A view of dummies in a street to signify women who are suffering because of Poland's restrictive abortion law and a proposal for further restrictions, during a demonstration in front of parliament, in Warsaw, Poland, Tuesday, Nov. 30, 2021. Women’s rights activists used red paint symbolizing blood to protest a government plan to register every pregnancy in a national database and a proposal to further restrict abortion. The activists fear the database will allow authorities to track whether pregnancies end in a birth. Poland last year restricted its already conservative abortion law and abortions are now only allowed in cases of rape or incest, of if the woman’s life or health is in danger. (AP Photo/Czarek Sokolowski)
Zentralasien und Europa

Abnehmender Respekt

In Europa und Zentralasien setzt sich die Missachtung bürgerlicher Grundfreiheiten fort ‒ auch in etablierten Demokratien.

Überblick

In den Ländern Europas und Zentralasiens wird der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft zunehmend kleiner. Von den 54 Ländern der Region stuft CIVICUS die Zivilgesellschaft in nur 19 als „offen“ ein, in 21 als „beeinträchtigt“, in sieben als „beschränkt“, in drei „unterdrückt“ und in vier „geschlossen“. Besonders bemerkenswert in Europa: Selbst etablierte Demokratien wie Frankreich und Großbritannien haben in den zurückliegenden Jahren Gesetze erlassen, die Grundfreiheiten bedrohen. In Zentralasien schränken Regierungen den ohnehin begrenzten Spielraum für die Zivilgesellschaft immer weiter ein, etwa indem sie Journalistinnen und Menschenrechtsverteidiger schikanieren.

Die Absteiger

Gleich drei EU-Mitglieder sind herabgestuft worden: Belgien und Tschechien jeweils von „offen“ zu „beeinträchtigt“, Polen von „beeinträchtigt“ zu „beschränkt“. Der vierte Absteiger der Region ist Belarus.

Präsident Lukaschenko holte Ende 2021 Geflüchtete aus Irak und Syrien ins Land und ließ sie an die Grenze zur EU transportieren, um Druck aufzubauen. Infolge von Kälte und Hunger starben etliche Migranten. Die Behörden drangsalierten außerdem Hunderte Demonstrierende und Journalistinnen, ließen sie inhaftierten und Anklage erheben. Einige von ihnen wurden misshandelt oder gefoltert. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat und Lukaschenko-Gegner Viktor Babariko wurde zu einer Haftstrafe von 14 Jahren verurteilt. Zivilgesellschaftliche Organisationen und Medien wurden aufgelöst und Gesetze geändert, um Bürger davon abzuhalten, sich zu organisieren, und Journalistinnen an der Berichterstattung zu hindern. Viele Oppositionelle und Mitarbeitende von zivilgesellschaftlichen Organisationen haben das Land verlassen und versuchen, ihre Arbeit im Exil fortzusetzen. Doch der Arm des Regimes ist lang, wie der Fall des Regierungskritikers und Bloggers Roman Protasewitsch zeigt. Er war während eines Linienflugs von Athen nach Vilnius bei einer vorgetäuschten Notlandung in Minsk 2021 verhaftet worden und sitzt seitdem im Gefängnis.

Die Herabstufung Belgiens geht in erster Linie auf das harte Vorgehen der Polizei gegen friedliche Versammlungen zurück. Zwischen November 2020 und Januar 2021 reagierte sie auf drei Proteste gegen Diskriminierung und soziale Ungleichheit mit übermäßiger Gewalt ‒ sogar scharfe Munition kam zum Einsatz. Polizistinnen und Polizisten sollen auch rassistische Beleidigungen geäußert sowie Schläge und Würgegriffe eingesetzt haben. Hunderte Demonstrierende wurden festgenommen, auch Minderjährige. Zur Durchsetzung von Pandemie-Maßnahmen setzte die belgische Polizei außerdem Wasserwerfer und Tränengas ein, insbesondere gegen Angehörige ethnischer Minderheiten.

