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Russische Stimmen und Aktionen gegen den Krieg

Für uns ist es einfach gemeinsam gegen den Krieg auf die Straße zu gehen oder Statements für den Frieden zu unterzeichnen. Friedensaktivist:innen in Russland drohen Verhaftungen und Strafverfahren bei Demonstrationen und Petitionen. Trotzdem ist die russische Zivilgesellschaft aktiv, geht auf die Straße und erhebt ihre Stimme gegen den Krieg. Wir möchten auf Aktionen und Petitionen hinweisen.

Von Christine Meissler am

Hintergrund

Alle, die sich in Russland an Petitionen und Demonstrationen gegen den Krieg einsetzen, gehen ein hohes persönliches Risiko ein. Schon seit längerem sind legale Proteste in Russland kaum mehr möglich. Die Meinungs- und Pressefreiheit sind stark eingeschränkt. Unabhängige zivilgesellschaftliche Organisationen werden seit Jahren systematisch unterdrückt. Friedensaktivist:innen in Russland drohen physische Gewalt, Verhaftung und Strafverfahren, wenn sie gegen den russischen Angriff protestieren oder Petitionen unterschreiben. Die russische Generalstaatsanwaltschaft gab bekannt, dass Teilnehmende an Antikriegskundgebungen wegen Beteiligung an Aktivitäten einer extremistischen Organisation strafrechtlich verfolgt werden können. Die Staatsanwaltschaft begründete die Anklage damit, dass die Strukturen des inhaftierten Oppositionellen Nawalny unter anderem zu gewalttätigen Aktionen und Massenunruhen aufgerufen hätten. Zuvor hatte der Leiter des nationalen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, die Bildung von Ermittlungs- und operativen Soforthilfeteams angeordnet, um „extremistische und terroristische Manifestationen, unkoordinierte Protestaktionen und Provokationen sowie andere Aktionen zur Destabilisierung der Lage in der Russischen Föderation zu unterdrücken“.

Der Soziologe Grigorij Judin wurde selbst in der vergangenen Woche bei einer Demonstration schwer verletzt und beschreibt die Situation in einem Interview folgendermaßen: „Wir leben nicht in Berlin, wo es einfach ist, für etwas zu demonstrieren. Hier könntest du eine Gehirnerschütterung bekommen. Du könntest die Nacht auf dem Polizeirevier verbringen und aufgefordert werden, deine Shorts [für eine Leibesvisitation] auszuziehen, du [könntest] strafrechtlich verfolgt werden, und in der gegenwärtigen Situation kannst du nicht ausschließen, dass du bald zu zwanzig Jahren oder einem Erschießungskommando verurteilt werden könntest.“

Alle Medien in Russland werden massiv unter Druck gesetzt: Am 24. Februar wies die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor alle Medien an, bei der Berichterstattung über den Einmarsch Russlands in der Ukraine nur Informationen aus offiziellen staatlichen Quellen zu verwenden. Wer sich dieser Anordnung widersetzt, muss mit der Sperrung seiner Website und einer Geldstrafe von umgerechnet bis 62.200 US Dollar rechnen.
Am 4. März meldete die NGO NetBlocks, dass unabhängige Medien wie die Deutsche Welle, die BBC und Meduza in Russland nicht mehr oder nur noch teilweise erreichbar sind.
Ebenfalls am 4. März hat das russische Oberhaus, der Förderationsrat, Änderungen im Strafrecht beschlossen: Ein neuer Artikel „über die öffentliche Verbreitung wissentlich falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte zum Schutz der Interessen Russlands und seiner Bürger" sieht für Falschnachrichten eine Haftstrafe bis zu 15 Jahre vor. Ein zweiter neuer Artikel macht bei Diskretitierung der russischen Streitkräfte eine Haftstrafe bis zu fünf Jahren möglich. Eine weitere Änderung im Strafrecht: Der Aufruf zur Verhängung von Sanktionen gegen Russland wird nun mit bis zu drei Jahre Haft bestraft.

