Amerika

Gewalt ohne Strafe

In keiner Weltregion wurden mehr Menschenrechtsverteidiger und Journalistinnen ermordet als auf dem Doppelkontinent. Bei vielen Verbrechen versagte die staatliche Aufklärung.

Überblick

Der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft in Amerika hat sich 2021 kaum verändert. Einschüchterung, Schikane und Kriminalisierung waren genauso an der Tagesordnung wie die Verletzung der Rechte von Demonstrierenden und Angriffe auf die Medien. In keiner anderen Region wurden mehr Journalistinnen und Menschenrechtsverteidiger ermordet. Von den 35 Ländern des Kontinents hat Civicus die Zivilgesellschaft in zehn als „offen“ eingestuft, in neun als „beeinträchtigt“ und in weiteren neun als „beschränkt“. In fünf Ländern gilt sie als „unterdrückt“ und zwei Länder gelten als „geschlossen“: Nicaragua und Kuba.

Die Lage der Zivilgesellschaft verschlechterte sich in dieser Weltregion 2021 eher schleichend, so wie in Guatemala. Dort hatte das Verfassungsgericht ein NGO-Gesetz gebilligt, mit dem die Regierung ausländische Finanzierung kriminalisieren und zivilgesellschaftliche Gruppen kontrollieren kann. In Venezuela versuchte die Regierung ebenfalls, die Aktivitäten der Zivilgesellschaft weiter einzuschränken. Kolumbien sticht hervor, weil hier mehr soziale Anführerinnen, Landrechts- und Umweltaktivisten ermordet wurden als in jedem anderen Land der Welt. Dahinter standen staatliche Institutionen, Lokalpolitikerinnen, Landbesitzer, Milizen, Drogenkartelle oder gewalttätige Banden. Der Staat versagte dabei, Straftaten zu verfolgen und aufzuklären, was Täter noch ermutigt.

Die Absteiger

Nur drei Prozent der Menschen weltweit leben in Staaten mit offener Zivilgesellschaft. Die Lage der Zivilgesellschaft in Haiti und Nicaragua war schon immer schwierig, im Jahr 2021 ist sie noch einmal schlechter geworden.

Die politischen, humanitären und sicherheitspolitischen Krisen Haitis hatten 2021 eine erhebliche Verengung des zivilgesellschaftlichen Freiraums in Haiti zur Folge. Präsident Jovenel Moïse regierte von Januar 2020 an ohne gewähltes Parlament eineinhalb Jahre lang per Dekret, bis er im Juli 2021 ermordet wurde. Demonstrationen unterdrückte die Polizei in dieser Zeit mit Gewalt. Politische Interessengruppen sowohl auf Seiten der Regierung als auch der Opposition haben kriminelle Banden bewaffnet, um sich politischen Einfluss zu sichern. Diese Banden kontrollieren seither insbesondere vernachlässigte Stadtviertel der Hauptstadt Port-au-Prince, wo sie Verbrechen gegen die Menschlichkeit verüben, um die Bewohner einschüchtern. Gewalt gegen Journalistinnen und Menschenrechtsverteidiger bleiben in Haiti meist straffrei. Die Zivilgesellschaft versucht das Land wiederaufzubauen und demokratische Verhältnisse wiederherstellen zu lassen. Doch auch ihre Hilfsmaßnahmen behindern die kriminiellen Banden.