Auch in Polen werden Grundfreiheiten beschnitten: Seit ihrem Amtsantritt 2015 trieb die Regierungspartei PiS eine Justizreform voran, die die Gewaltenteilung unterminiert. Nun nutzt sie die von ihr kontrollierte Justiz, um ihre gesellschaftspolitische Agenda durchzusetzen. So verschärfte etwa im Oktober 2020 das Verfassungsgericht die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs. Frauen, die dagegen protestierten, wurden strafrechtlich verfolgt. Viele wurden mit Mord und Vergewaltigung bedroht. Auch andere Gruppen sind in Bedrängnis geraten: Mit einem Ende 2021 eingebrachten Gesetzentwurf sollten Veranstaltungen der LSBTI-Community verboten werden, um „homosexuelle Propaganda im öffentlichen Raum“ zu stoppen. Im Herbst 2021 machte Polen außerdem Schlagzeilen damit, die Grenze zu Belarus von der Öffentlichkeit abzuschirmen und so die Arbeit von Journalisten und Menschenrechtsorganisationen zu behindern.

Tschechiens Herabstufung ist vor allem Ausdruck davon, dass die Unabhängigkeit der Medien in Gefahr gerät. Im Mai kündigte das Büro des Präsidenten Miloš Zeman in einem Statement mit der Überschrift „Kampf gegen Falschinformationen“ nicht nur an, mehreren Investigativ-Medien keine Informationen mehr zur Verfügung zu stellen. Auch an einer gemeinsamen Pressekonferenz des scheidenden Ministerpräsidenten und Milliardärs Andrej Babiš, dessen Name in den „Pandora Papers“-Recherchen auftauchte, und des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán durften bestimmte Journalisten nicht teilnehmen. Zudem versuchte die Politik, durch Personalentscheidungen oder direkte Einflussnahme Inhalte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zu steuern. Immer mehr Medien gehören außerdem Geschäftsleuten oder Politikerinnen.

Wo Menschen festgenommen wurden

Die häufigste Grundrechtsverletzung in Zentralasien und Europa waren 2021 Verhaftung von Demonstrierenden und Gewalt durch Sicherheitskräfte und Behörden. Sie wurden in 36 Ländern dokumentiert. Besonders betroffen davon waren Gruppen, die sich für die Rechte von Frauen, LSBTI-Personen, Klimaschutz oder Arbeitnehmerrechte einsetzten. Zahlreiche junge Erwachsene gerieten allein deswegen in Gefahr, weil sie von ihrem Versammlungsrecht Gebrauch machten.

In Frankreich demonstrierten im Januar über 200.000 Menschen gegen das „Gesetz zur globalen Sicherheit“. Menschenrechtsorganisationen berichteten von 13.000 Verhafteten, darunter Minderjährige.

In Großbritannien gab es zahlreiche Proteste gegen ein Gesetz, das als „Policing Bill“ bekannt wurde: Es gibt der Polizei mehr Befugnisse, um Proteste zu unterbinden. Bei den #KillTheBill-Protesten in Bristol ging die Polizei gewaltsam vor und verhaftete 78 Demonstrierende. Auch bei Protesten gegen Rassismus und für Klimaschutz kam es wiederholt zu Festnahmen.

In Russland kam es zu Massenprotesten und Solidaritätsbekundungen, nachdem Oppositionsführer Alexej Nawalny, der 2020 ein Attentat überlebt hatte, nach Russland zurückgekehrt und am Flughafen festgenommen worden war. Im Februar 2021 wurde er wegen vermeintlicher Verstöße gegen Bewährungsauflagen zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, was weitere Proteste auslöste. Berichten zufolge wurden zwischen Januar und Februar in 125 Städten mehr als 11.000 Menschen festgenommen und mehr als 9.000 Zivil- und 90 Strafverfahren gegen Demonstrierende eingeleitet, die die Freilassung von Nawalny gefordert hatten. Nawalnys Bewährungsauflagen waren das Ergebnis eines Gerichtsverfahrens, das der Europäische Gerichtshof für unfair und willkürlich erklärt hat. Protest gab es zum Ende des Jahres auch gegen die vom Obersten Gericht der Russischen Föderation verhängte Zwangsauflösung von Memorial International, der ältesten Menschenrechtsorganisation des Landes. Sie wurde im Januar 1989 unter anderem vom Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow gegründet.

