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Zeugnisse der Abschottung jenseits des Mittelmeers

Die Bundesregierung stellt ihre finanzielle Unterstützung für die zivile Seenotrettung ein. Gleichzeitig unterstützt sie die europäische Abschottungspolitik in Nordafrika, mit erschreckenden Folgen für Flüchtlinge und Migrant*innen, wie Wasil Schauseil und Sofia Bifulco von SOS Humanity im Interview erzählen.

Von Dr. Andreas Grünewald am
Rettungseinsatz der Humanity 1

Brot für die Welt weist seit Jahren auf die fatalen Folgen einer EU-Politik hin, die versucht, Migrationsabwehr in Staaten außerhalb der EU auszulagern. Die Seenotrettungsorganisation SOS Humanity hat in ihrem Bericht Grenzen der [Un-]Menschlichkeit die Erlebnisse von 64 geretteten Personen gesammelt, die von Libyen oder Tunesien aus versuchten, per Boot nach Europa zu gelangen. Brot für die Welt und SOS Humanity sind beide Bündnispartner von United4Rescue, die sich für die politische und finanzielle Unterstützung der zivilen Seenotrettung stark machen.

Lieber Wasil Schauseil, liebe Sofia Bifulco, was haben euch die 64 Personen, die ihr mit eurem Rettungsschiff Humanity 1 aus Seenot gerettet habt, aus Tunesien und Libyen berichtet?

Wasil Schauseil: Die Erfahrungsberichte bezeugen einen systematischen Kreislauf von Gewalt in Libyen und Tunesien: Willkürliche Inhaftierungen, sexualisierte Gewalt, Folter, Erpressung und Ausbeutung in Form moderner Sklaverei und sogar willkürliche Hinrichtungen, besonders in Libyen. Aus Tunesien berichten manche davon, verhaftet und in der Wüste ausgesetzt worden zu sein, andere von der omnipräsenten rassistischen Diskriminierung im Alltag – von verwehrter medizinischer Hilfe in Notfällen hin zu gewalttätigen Übergriffen in der eigenen Wohnung. Verantwortlich sind nicht nur nicht-staatliche Gruppen, sondern eindeutig auch staatliche Akteure, die von der EU und ihren Mitgliedstaaten Unterstützung erhalten.

In Sfax nahmen Behörden und Milizen Menschen fest und schoben sie in die Wüste zwischen Tunesien und Libyen ab. Ein Freund hat mir erzählt, dass er mit einer Gruppe anderer Menschen in die Wüste gebracht wurde. Er hat 37 Frauen gesehen, die dort vergewaltigt wurden. Frauen, die versuchen, sich zu wehren, werden bedroht und mit Waffen geschlagen. Die abgeschobenen Männer mussten dabei zusehen, und einige von ihnen waren Familienangehörige oder Freunde. [Geflüchteter aus dem Sudan]

In den letzten 10 Jahren hat die EU laut euren Berechnungen 242 Millionen Euro in die Kooperation mit Tunesien und Libyen gesteckt, um Flucht- und Migrationsbewegungen nach Europa zu verhindern. Wie sieht das in der Praxis aus?

Sofia Bifulco: Die EU und ihre Mitgliedstaaten bauen seit Jahren die sogenannte libysche und die tunesische Küstenwache auf, mit Geld, Training und Ausrüstung. Dabei versucht die EU den Anschein zu erwecken, dass diese Küstenwachen legitime Such- und Rettungsakteure seien. Unsere Beobachtungen auf See und die der im Bericht zu Wort kommenden Schutzsuchenden zeigen das krasse Gegenteil. Es geht nicht darum, Menschen aus Seenot zu retten und sie an einen sicheren Ort zu bringen. Es geht darum sie abzufangen und gewaltsam zurück in die Länder und die Gewaltkreisläufe zu zwingen, aus denen sie entkommen wollten.

Wasil Schauseil: Die EU spricht immer davon, „Schleuser zu bekämpfen“. Die Geschichten der Überlebenden belegen eindeutig das Gegenteil.  Die europäische Kooperation mit Tunesien und Libyen befeuert die Misshandlung und Ausbeutung von schutzsuchenden Menschen. Bei der sogenannten libyschen Küstenwache wissen wir, dass sie enge Verbindungen zu den Schmugglern und Milizen haben, die Migrant*innen einsperren, sie foltern, vergewaltigen und Lösegeld von deren Familien erpressen. Diese Akteure arbeiten in vielen Fällen zusammen – de facto handelt es sich oft sogar um dieselben Personengruppen. Sie verdienen durch ihre schmutzige Arbeit für die Abschottung Europas, ebenso wie an der systematischen Ausbeutung von Migrant*innen.

