Die Zahlen passen einfach nicht zusammen. Immer wieder stehe ich vor diesem Problem. Einmal heißt es, im Mittelmeer kommen am meisten Migrant*innen um, dann in der Sahara – und in Spanien gilt die Westatlantikroute Richtung Kanarische Inseln als tödlichste Migrationsroute der Welt. In meinem letzten Blog Spanien: die andere Außengrenze greife ich dazu Zahlen der NGO Caminando Fronteras auf (fast 10.000 Tote auf der Westatlantikroute in 2024). Insgeheim beschäftigt mich aber schon lang die Frage: Welche Zahlen reproduziere ich da eigentlich? Ist es legitim, die massive Gewalt, die die EU-Abschottungspolitik ja tatsächlich produziert, mit Zahlen zu unterlegen, die in Wahrheit nicht überprüfbar sind? Oder bin ich damit Teil eines Wettlaufs, der mit hohen Zahlen hantiert, um Aufmerksamkeit zu erzeugen? Schwierige Fragen, die ich lange mit niemanden geteilt habe.
Und dann ploppt eine Nachricht in meinem Mail-Postfach auf, kaum drei Stunden nach der Veröffentlichung des Spanien-Blogs: „Lieber Andreas, danke für dieses interessante Update. Ich wollte dennoch anmerken, dass ich die Reproduktion der Zahlen von Caminando Fronteras äußerst problematisch finde. Ich leite derzeit ein Projekt zu den Kanaren und Wissensproduktion, da haben wir uns auch deren Statistiken angeschaut und sehr viele Fragen bleiben offen.“ Die Mail stammt von Maurice Stierl, Migrationsforscher an der Uni Osnabrück und langjähriger Aktivist des Alarm Phone. Wir verabreden uns zum Gespräch, das ich hier in Ausschnitten wiedergebe.
Tote auf Migrationsrouten zu zählen ist schwierig
Maurice, was findest du problematisch an den Zahlen von Caminando Fronteras?
Erstmal muss ich festhalten, dass die Zahl von knapp 10.000 Toten 2024 sehr breit rezipiert wurde, nicht nur von dir. Das ist insofern interessant, als auch andere Organisationen Zahlen zu Toten auf der Westatlantikroute veröffentlicht haben, die stark von dieser hohen Zahl abweichen. Die andalusische NGO APDHA spricht von etwa 1.900 Toten, die Internationale Organisation für Migration (IOM) von 1.200 Toten. Aber durchgesetzt hat sich die Zahl von Caminando Fronteras. Und da interessiert mich als Wissenschaftler: warum eigentlich?
Bevor wir uns dieser Warum-Frage zuwenden. Wie geht das methodisch, Tote zählen?
Es ist grundsätzlich total schwierig, Daten über Tote und Verschwundene zu erheben. Da sind zum einen die technischen Herausforderungen. Einige Akteure nehmen vor allem Berichte in Zeitungen als Datengrundlage. Und wahrscheinlich weißt du auch, wie das immer wieder schwanken kann. Also erstmal ist bei einem Schiffsunglück von 20 Toten die Rede. Wochen später stellt sich heraus, es waren 70 Tote. Aber diese Zahl schafft es vielleicht gar nicht mehr in die Zeitung, weil sich die Öffentlichkeit nicht mehr dafür interessiert – das Unglück ist schon zu lange her.
Andere Organisationen führen Interviews mit Migrant*innen durch, die Überfahrten oder gefährliche Wüstendurchquerungen überlebt haben, mit lokalen NGOs und den Familienangehörigen von Verschwundenen. So kommen sie dann auf Zahlen, die jedoch mit großen Unsicherheiten verbunden sind. Wer garantiert zum Beispiel, dass Verschwundene nicht doppelt gezählt werden? Zudem gibt es verschiedene Definitionen von Toten oder Verschwundenen. Das heißt, wenn man eine breitere Definition nutzt und auch die Verschwundenen als Tote zählt, dann hat man natürlich gleich eine viel höhere Zahl.
In Bezug auf die Westatlantikroute muss man sagen, dass die Zahlen von Caminando Fronteras sehr intransparent sind. Ich versuche seit Jahren, mit der NGO darüber zu sprechen, wie sie ihre Daten erhoben haben, aber sie antworten mir einfach nicht.
Wie sich hohe Todeszahlen verbreiten
Warum hat sich diese Zahlen dann im öffentlichen Diskurs durchgesetzt?
Ich glaube, dass große Zahlen grundsätzlich wirkmächtig sind. Insbesondere dann, wenn sie im Zeitverlauf eine rasante Veränderung anzeigen. Beides ist bei den Zahlen von Caminando Fronteras der Fall. Für das Jahr 2022 zählt die NGO noch 1.784 Tote. Die Zahl steigt im Jahr darauf auf etwa 6.000, dann 2024 auf knapp 10.000. Die hohen Zahlen und der rasante Anstieg sind für die Medien und andere Akteure spannend.
