europäischen und zentralasiatischen Staaten wurde die Zivilgesellschaft für Menschen aktiv, die vor dem Krieg gegen die Ukraine fliehen mussten.

Im Fokus

Die ukrainische Zivilgesellschaft ist gestärkt aus dem seit 2014 andauernden Krieg in der Ostukraine hervorgegangen. Seit Beginn des Angriffs gegen die gesamte Ukraine im Februar 2022 leidet sie aber auch unter den physischen, psychischen und materiellen Folgen.

Als 2014 Bewohner:innen aus den Kriegsgebieten in der Ostukraine und von der Krim-Halbinsel im Schwarzen Meer flüchteten und zu Vertriebenen im eigenen Land wurden, half die Zivilgesellschaft ‒ Initiativen, Einzelne, NGOs ‒ überall dort, wo der Staat nichts tat. Der hohe Grad der Selbstorganisation und Vernetzung der zivilen Bevölkerung und die enge Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und lokalen Selbstverwaltungen war die Voraussetzung dafür, dass die Ukraine die ersten Tage nach dem 24. Februar 2022 überhaupt überstand. Menschen nehmen seitdem Flüchtende auf, lokale Initiativen verteilen Hilfsgüter, NGOs schützen die besonders vulnerablen Menschen. Ein Verbund von Menschenrechtsorganisationen dokumentiert im Rahmen der gemeinsamen Initiative „Tribunal for Putin“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen wie gezielte Hinrichtungen und Fälle von Folter und sexueller Kriegsgewalt in den  zurückeroberten Gebieten.

Mit der Verhängung des Kriegsrechts hat das ukrainische Parlament die Demonstrations- und Meinungsfreiheit eingeschränkt. Die große Geschlossenheit von Bevölkerung und
Regierung im Kampf gegen den Aggressor hat die kritische Distanz der Zivilgesellschaft zur Regierung verringert. Zuvor eingeforderte oder begleitete Reformvorhaben und Entwicklungen geraten aktuell teilweise in den Hintergrund.

Im Innern hat die russische Regierung die Repressionen gegen die Zivilgesellschaft weiter verschärft. Wer protestiert, landet im Gefängnis.

Das „Agentengesetz“ schränkt bereits seit 2012 die Arbeit der kritischen Zivilgesellschaft und unabhängigen Medien gezielt ein und trocknet ihre Finanzierung aus. Im vergangenen Jahr wurde es auf Einzelpersonen ausgeweitet. Die größte unabhängige NGO Russlands Memorial wurde Ende 2021 vom Obersten Gericht Russlands verboten, der Dachverband ebenso wie alle Regionalorganisationen. Kritische Berichterstattung ist in Russland nicht mehr möglich. Die Mehrheit der unabhängigen Journalist:innen ist im Exil.

Jene, die in Russland geblieben sind, leben unter ständiger Bedrohung: Laut Reporter ohne Grenzen saßen Anfang 2023 17 Journalist:innen in Haft. Unabhängige Medien im Exil wie die Internet-Zeitung Meduza werden zu „unerwünschten Organisationen“ erklärt, Proteste gegen die Regierung oder gar den Krieg werden ebenfalls per Gesetz unterbunden. Wer demonstriert, dem droht Haft; das Wort „Krieg“ steht unter Strafe. Allein zwischen dem 24. Februar und dem 20. März 2022 wurden 14.906 der mehr als 100.000 protestierenden Russ:innen festgenommen.

Beobachter:innen attestieren Georgien deutliche Rückschritte bei der Demokratisierung des Landes, auch bei den zivilgesellschaftlichen Räumen. 

Der Oligarch Bidsina Iwanischwili ist der reichste Mann Georgiens. Seitdem die von ihm 2020 gegründete Partei Georgischer Traum die Wahlen gewonnen hat, nimmt er ohne politisches Amt großen Einfluss auf die Politik des Landes. Regierung wie Opposition polarisieren die Gesellschaft und blockieren sich gegenseitig. Die Regierung ließ westliche Diplomat:innen abhören und politische Gegner:innen verhaften ‒ auch der ehemalige Präsident Michail Saakaschwili sitzt in Haft. Sein schlechter Gesundheitszustand hat international Sorge ausgelöst. Im Jahr 2021 griff ein gewalttätiger Mob  Aktivist:innen bei der Pride Week an, nachdem die orthodoxe Kirche zu Protesten aufgerufen hatte. Ein Reporter wurde ebenfalls angegriffen und erlag später seinen Verletzungen.

Bis heute wird der Gerichtsprozess von höherer Seite verschleppt und verhindert. 2022 demonstrierten allein in Tiflis mehr als 35.000 Menschen für einen stärkeren proeuropäischen Kurs und den Rücktritt der Regierung. Die aktuelle Regierung hat ein großes Interesse an besseren Handelsbeziehungen zur EU. In Fragen der Rechtsstaatlichkeit macht sie jedoch keinerlei Fortschritte ‒ die wäre ein wichtiges Kriterium für die Auf- nahme in die Europäische Union.

Lange Zeit hatte sich Kirgisistan in Richtung einer parlamentarischen Demokratie entwickelt. Inzwischen zeigt es zunehmend autoritäre Tendenzen. 

„Inselchen der Demokratie“ inmitten autoritärer Systeme wurde Kirgisistan einst genannt, nachdem die Sowjetunion zusammengebrochen war. Das ist lange her. Präsident Sadyr Dschaparow hatte im Jahr 2021 direkt nach seiner Wahl eine Verfassungsänderung angekündigt: Heute hat Kirgisistan ein präsidiales Regierungssystem, in dem Dschaparow über fast uneingeschränkte Exekutivgewalt verfügt. Nach der Einschätzung internationaler Expert:innen können Justiz und Parlament nicht mehr unabhängig von ihm agieren. Darüber hinaus ist das Leben in Kirgisistan von Korruption, mächtigen Clans und einer zunehmend größer werdenden Spaltung zwischen einer reichen Elite und der restlichen Bevölkerung geprägt.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung wird beschnitten; Journalist:innen werden eingeschüchtert. Exemplarisch dafür ist das Vorgehen der Regierung gegen den Sender Radio Azattyk: Sie drängte darauf, ein Video über den kirgisisch-tadschikischen Grenzkonflikt von September 2022 zu entfernen, da dieses „parteiisch“ sei. Die Regierung berief sich dabei auf das Fake-News-Gesetz von 2021, das es der Regierung erlaubt, ungenaue Medienberichte zu entfernen. Die Schließung des Radiosenders wurde eingeleitet, die Webseiten gesperrt und die Bankkonten eingefroren. Auch die Zivilgesellschaft wird immer stärker kontrolliert: Aktuell ist ein NGO-Gesetzespaket nach russischem Vorbild in Vorbereitung. Die OSZE kritisiert es in einer Stellungnahme als inkompatibel mit geltenden Menschenrechtsstandards.

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