 

Wir möchten hier auf Aktionen und Petitionen der russischen Zivilgesellschaft hinweisen. Auch sie brauchen unsere Unterstützung und Solidarität:

 

24. Februar 2022

Seit Kriegsbeginn gibt es zahlreiche Demonstrationen im ganzen Land: Trotz der Gefahr von Verhaftung und Strafverfahren protestieren vom 24. Februar an viele Menschen auf Straßen und Plätzen in ganz Russland. Am ersten Kriegstag protestieren mindestens 2.000 Menschen auf dem Puschkin Platz in Moskau. Bis zum 4. März wurden mehr als 8.250 bei Friedensdemonstrationen verhaftet.

Die Webseite der Menschenrechtsorganisaiton OVD-Info veröffentlicht seit dem 24. Februar die Anzahl der Demonstrierenden, die bei Friedenskundgebungen festgenommen werden. OVD-Info wird seit September 2021 von den russischen Behörden als „ausländischer Agent“ geführt.

Die staatliche Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor hat am 25.12.2021 auf Veranlassung des Moskauer Luchovizkij Gerichts die Website von OVD-Info blockiert und diese Entscheidung mit der Rechtfertigung von Terrorismus und Extremismus durch OVD-Info begründet.

 

Dimitri Muratow, Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der Novaja Gazeta verurteilt in einem Videokommentar seiner Zeitung den Krieg:
„Unser Land hat auf Befehl von Präsident Putin einen Krieg begonnen. Und es gibt niemanden, der den Krieg aufhält.“ Außerdem ruft Muratow zu einer innerrussischen Friedensbewegung auf, die Druck auf die Regierung ausüben soll. Nur so kann der atomare Krieg vermieden und „das Leben auf diesem Planeten“ gerettet werden.

Weil die russische Regierung verbietet, die „Sonderoperation“ als Krieg oder Angriff zu bezeichnen, zwingen die russischen Behörden die Novaja Gazeta das Statement von der Seite zu nehmen. Die Novaja Gazeta informiert trotzdem detailliert mit einem „Live Ticker“ über das Kriegsgeschehen in der Ukraine.

 

Videostatement gegen den Krieg des bekanntesten russischen Rappers Oxxxymiron auf Instagram:
„Ich bin gegen den Krieg, den Russland gerade gegen die Menschen in der Ukraine entfesselt. Ich denke, das ist eine Katastrophe und ein Verbrechen.“ Er erinnert an den Vietnamkrieg der USA und die große Friedensbewegung, die als Reaktion entstand. „Wir brauchen jetzt eine solche Bewegung“, sagt der Musiker mit Blick auf Russland in seinem Video.

 

Statement gegen den Krieg von Blogger und Journalist Juri Dud (10 Mio Abonnenten bei Youtube, 5 Mio Follower bei Instagram):
„Ich habe diese Regierung nicht gewählt. Ich habe ihre imperiale Raserei nicht unterstützt.“

Die russische Behörde „Liga für sicheres Internet“ bat danach bei einer Dringlichkeitssitzung darum, den Blogger auf die Liste der „ausländischen Agenten“ zu setzen.

 

Offener Brief von mehr als 600 Wissenschaftler:innen (Stand 2.3.2022: mehr als 6.000 Unterschriften):
„Wir, die russischen Wissenschaftler und Wissenschaftsjournalisten, protestieren entschieden gegen die Militäraktion der Streitkräfte unseres Landes in der Ukraine. Dieser fatale Schritt führt zu enormen Verlusten an Menschenleben und untergräbt die Grundlagen des etablierten Systems der internationalen Sicherheit. Die Verantwortung für die Entfesselung eines neuen Krieges in Europa liegt allein bei Russland.“ 

 

25. Februar 2022

Als Zeichen der Verbundenheit mit der ukrainischen Bevölkerung veröffentlicht die russische Zeitung Novaja Gazeta eine russisch-ukrainische Ausgabe, in der sie über den Krieg berichtet:
„Weil wir die Ukraine nicht als Feind und die ukrainische Sprache nicht als Sprache des Feindes ansehen. Und niemals ansehen werden.“ 

Außerdem veröffentlicht die Novaja Gazeta in den nächsten Tagen Kommentare und Anti-Kriegs-Statements von russischen Schriftsteller:innen, Künstler:innen und Intellektuellen.

