Interview

Ist die EU bereit zu ehrlicher Migrationspolitik?

Seit Jahren verabredet die EU Partnerschaften mit Ländern in Afrika, um Menschen davon abzuhalten, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Moctar Dan Yayé erlebt die Konsequenzen dieser Politik in seinem Heimatland Niger. Er fordert, dass Abgeordnete des nächsten EU-Parlaments aufrichtig sind: Europa ist auf Zuwanderung genauso angewiesen wie Geflüchtete Europa brauchen.

Von Kai Schächtele am
Niamey Niger

Auf ihrem Weg in den Norden stecken viele Migrantinnen und Migranten in Niger fest, wie hier in der Stadt Niamey.

Seit dem EU-Afrika-Gipfel 2015 verwendet die EU ihr außenpolitisches Gewicht, um afrikanische Staaten zu Partnern einer Politik zu machen, die Menschen davon abhalten soll, nach Europa zu kommen. Welche Konsequenzen hat das für Niger?

Die Politik der EU hat massive Auswirkungen auf unsere Wirtschaft und die Mobilität der Menschen. Niger und die Länder um uns herum sind traditionell davon geprägt, dass sich Menschen frei bewegen können. 2015 hat Niger mit der EU ein Abkommen geschlossen, das die Freizügigkeit massiv einschränkt. Das Gesetz – inzwischen wieder aufgehoben –, das Niger dazu verabschiedet hat, hat faktisch den grenzüberschreitenden Transport von Migrantinnen und Migranten ohne Dokumente verboten. Bis dahin sind Menschen durch Niger weiter in den Norden gereist, durch die Sahara nach Algerien oder Libyen. Mit dem Gesetz waren sie gezwungen, die Checkpoints zu meiden. Das hatte dramatische Folgen.

Welche?

Menschen sind in der Wüste einfach verschwunden. Wir wissen noch nicht einmal, wie viele seitdem gestorben sind. Es hängt vom Zufall ab, ob wir die Leichen überhaupt finden, weil viele vom Sand zugeweht werden.

„Plötzlich betrachtete der Staat Transporteure als Schlepper“

Was waren die Folgen für die lokale Wirtschaft?

Ich kann es am Beispiel der Stadt Agadez beschreiben. Sie liegt im Norden und ist das Eingangstor zur Sahara. Ein Großteil der Bevölkerung hat von den Menschen gelebt, die von dort weitergereist sind. Händler haben an die Reisenden Produkte verkauft. Andere boten Transporte an. Seit 2016 wurden solche Geschäfte kriminalisiert. Plötzlich betrachtete der Staat einheimische Transporteure als Schlepper und verhaftete sie. Es reichte zum Teil schon, wenn Menschen Reisende beherbergt haben. Der Staat beschlagnahmte die Fahrzeuge und schloss die Häuser, in denen Reisende übernachtet haben.

Wie ist die Situation heute?

Im vergangenen Juli gab es einen Militärputsch. Im November hat die neue Militärjunta das Gesetz außer Kraft gesetzt mit der Begründung, es sei nicht im Interesse der nigrischen Bevölkerung, sondern allein im Interesse der EU. Jetzt bewegen sich Menschen wieder frei im Land und in Richtung Norden, ohne Angst zu haben, verhaftet zu werden. Die Regierung hat viele von denjenigen freigelassen, die verhaftet worden waren. Aber die Auswirkungen der vergangenen acht Jahre sind immer noch zu spüren. Es wird einige Zeit dauern, bis sich die Wirtschaft erholt hat. In Tunesien und Libyen hält die EU den Druck weiter hoch.

„Es ist ein klarer Verstoß gegen Menschenrechte“

Was sagen Sie zu den Plänen, das britische Ruanda-Modell zu einem zentralen Element der europäischen Asylpolitik zu machen, also Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern?

Nach dem, was ich in den vergangenen Jahren erlebt habe, ist es ein klarer Verstoß gegen Menschenrechte. Nahezu alle Länder der EU haben die Europäische Menschenrechtskonvention unterschrieben. Darin ist klar festgehalten, dass Menschen das Recht haben, auf der Flucht vor Verfolgung Schutz zu suchen. Viele Länder nutzen jedoch ihre politische und finanzielle Macht, um Länder wie Ruanda dazu zu bringen, Asylsuchende aus Europa aufzunehmen. Das wird katastrophale Folgen haben.

Warum?

Nach dem Sturz des libyschen Machthabers Gaddafi mit Unterstützung der NATO wurde die Situation für Migrant*innen und Geflüchtete aus Subsahara-Afrika in Libyen immer gefährlicher. Da die EU den Weg von Libyen nach Europa zudem blockierte, flohen viele in den Niger, darunter tausende Sudanesinnen und Sudanesen. Zu der Zeit war die Situation hier so schlecht, dass wir selbst kaum genug zum Überleben hatten. Anstatt diese Menschen in sichere Länder zu bringen, hat die EU den Niger gedrängt, eigene Asylverfahren für die Schutzsuchenden aus dem Sudan zu eröffnen. Viele von ihnen leben jahrelang unter miserablen Bedingungen.

Die EU verspricht allerdings, sich um menschenwürdige Bedingungen zu kümmern.

Nehmen Sie das Beispiel Ruanda. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der aus der Demokratischen Republik Kongo nach Großbritannien geflohen ist und dann nach Ruanda gebracht wird. Zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Ruanda herrscht eine große Feindseligkeit. Sie können sich ausmalen, wie es einem solchen Menschen in Ruanda ergehen wird. Dieses Modell ist politisch unklug und unmenschlich. Länder im globalen Norden entziehen sich damit ihrer Verantwortung und werden andere inspirieren, diesem Beispiel zu folgen.

„Europa ist auf Migration angewiesen“

Im Juni wählen die Europäerinnen und Europäer ein neues Parlament. Was fordern Sie von der EU?

Ich verlange von den neuen Abgeordneten des EU-Parlaments, dass sie gegenüber sich selbst ehrlich sind. Sie müssen sich der menschenrechtlichen Dimensionen bewusst sein bei allen Entscheidungen, die sie treffen. Sie haben große Verantwortung. Menschen haben das Recht auf Freizügigkeit. Und sie haben das Recht, Schutz zu suchen. Die Politikerinnen und Politiker müssen damit aufhören, Migration als etwas zu begreifen, das den gesellschaftlichen Frieden in Europa bedroht. Viele Menschen in Europa verstehen gar nicht, was im Moment vor sich geht. Die Politik missbraucht Flüchtende, um von ihren eigenen Fehlern abzulenken. Wir wissen alle, dass wir aufeinander angewiesen sind: In derselben Weise, wie Menschen in Europa Schutz suchen, ist Europa auf Migration angewiesen.

Wie meinen Sie das?

Ich habe dazu eine passende Anekdote aus Deutschland gehört. In einer kleinen Gemeinde beschwerte sich ein Politiker darüber, dass Einheimische wegen der Geflüchteten im Ort nicht ausreichend Zugang zu medizinischen Leistungen hätten. Dann stellte sich heraus: Die Mediziner, die diese Leistungen bereitstellten, waren selbst Geflüchtete.

 

Moctar Dan Yayé ist Gründungsmitglied und Leiter der Öffentlichkeitsarbeit von Alarmphone Sahara. Die Organisation rettet Menschen aus der Sahara und dokumentiert diese Fälle, um Aufmerksamkeit auf die Geschehnisse in der Wüste zu lenken. Bei der von Brot für die Welt veranstalteten Diskussion zur EU-Wahl am 7. Mai wird er seine Forderungen direkt an die Politikerinnen und Politiker richten.

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