Der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft in Nicaragua gilt als „geschlossen“. Die systematische Repression von Zivilgesellschaft, Medien und Opposition machte im November 2021 den Weg frei für die umstrittene Wiederwahl des Präsidenten Daniel Ortega. Insgesamt sieben Oppositionskandidaten wurden inhaftiert, zudem kritische Journalistinnen, Menschenrechtsverteidiger und Unternehmer. Als einzige Möglichkeit sich politisch zu äußern blieb die Wahlenthaltung: Über 80 Prozent der Wahlberechtigten gingen nicht zur Wahl, die auch ohne internationale Beobachtung stattfand. Seit 2006 hat die Regierung unter Ortega systematisch den staatlichen und parastaatlichen Repressionsapparat ausgebaut und jegliche demokratische Kontrolle unterbunden. Zivilgesellschaftliche Organisationen wurden aufgelöst und ihre Bankkonten gesperrt. Wenn Aktivistinnen und Aktivisten versuchen auszureisen, wird ihnen ihr Reisepass entzogen oder angedroht, dass sie festgenommen werden.

Bis Januar 2022 sind mindestens 170 Personen wegen ihres demokratischen Engagements in Nicaragua inhaftiert worden. Besonders dramatisch ist die Situation für 36 politische Gefangene in Nicaraguas berüchtigtstem Gefängnis El Chipote: Frauen wie Männer, allesamt ausgewiesene Kritiker des Regimes und zentrale Oppositionelle, darunter frühere Weggefährten Ortegas. Sie haben keinen Zugang zu Anwälten oder Gesundheitsversorgung. Bei einigen der Inhaftierten hat sich der Gesundheitszustand lebensgefährlich verschlechtert.

Wo Menschen eingeschüchtert wurden

Mit willkürlichen Polizei-Verhören, Drohungen mit erfundenen Anklagen oder Verleumdungen in den sozialen Medien wurden im Jahr 2021 Menschen eingeschüchtert, die sich auf dem amerikanischen Kontinent für ihre Rechte und die anderer eingesetzt haben. In der gesamten Region setzten sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Kräfte diese Strategien gegen Menschenrechtsverteidige, Journalistinnen, die politische Opposition und zivilgesellschaftliche Führer ein. Der CIVICUS-Monitor dokumentierte in mindestens 19 Ländern der Region solche Vorfälle.

In Brasilien wurden Journalisten und Aktivistinnen schikaniert, bedroht und ermordet. Die Kriminalisierung von Kritikern geht teils von höchster Stelle aus: Die Regierung von Jair Bolsonaro missbrauchte dazu das „Gesetz zur nationalen Sicherheit“.

Für Umweltaktivistinnen und -aktivisten bleibt Honduras eines der gefährlichsten Länder der Welt. So ist etwa bis heute das Verschwindenlassen von vier Garifuna, Angehörigen einer Volksgruppe in Zentralamerika, im Juli 2020 nicht aufgeklärt. Sie hatten sich für den Erhalt ihres Lebensraumes an der Karibikküste einsetzt. Aufgrund weiterer Drohungen mussten ihre Familien inzwischen das Land verlassen.

In Kolumbien wurden laut der Nichtregierungsorganisation INDEPAZ 168 soziale Anführer ermordet und 92 Massaker verübt.

Auf Kuba überwachte die Polizei die Häuser von Menschenrechtsverteidigern und Regierungskritikerinnen und drohte ihnen und ihren Familien Repressalien an.

Wer sich etwa für die Rechte von Indigenen oder die Umwelt einsetzt oder unabhängig berichtet, lebt in Mexiko gefährlich ‒ für Journalisten ist es sogar das gefährlichste Land der Welt. Laut Reporter ohne Grenzen wurden dort 2021 sieben Medienschaffende ermordet. In zahlreichen Fällen wurden Reporterinnen zudem angegriffen und festgenommen, obwohl sie sich als Medienvertreter ausgewiesen hatten. Außerdem wurden Reporter genauso wie Aktivistinnen überwacht und in Online-Messenger-Gruppen schikaniert. Wie gründlich Journalistinnen und Menschenrechtsverteidiger mit der Spionagesoftware Pegasus ausgespäht wurden, ist in diesem Jahr deutlich geworden.

