Als junge Sambierin, der derzeit bei Brot für die Welt in Deutschland arbeitet, hatte ich das Privileg, zwei Workshops zum Thema Demokratie zu leiten. Beide Erfahrungen waren sehr aufschlussreich, nicht nur, weil ich meine eigenen Perspektiven teilen konnte, sondern auch, weil ich mit verschiedenen Gruppen junger Menschen in Kontakt kommen konnte. Die Gespräche bestärkten mich in meiner langjährigen Überzeugung, dass Demokratie kein Einheitsmodell ist. Vielmehr handelt es sich um ein Konzept, das ständig neu definiert und kontextualisiert werden muss und von den Lebenserfahrungen verschiedener Gesellschaften geprägt ist.
Von der Theorie zur Realität: Demokratie in verschiedenen Kontexten
„In Sambia ist Demokratie nicht nur ein abstraktes Konzept, sondern wird gelebt, diskutiert und weiterentwickelt.“
Meine ersten Begegnungen mit Demokratie hatte ich durch Schulbücher und die formale Bildung in Sambia. Demokratie wurde oft abstrakt definiert: Regierung „durch das Volk, für das Volk“. Diese Definitionen klangen edel, doch ich spürte immer eine Kluft zwischen der Theorie und der Realität vor Ort. In Sambia, wie in vielen anderen Ländern, wird die Demokratie durch Probleme wie Ungleichheit, begrenzte Teilhabe und schwache Institutionen herausgefordert.
Als ich nach Deutschland kam, begegnete mir eine andere Perspektive. Hier wird Demokratie oft als „fertiges Produkt“ angesehen, als ein System, das mehr oder weniger wie vorgesehen funktioniert. Viele junge Deutsche, mit denen ich zu tun hatte, sind in stabilen demokratischen Strukturen aufgewachsen. Für sie ist Demokratie etwas Selbstverständliches, eine Grundlage, auf die sie sich verlassen können. Dieser Kontrast stand im Mittelpunkt meiner Überlegungen und der von mir geleiteten Workshops: Demokratie ist in der Praxis nicht universell, und ihre Bedeutung verschiebt sich je nachdem, wo man steht.
Demokratie mit Stipendiat*innen neu definieren
„Wir haben erkannt, dass Demokratie nicht auf westliche Lehrbuchdefinitionen beschränkt werden kann, sondern unsere gelebten Erfahrungen einbeziehen muss.“
Auf der Generalversammlung der Stipendiat*innen von Brot für die Welt leitete ich einen Workshop mit dem Titel „Youth Leadership and the Future of Democratic Governance“. Hier konnte ich sowohl persönliche Überlegungen als auch akademische Erkenntnisse einbringen. Ich sprach über Demokratie aus sambischer Perspektive und ging von Lehrbuchdefinitionen aus. Der eigentliche Wendepunkt unserer Diskussion kam jedoch, als ich betonte, dass Demokratie für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen hat.
Die Teilnehmenden stimmten dem nachdrücklich zu. Wir waren uns einig, dass Demokratie neu definiert und kontextualisiert werden muss. Viele der Stipendiat*innen waren der Meinung, dass die gängige Definition von Demokratie zu westlich geprägt ist und die Komplexität der verschiedenen Länder nicht angemessen widerspiegelt. Sie betonten die Notwendigkeit, über die „idealen“ Lehrbuchdefinitionen hinauszugehen und stattdessen Definitionen zu schaffen, die vielfältige Lebenserfahrungen umfassen. Das wichtigste Ergebnis des Workshops war die gemeinsame Verpflichtung, Demokratie neu zu definieren, und zwar auf eine Weise, die inklusiv und flexibel ist und kulturelle und historische Kontexte berücksichtigt.
Die „ideale“ Demokratie hinterfragen: Stimmen junger Menschen aus Deutschland
„Demokratie ist niemals abgeschlossen. Sie erfordert ständiges Hinterfragen und Reflektieren.“
Der zweite Workshop, den ich moderierte, fand mit den Nord-Süd-Freiwilligen von Brot für die Welt statt und trug den Titel „Demokratie und wir: Die Rolle junger Menschen”. Die Teilnehmenden waren überwiegend in Deutschland geborene und aufgewachsene junge Menschen, die sich auf ihren Einsatz in Sambia, Kambodscha und Costa Rica vorbereiteten. Zu Beginn vertraten viele die Ansicht, dass die Demokratie, mit der sie aufgewachsen waren – die deutsche Demokratie – die „ideale” Form sei. Für sie war Demokratie etwas Selbstverständliches, sogar Unhinterfragbares.
Nach einer Reihe von Aktivitäten und intensiven Gesprächen begann sich ihre Sichtweise jedoch zu ändern. Sie erkannten, dass Demokratie nicht für selbstverständlich genommen werden kann, wenn Menschen immer noch keine gleichen Rechte oder den gleichen Zugang zu Ressourcen haben. Wir können nicht behaupten, in einer perfekten Demokratie zu leben, wenn systemische Ungleichheiten ungelöst bleiben. Für diese jungen Freiwilligen eröffnete der Workshop einen Raum, um Demokratie kritisch zu hinterfragen und sie nicht als statische Errungenschaft, sondern als fortlaufenden Prozess zu betrachten. Ich forderte sie auf, die Demokratie, die sie in Deutschland kennen, mit den Systemen zu vergleichen, denen sie in ihren Gastländern begegnen werden. Wie würde sich die Demokratie in Sambia, Kambodscha oder Costa Rica anders anfühlen und aussehen? Welche Lehren könnten aus diesen Vergleichen gezogen werden? Das Gespräch unterstrich, wie wichtig Bescheidenheit und Offenheit im Umgang mit anderen Kulturen sind.