Ich kann auch sehr gut nachvollziehen, dass diese Zahlen benutzt werden, um auf das Leid und die Brutalität an den EU-Außengrenzen zu verweisen. Im besten Fall erhöht sich dadurch die Aufmerksamkeit für die Region, es gibt mehr humanitäre Unterstützung, mehr Rettungsaktionen. Aber es kann eben auch in eine andere Richtung gehen. Etwa hat der Regierungspräsident der Kanarischen Inseln, den du in deinem Blog zitierst, die Zahl von Caminando Fronteras aufgegriffen und gefordert, Frontex mehr in der Atlantik-Region zu involvieren. Hohe Zahlen können also auch dazu verwendet werden, Abschottungsmaßnahmen zu rechtfertigen.
Sehr hohe Todeszahlen werden auch immer wieder für die Migrationsrouten durch die Sahara kolportiert.
Ja genau, Organisationen wie die IOM oder das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR haben in den vergangenen Jahren immer wieder verlautbart, dass auf der Sahararoute mehr Menschen versterben als im Mittelmeer. Dabei geben das die statistisch erfassten Zahlen der Organisationen selbst gar nicht her. In meiner Forschung habe ich untersucht, wie diese Aussage in die Welt gelangte und warum sie so eine breite Aufmerksamkeit erfuhr. Sie beruht auf einem zweiseitigen Bericht des Mixed Migration Centers von 2016. Trotz einer sehr problematischen Datenengrundlage, einer Reihe an Unklarheiten und Widersprüchen wird die Aussage von der Sahara als tödlichster Migrationsroute bis heute immer wieder verwendet.
Kann es sein, dass dabei auch eigennützige Interessen eine Rolle spielen? Hohe Zahlen können ja auch dafür verwendet werden, um mehr humanitäre Interventionen zu fordern, was den Organisationen selbst wiederum zugutekommt.
Mit Sicherheit spielt dies eine Rolle. In meiner Forschung zur Sahara konnte ich nachzeichnen, welche zentrale Bedeutung Migrationsstatistiken in Aufmerksamkeitsökonomien haben und wie eng sie mit dem Zugang Internationaler Organisationen zu finanziellen Ressourcen verknüpft sind.
Mit Zahlen über Migration bewusster umgehen
Wie könnte ein verantwortungsvoller Umgang mit Zahlen in der Migrationspolitik aussehen?
Auf Zahlen zu verzichten ist schwierig. Sie werden immer wieder verlangt, wenn es darum geht, Migrationsdynamiken einzuordnen. Gleichzeitig müssen wir uns bewusst machen, dass Zahlen keine vermeintlich eindeutige Realität widerspiegeln. Sie werden regelmäßig politisiert und selektiv eingebracht. Entscheidend ist also ein reflektierter Umgang: verstehen wir, wie eine bestimmte Statistik zu Stande gekommen ist? Von wem wurde sie wie produziert und für welche Zwecke?
Wir sollten uns auch fragen, ob die selektive Zirkulation von immer höheren Zahlen zu problematischen Vorstellungen von Migration beiträgt, etwa Migration als permanenter Ausnahmezustand. Zudem müssen wir uns stärker bewusstwerden, dass hohe Zahlen höchst unterschiedlich verwendet werden können: als Argument für mehr Rettung oder eben mehr Abschottung. Das heißt, die Veröffentlichung bestimmter Zahlen bringt auch Verantwortung mit sich. Gerade weil diejenigen, die Zahlen produzieren, nicht in der Hand haben, wie diese Zahlen genutzt werden, sollten sie genau erklären, wie diese zustande gekommen sind.
Wenn ich hier ergänzen dürfte: Meine Beobachtung ist: wenn wir uns zu stark auf das Zählen von Toten verlegen, dann droht dadurch eine ganz zentrale Frage in den Hintergrund zu geraten. Nämlich: wo kommt diese Gewalt her, wer trägt dafür Verantwortung? Es ist ja kein Naturphänomen, dass Migrant*innen in der Sahara sterben oder bei einer Überfahrt mit dem Schiff.
Ja, genau, das wäre mein letzter Punkt. Wir müssen wieder stärker die strukturelle Form von Gewalt, für die die Todeszahlen ein Indiz sind, in den Mittelpunkt der Debatte stellen. Dies ist eine menschengemachte Katastrophe. Die Abschottungspolitik an den Außengrenzen Europas tötet – ebenso wie die Externalisierung, also die Auslagerung dieser Abschottung auf Staaten jenseits der EU. Wir dürfen es nicht dabei belassen, Tote zu zählen. Wir müssen uns für eine Ende dieser Politik einsetzen, mit aller Kraft.
Zur Person: Maurice Stierl leitet seit 2024 das DFG-Forschungsprojekt „Die Produktion von Räumen migrantischen Verschwindens“ am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück.