In Nicaragua wurden 2021 mindestens 16 Journalistinnen als Zeugen vorgeladen, die zu Geldwäsche-Vorwürfen gegen eine Präsidentschaftskandidatin und ehemalige Leiterin einer Menschenrechtsorganisation aussagen sollten. Polizeibeamte drohten ihnen mit einer Anklage für den Fall, dass sie nur in Anwesenheit eines Anwalts oder einer Anwältin sprechen wollten.

Wo es Festnahmen und Gewalt bei Protesten gab

Wenn Menschen auf dem amerikanischen Kontinent gegen die Politik ihrer Regierungen protestierten, Garantien für ihre Rechte forderten und Veränderungen verlangten, wurden ihre Proteste 2021 häufig gestört oder mit übermäßiger Gewalt angegriffen. In 21 der 35 Länder der Region drohte Demonstrierenden, aufgurnd ihres Engagements verhaftet zu werden.

In Brasilien waren häufig Indigene das Ziel von Repressionen. So wurden etwa die Proteste von Aktivistinnen von der Behörde unterdrückt, die für den Schutz der Rechte indigener Völker zuständig ist.

In Chile, wo der Verfassungskonvent im Juli seine Arbeit aufnahm, forderten im Jahr 2021 Demonstrierende in Santiago de Chile die Freilassung der während der Proteste 2019 inhaftierten Personen und ein Ende der Polizeirepression. Es kam zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften.

In Kanada reagierte die Polizei auf die größten Aktionen zivilen Ungehorsams in der Geschichte des Landes mit Festnahmen vieler Demonstrierender. So wurden während der sogenannten Fairy-Creek-Proteste zwischen Mai und September 2021 gegen die Abholzung von Wäldern über tausend Aktivisten festgenommen, darunter viele Indigene.

In Kolumbien gingen die Strafverfolgungsbehörden während eines mehrmonatigen landesweiten Streiks gegen die Regierungspolitik brutal gegen Demonstrierende vor. Zwischen Ende April und Mitte Mai 2021 wurden nach Angaben der örtlichen Menschenrechtsgruppe Temblores mehr als tausend Demonstrierende festgenommen und Hunderte verletzt; außerdem wurden mindestens 43 Personen von mutmaßlichen Sicherheitskräften getötet. Hinzu kamen Strafverfahren gegen Protestierende mit konstruierten Anklagen.

In Peru reagierten die Ordnungskräfte auf die Proteste gegen die Absetzung des ehemaligen Präsidenten Martín Vizcarra, indem sie Schusswaffen einsetzten und mit Tränengas auf die Demonstrierenden zielten. Innerhalb einer Woche wurden bei den Protesten mindestens zwei Menschen getötet und über 200 verletzt.

Was sich zum Guten verändert hat

Trotz vieler alarmierender Entwicklungen gibt es auch in den Ländern mit besorgniserregenden Entwicklungen Signale, die die Hoffnung nähren, dass sich die Widerstandsfähigkeit der Zivilgesellschaft auszahlt.

Der Oberste Gerichtshof Brasiliens schuf einen Präzedenzfall: Danach wird der Staat zur Verantwortung gezogen, wenn Journalisten bei der Berichterstattung über Proteste von Sicherheitskräften verletzt werden.

In Honduras stand einer der Hintermänner der 2016 ermordeten Aktivistin Berta Cáceres vor Gericht und wurde für schuldig befunden.

In Kanada erkannten die Gerichte 2021 an, dass sich Polizeibeamte bei der Verfolgung von Umweltprotesten und Medien, die darüber berichten wollten, falsch verhalten hatten. Sie verweigerten auch eine einstweilige Verfügung gegen die Proteste.

In Mexiko gab es 2021 Fortschritte bei der Anklage gegen die Hintermänner der Morde an den Reportern Javier Valdez Cárdenas und Miroslava Breach. Im Fall des Mordes an Miroslava Breach wird sich wohl ein ehemaliger Bürgermeister verantworten müssen.

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Atlas der Zivilgesellschaft 2022

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