Innehalten und nachdenken
„Siehst du Demokratie als etwas „Fertiges“ oder als einen Prozess, der sich in deiner Gemeinschaft noch immer entfaltet?" Liebe Leserinnen und Leser, an dieser Stelle lade ich euch ein, über euren eigenen Kontext nachzudenken:
1. Siehst du Demokratie in deinem Land als etwas „Abgeschlossenes“ oder als etwas, das sich noch weiterentwickelt?
2. Gibt es in deinem Umfeld Gruppen von Menschen, die von der uneingeschränkten Teilnahme am demokratischen Leben ausgeschlossen bleiben?
3. Was sagt dir das über die Art von Demokratie, in der du lebst?
Nimm dir einen Moment Zeit zum Nachdenken, bevor du weiterliest.
Junge Menschen gestalten die Zukunft der Demokratie
„Wir sind keine passiven Empfänger, sondern kritische Stimmen, die eine inklusive Regierungsführung gestalten.”
In beiden Workshops stach ein Thema besonders hervor: Junge Menschen spielen eine entscheidende Rolle bei der Neudefinition der Demokratie. Wir sind keine passiven Empfänger*innen von Regierungssystemen. Stattdessen sind wir kritische Stimmen und aktive Teilnehmende, die die Zukunft der demokratischen Regierungsführung gestalten.
Unsere Rolle als junge Menschen ist zweigeteilt. Erstens müssen wir bestehende Strukturen, die ausgrenzen oder marginalisieren, hinterfragen und in Frage stellen. Zweitens müssen wir neue Ideen und Perspektiven einbringen, die die Demokratie inklusiver und partizipativer machen. Das bedeutet, dass wir den Begriff der Demokratie über Wahlen und formale Institutionen hinaus erweitern müssen, um soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und gelebte Würde einzubeziehen. Workshops, wie die von mir moderierten, zeigen die Kraft des Dialogs zwischen jungen Menschen. Wenn junge Menschen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund zusammenkommen, um Perspektiven auszutauschen, bereichern sie nicht nur ihr Verständnis von Demokratie, sondern tragen auch zum Aufbau globaler Solidarität bei.
Demokratie ist ein Weg, kein Ziel
„Die Zukunft der Demokratie hängt vom Dialog, von Inklusion und vom Mut junger Menschen ab, schwierige Fragen zu stellen.“
Für mich persönlich waren diese Workshops transformativ. Ich habe gelernt, dass Demokratie keine feststehende Definition ist, sondern ein lebendiger Prozess, der sich durch Dialog und Kampf ständig weiterentwickelt. Ich habe gesehen, wie der Kontext die Wahrnehmung prägt: Für einige ist Demokratie ein unhinterfragtes System, für andere ein noch unerreichbares Ziel.
Ich habe auch gelernt, wie wichtig es ist, Dinge zu hinterfragen. Demokratie zu hinterfragen, bedeutet nicht, sie abzulehnen, sondern sie zu stärken. Hinterfragen öffnet die Tür zu Reformen, Innovation und Inklusion. Als junge Menschen können wir es uns nicht leisten, Demokratie als selbstverständlich anzusehen. Wir müssen weiterhin schwierige Fragen stellen, Ungerechtigkeiten bekämpfen und Systeme fordern, die wirklich allen Menschen dienen. Die Zukunft der Demokratie kann nicht auf starren, universellen Definitionen aufgebaut werden. Sie muss kontextualisiert werden und die vielfältigen Realitäten verschiedener Gesellschaften widerspiegeln. Für Menschen aus Sambia, Deutschland und den vielen anderen Ländern, aus denen die Menschen in meinen Workshops stammten, wird Demokratie unterschiedliche Bedeutungen haben. Und das ist keine Schwäche, sondern eine Stärke, wenn wir bereit sind, zuzuhören, zu lernen und uns anzupassen.
Nun bist du dran: Definiere Demokratie neu
„Demokratie ist, wie wir sie leben, hinterfragen und jeden Tag gestalten.“ Bevor du diesen Artikel schließt, lade ich dich ein, inne zu halten und nachzudenken: Nimm dir ein leeres Blatt Papier und schreibe oben: „Demokratie ist ...“
1. Schreibe die erste Definition auf, die dir in den Sinn kommt.
2. Vergleiche diese Definition mit deiner gelebten Realität. Spiegelt sie wirklich die Demokratie wider, die du siehst und erlebst?
3. Schreibe deine Definition so um, dass sie sowohl deine Ideale als auch deinen Kontext widerspiegelt.
4. Frage dich schließlich: Welche Rolle kann ich dabei spielen, diese Definition Wirklichkeit werden zu lassen?
Bei Demokratie geht es nicht nur darum, was in Lehrbüchern steht oder von Regierungen praktiziert wird. Es geht darum, wie wir als Individuen und Gemeinschaften sie jeden Tag leben, hinterfragen und gestalten.