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Spanien: die andere Außengrenze

Die Atlantik-Route von Westafrika auf die Kanarischen Inseln ist die gefährlichste Migrationsroute der Welt. Rund 10.000 Menschen starben 2024 bei der Überfahrt. Wie geht Spanien damit um? Und ist es gerechtfertigt, hier von einer Migrationskrise zu sprechen? Ein Besuch vor Ort, auf El Hierro und Gran Canaria.

Von Dr. Andreas Grünewald am
Der Hafenort La Restinga

Der Hafenort La Restinga

Der Hafen des kleinen Fischerorts La Restinga wird von bunten Häusern gesäumt. Mauerwerk, Treppen, Türen und Fenster schmiegen sich in verspielter Weise an schwarze Felsen und erstarrte Lava. Zu Füßen der Häuser eine kleine Bucht mit schwarzem Sandstrand. Ein Steg mit Anlegeplätzen für Fischerboote und die lokale Tauchschule. Ein verschlafenes Idyll auf der Vulkaninsel El Hierro, dem südwestlichsten Zipfel der Europäischen Union.

Doch der Hafen hat auch eine andere Seite. Schwenkt man nach rechts, gerät eine Reihe von weißen Containern in den Blick, ein Fahrzeug des Roten Kreuzes – und ein gelb-rotes Schiff der spanischen Seenotrettung. Denn La Restinga ist nicht nur Anlegeplatz für spanische Fischerboote. Im vergangenen Jahr strandeten an die 26.000 Migrant*innen im Hafen des 500-Seelen-Dorfes. In Cayucos, langen schmalen Fischerbooten, mit denen Menschen vom Senegal, von Mauretanien oder Marokko aus die Überfahrt Richtung Spanien wagen.

West-Atlantik-Route: eine Wette gegen den Tod

Rund 48.000 Menschen schafften es 2024 auf diese Weise lebend auf die Kanarischen Inseln. Knapp 10.000 Menschen überlebten im selben Jahr diese Überfahrt nicht, schätzt die spanische NGO Caminando Fronteras. Denn die Überfahrt ist gefährlich, lang und unberechenbar. Das liegt am Atlantik und an den Cayucos, die für solche Überfahrten nicht gemacht sind. Es liegt aber auch an der Strategie der EU und von Spanien, ihre Migrationskontrolle nach Marokko und Westafrika vorzuverlagern. Überfahrten passieren deswegen möglichst klandestin, bei schlechtem Wetter, oder unter Inkaufnahme großer Umwege. Vier bis 14 Tage sind die Menschen unterwegs. Irgendwann ist das Essen alle, das Trinkwasser, oder das Benzin. Menschen fallen von den Booten – oder werden heruntergestoßen. Immer wieder treiben Cayucos auch weit ab in den Atlantik, werden Monate später in der Karibik entdeckt.

Humanität …

Die Toten, die aus den Cayucos oder dem Meer nahe der Insel geborgen werden, begraben Inselbewohner*innen auf dem Friedhof El Pinar in den Bergen. Dort liegen sie zwischen den Einheimischen, erkennbar an den gefalteten Papierbooten, die man ihnen beistellt. „Es gibt hier eine große Solidarität mit den Migrant*innen aus Westafrika. Denn die Kanaren sind sehr migrantisch geprägt“, erklärt der lokale Pfarrer, der selbst aus Venezuela nach El Hierro zugewandert ist. Wie viele auf der Insel unterstützt er als freiwilliger Helfer die Ankommenden. „Viele hier sind selbst migriert, aufs Festland, nach Lateinamerika, oder wieder zurück. Wir wissen, was es heißt, seine Heimat zu verlassen, wie viel Schmerz, wie viel Unsicherheit damit verbunden ist. Unser Leitprinzip im Umgang mit den Ankommenden ist Humanität.“

… und Widersprüche

Sätze wie diese fallen öfters, bei unserem Besuch auf El Hierro ebenso wie auf Gran Canaria. Es ist ergreifend zu hören, wie lokale Initiativen und NGOs tagtäglich bei der Aufnahme der Migrant*innen mitanpacken, ärztliche Versorgung leisten, Kleidung spenden, Übersetzung und rechtliche Beratung organisieren. Gleichzeitig fällt auf: mit Kritik an der Exekutive, die ankommende Migrant*innen inhaftiert und ihnen ihre Mobiltelefone abnimmt, hält man sich zurück. Widersprüchlich ist auch der Diskurs des Regierungspräsidenten der Kanarischen Inseln, Fernando Clavijo. Er betont, dass man die Türen für Migrant*innen immer offenhalte. Zugleich klagt Clavijo darüber, mit der hohen Zahl der Ankünfte überfordert zu sein, und zu wenig Unterstützung von der Zentralregierung und der EU zu erhalten: „Die EU wälzt die migrationspolitischen Herausforderungen auf periphere Gebiete wie die Kanarischen Inseln ab, und will selbst keine Verantwortung übernehmen.“