Als wir die maltesischen Hoheitsgewässer erreichten, kam ein kleines Aufklärungsflugzeug vorbei und machte Fotos von unserem Boot. Etwa vier Stunden später kam ein maltesisches Flugzeug und warf in unserer Nähe eine Rauchbombe ab, die offenbar ein Signal für die Küstenwache war. Etwa eine halbe Stunde später tauchte die libysche Küstenwache hinter unserem Boot auf und brachte uns zurück. Eigentlich hat die Küstenwache keine direkte Verbindung zum Gefängnis, aber sie verkaufen uns gegen Geld an sie, um Profit zu machen. [Ramadan* Namen geändert]

Auf euren Rettungseinsätzen trefft ihr immer wieder auf die libysche oder tunesische Küstenwache. Welche Erfahrungen habt ihr dabei gemacht, und was erzählen euch gerettete Menschen über sie?

Sofia Bifulco: Die Geschichten von Geretteten ähneln sich auffallend, und das seit Jahren: Menschen werden abgefangen, aus den Booten gezwungen, geschlagen, häufig fallen Menschen ins Wasser oder springen über Bord, aus Furcht davor, nach Libyen oder Tunesien zurückgebracht zu werden. Häufig sagen Gerettete uns, dass sie lieber ertrinken würden, als zurück nach Libyen zu müssen. Auch unsere Rettungen wurden schon mehrmals von der sogenannten libyschen Küstenwache unterbrochen. Letztes Jahr schossen sie dabei ins Wasser, mehrere Dutzend Menschen sprangen vor Panik über Bord.

Als wir das erste Mal versuchten zu fliehen, kamen die Libyer. Sie nahmen unser Geld und schossen auf das Boot, sodass wir anfingen zu kentern. Ich habe meine beiden Brüder im Meer verloren, sie sind beide ertrunken. [Fatime*, Name geändert]

Wasil Schauseil: Es ist irreführend, diesen Akteuren den Status offizieller Seenotrettungsorgane zu verleihen. Ihre Arbeit ähnelt eher der von organisierten kriminellen Netzwerken, deren Handlungen täglich direkt oder indirekt zu Todesfällen und Menschenrechtsverletzungen führen. Die Überlebenden erzählten uns in den Erfahrungsberichten auch, dass die europäischen Behörden es versäumten, sie zu retten oder Rettungseinsätze zu koordinieren, und stattdessen dazu beitrugen, dass die tunesische und die sogenannte libysche Küstenwache sie zurückzwang.

Schwere Menschenrechtsverletzungen der libyschen und tunesischen Küstenwache sowie anderer Sicherheitskräfte der beiden Länder werden seit Jahren von euch und anderen dokumentiert. Trotzdem setzt die EU ihre Zusammenarbeit fort. Welches Bild von Europa zeichnet das für euch?

Wasil Schauseil: Das Bild eines Europas, welches hinter dem Mythos humaner „Migrationskontrolle“ eine kalkulierte Abschreckungspolitik verfolgt, die tausendfach das Leid und den Tod schutzsuchender Menschen nicht nur in Kauf nimmt, sondern solche Kreisläufe noch bestärkt.  An diesem Mythos halten sich politische Entscheidungsträger*innen weiter fest, wie Außenminister Wadephul kürzlich wieder bestätigte. In seiner Rechtfertigung für die Einstellung von Geldern des Auswärtigen Amtes für die Seenotrettung bekräftigte er, dass er seine politische Energie lieber auf die Zusammenarbeit mit nordafrikanischen Ländern fokussieren wolle, anstatt sich für die Pflicht der Seenotrettung einzusetzen.

Wie du gerade beschrieben hast, wird die Bundesregierung die Finanzierung der Seenotrettung einstellen. Wie betrifft euch das und welche Folgen hat das für die zivile Seenotrettung insgesamt?

Wasil Schauseil: Das betrifft uns konkret. Auch wenn wir angesichts der Migrationspolitik der neuen Bundesregierung nicht überrascht waren, sind wir empört, dass die ohnehin bescheidene Unterstützung von zwei Millionen Euro pro Jahr vorzeitig gestrichen wurden. Die zivile Flotte übernimmt eine Aufgabe, die eigentlich eine staatliche, im Seerecht verankerte Pflicht ist, aber die Bundesregierung entzieht sich ihrer Verantwortung. Wir haben immer deutlich gemacht, dass wir ein staatliches, europäisch finanziertes und koordiniertes Seenotrettungsprogramm für das zentrale Mittelmeer fordern.

Vielen Dank für euren Einsatz und das Interview.

Sofia Bifulco ist Teil der Einsatzleitung auf See und nimmt Erfahrungsberichte von Geretteten auf.Wasil Schauseil koordiniert die Einsatzkommunikation an Land. SOS Humanity hat in den letzten 10 Jahren mehr als 38.000 Personen aus Seenot gerettet.

 

Am 9.9. laden Brot für die Welt und Misereor ein zur Veranstaltung Tunesien - Türsteher Europas? Dort diskutieren wir u.a. mit Romdhane Ben Amor vom Tunesischen Forum für Wirtschaftliche und Soziale Rechte (FTDES) über die Folgen des EU-Tunesien Deals, der vor zwei Jahren geschlossen wurde. Anmeldungen sind hier möglich.

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Kleinbäuerin Claudine Hashazinyange mit Avocados vom Baum ihres Schwiegervaters.

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