In der Türkei protestierten Tausende Studierende der Istanbul Boğaziçi-Universität gegen die Ernennung eines neuen Rektors, der als Vertrauter des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gilt. Sicherheitskräfte reagierten auf die Proteste mit Tränengas, Gummigeschossen und Wasserwerfern. Zu solchen Ausschreitungen kam es auch, als die türkische Bevölkerung gegen den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention protestierte, die Konvention will Gewalt gegen Frauen unterbinden.

Wo Gesetze die Zivilgesellschaft einschränkten

2021 hat CIVICUS in mindestens 32 Ländern in Europa und Zentralasien die Verabschiedung restriktiver Gesetze dokumentiert. Einige schränkten Grundrechte ein, um die Folgen der COVID-19-Pandemie abzumildern. Andere zielten darauf ab, die Freiheit der Medien oder die Versammlungsfreiheit zu beschränken.

Im Juli 2021 verabschiedete die Nationalversammlung Frankreichs trotz massiven Widerstands der Zivilgesellschaft das sogenannte „Separatismusgesetz“: Es erlaubt den Behörden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich nicht an die „Grundsätze der französischen Republik“ halten, die öffentliche Finanzierung zu entziehen. Kritikerinnen befürchten, dass es unter anderem zu einer verstärkten Kontrolle von Religionsgemeinschaften führen wird. Bereits im April 2021 hatte das Parlament das „Gesetz für globale Sicherheit“ beschlossen: Damit kann etwa das Filmen bestimmter Polizeieinsätze unter Strafe gestellt, aber der Einsatz von Drohnen zur Überwachung erlaubt werden.

In der Türkei wurde Ende 2020 ein neues Gesetz verabschiedet, dass die Finanzierung von „Terrorismus“ bekämpfen will. Es erlaubt der Regierung, beispielsweise Spendenkampagnen von zivilgesellschaftlichen Organisationen zu blockieren oder ihre Vorstände durch Treuhänder zu ersetzen.

In Ungarn verabschiedete die Regierung von Viktor Orbán inmitten der Pandemie Gesetze, die LSBTI-Rechte einschränken, darunter Verbote von LSBTI-Medien, -Werbung und -Informationsmaterial, sowie neue Vorschriften, die Geschlechtsidentitäten rigide definieren.

Was sich zum Guten verändert hat

Trotz vieler alarmierender Entwicklungen gibt es auch hoffnungsvolle Signale und Fortschritte.

In Dänemark lehnte das Parlament nach vehementem Protest der Bevölkerung gegen das Gesetz „Sicherheit für alle Dänen“ eine entscheidende Klausel daraus ab. Diese hätte der Polizei erlaubt, an bestimmten Orten wie Parks oder Straßen an bis zu 30 Tagen im Jahr Versammlungen zu verbieten.

In Rumänien beschloss die Regierung auf Druck der Zivilgesellschaft Gesetzesänderungen, die die bürokratischen Verfahren für zivilgesellschaftliche Organisationen erheblich vereinfachen. Im Januar trat zudem ein Gesetz in Kraft, das Hassverbrechen gegen die Roma-Gemeinschaft unter Strafe stellt.

Mitte November 2021 entschied der Europäische Gerichtshof, dass die Androhung von Haft für Personen, die Asylbewerber in Ungarn bei ihrem Asylantrag unterstützen, gegen EU-Recht verstößt: 2018 hatte die ungarische Regierung ein Gesetz beschlossen, das unter dem Schlagwort „Stop-Soros-Gesetz“ bekannt geworden war. Das Gesetz erklärt Hilfe bei „unzulässigen“ Asylanträgen zur Straftat und richtete sich ganz bewusst gegen NGOs, die Asylsuchende unterstützen.

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