Ja, der Norden Europas baut den Süden zur Festung aus, und sperrt sich gegen eine solidarische Verteilung der Ankommenden. Doch Clavijo bedient auch einen Krisendiskurs, der selbst problematisch ist. Die Ankunft von 48.000 afrikanischen Migrant*innen in Cayucos im Jahr 2024 stellte eine Herausforderung für eine Region mit 2,2 Millionen Einwohner*innen dar, kein Zweifel. Zugleich feierten die Kanaren im selben Jahr einen neuen Tourismusrekord und hatten sichtlich kein Problem, 25,7 Millionen eingeflogene Tourist*innen zu versorgen. Zudem bleiben viele der gestrandeten Migrant*innen nicht lange auf den Inseln. Nach einigen Wochen oder Monaten werden die meisten aufs spanische Festland gebracht. Die Lokalregierung ist nur für die unbegleitet Minderjährigen zuständig, eine überschaubare Zahl von derzeit rund 3.000 Personen.

Das Problem heißt Rassismus

„Dieser Überforderungsdiskurs ist purer Rassismus“, konstatiert Loueila Sid Ahmed Ndiaye, die sich als Anwältin auf den Kanaren auf Asyl- und Migrationsrecht spezialisiert hat und selbst in einem westsaharischen Flüchtlingslager geboren ist. „Dieses Rassismus finden wir in der gesamten spanischen Migrationsdebatte. Warum sonst konzentriert sich diese Debatte stark auf afrikanische Migrant*innen, obwohl diese nur einen geringen Anteil an der Gesamtzuwanderung ausmachen?“ Die Zahlen geben der Anwältin recht. Von den 368.000 Menschen, die 2024 nach Spanien zuwanderten, stammt der überwiegende Teil aus Lateinamerika. Ein ähnliches Bild liefert die Asylstatistik. Rund 167.000 Personen stellten in Spanien 2024 einen Asylantrag. 66.000 davon stammen aus Venezuela, 40.000 aus Kolumbien. Die Zahlen aus Westafrika (rund 10.600 Asylanträge aus Mali oder 7.700 aus dem Senegal) fallen dagegen kaum ins Gewicht.

Viele Menschen, die in den Cayucos nach Spanien kommen, fliehen vor Verfolgung. Viele kommen aber auch aufgrund fehlender ökonomischer Perspektiven in den Heimatländern. „Anstatt diesen Menschen legale Migrationswege zu bieten, müssen sie eine lebensgefährliche Bootsfahrt auf sich nehmen, sich durch ein dysfunktionales System kämpfen und oft lange in der Informalität arbeiten. Das muss sich ändern“, fordert Loueila Ndiaye. Fakt ist, dass viele spanische Wirtschaftszweige bisher von der billigen Rekrutierung irregulärer migrantischer Arbeitskräfte profitieren – die Landwirtschaft mit ihren riesigen Treihausplantagen, der Bausektor, die Hotellerie. Fakt ist aber auch, dass Spanien als einziges europäisches Land immer wieder große Legalisierungskampagnen startet. In den kommenden drei Jahren sollen 900.000 Migrant*innen einen legalen Aufenthaltstitel erhalten.

Das Sterben auf dem Atlantik muss enden

Ob auch die Migrant*innen, die während unseres zweitägigen Aufenthalts in El Hierro den sicheren Hafen von La Restinga erreichen, davon profitieren werden, wird sich zeigen. Sicher ist, dass Spanien und die EU alles daran setzen müssen, um das unglaubliche Leiden auf dem Atlantik zu beenden. Konkret bedeutet dies: Stopp der militarisierten Migrationsabwehr und wirtschaftlichen Ausbeutung in Nord- und Westafrika, und Schaffung von legalen Wegen – für Schutzsuchende ebenso wie für Menschen, die vor wirtschaftlicher Perspektivenlosigkeit fliehen und in Spanien ohnehin gebraucht werden.

 

Die hier verarbeiteten Eindrücke habe ich im Rahmen der 17. Europäischen Aslyrechtskonferenz in Spanien gesammelt, die im Oktober 2025 federführend von der Diakonie Deutschland organisiert und von Brot für die Welt mitfinanziert wurde. Mehr Infos zur Realität der Asyl- und Migrationspolitik auf den Kanaren erfahrt ihr in einem interessanten Beitrag von Wiebke Judith (ProAsyl), die ebenfalls auf der Konferenz war.

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