 

26. Februar 2022

Offener Brief von Mitarbeitenden russischer Nichtregierungsorganisationen (Stand 4.3.2022: 589 Mitzeichnungen):
"Wir sind gegen die militärischen Aktionen, die unser Land auf dem Territorium der Ukraine durchführt. Unsere gesamte Arbeit besteht darin, für die Menschenwürde zu kämpfen und Leben zu retten. Krieg ist weder mit dem Leben, noch mit der Würde, noch mit den Grundprinzipien der Menschlichkeit zu vereinbaren. Krieg ist eine humanitäre Katastrophe, die Schmerz und Leid vervielfacht. Die Folgen machen jahrelange Bemühungen zunichte. Wir halten die Anwendung von Gewalt zur Lösung politischer Konflikte für unmenschlich und fordern Sie zu einem Waffenstillstand und zur Aufnahme von Verhandlungen auf.“

 

Offener Brief von mehr als tausend russischen Ärzt:innen, Krankenschwestern, Krankenpflegern und Sanitäter:innen veröffentlicht:
Sie appellieren an Präsident Putin und fordern ein Ende der Feindseligkeiten in der Ukraine. Der offene Brief wurde auf dem Telegram-Kanal der Initiativgruppe veröffentlicht. „Wir haben einen Eid geschworen, allen Menschen zu helfen, unabhängig von ihrer Nationalität, Religion oder politischen Einstellung. Aber jetzt reicht unsere Hilfe nicht mehr aus. Der Krieg wird so viele Menschenleben fordern und so viele Schicksale verkrüppeln, dass wir keine Zeit haben werden, mit all unseren Bemühungen zu helfen. Jede Granate oder Kugel, selbst wenn sie ihr Ziel nicht erreicht und jemanden getötet hat, bringt immer noch Angst, Panik und Schmerz mit sich. Schmerzen, die das Herz schmerzen lassen. Die Herzen der Zivilbevölkerung schmerzen in diesem Moment. Soldaten. Mütter und Ehefrauen von Soldaten. Kinder. Niemand hat diese Angst verdient.“

 

Offener Brief von 2.300 Architekt:innen und Stadtplaner:innen gegen den Krieg mit der Ukraine:
Außenpolitische Fragen müssen ausschließlich mit friedlichen Mitteln gelöst werden, heißt es in dem Brief. Krieg kann im 21. Jahrhundert kein Mittel der Politik sein. Der Brief bezeichnet die Offensive der russischen Truppen als inakzeptabel. Krieg entwertet das Wesen eines Architekten und Stadtplaners, egal in welchem Land er sich befinde. Er verletzt das Recht der Menschen auf Leben, Sicherheit, Selbstverwirklichung, eine angenehme und gesunde Umwelt – "all die Werte, die die Grundlage unserer Arbeit bilden". Der Respekt der Nachbarn könne nicht durch Gewalt oder Zerstörung erworben werden.

 

28. Februar 2022

Offener Brief von Priestern und Diakonen der russisch-orthodoxen Kirche (Stand 4.3.2022: 275 Mitzeichnungen)
„Wir, die Priester und Diakone der Russisch-Orthodoxen Kirche, jeder in seinem eigenen Namen, appellieren an alle, von denen die Beendigung des Bruderkriegs in der Ukraine abhängt, zur Versöhnung und zu einem sofortigen Waffenstillstand. Das Jüngste Gericht wartet auf alle. Keine irdische Autorität, kein Arzt, kein Wächter wird uns vor diesem Gericht schützen. In der Sorge um das Heil eines jeden Menschen, der sich als Kind der russisch-orthodoxen Kirche betrachtet, wünschen wir nicht, dass er mit der schweren Last der mütterlichen Flüche vor dieses Gericht kommt. (…)
Wir sind traurig, wenn wir an die Kluft denken, die unsere Kinder und Enkelkinder in Russland und der Ukraine überbrücken müssen, um wieder Freunde zu werden, sich gegenseitig zu respektieren und zu lieben. Wir respektieren die göttliche Freiheit des Menschen und glauben, dass das ukrainische Volk seine Entscheidung selbst treffen muss, nicht unter dem Gesichtspunkt automatischer Waffen, ohne Druck aus dem Westen oder dem Osten. (…)
Kein gewaltloser Aufruf zum Frieden und zur Beendigung des Krieges darf gewaltsam zurückgewiesen und als Verstoß gegen das Gesetz betrachtet werden, denn dies ist das göttliche Gebot: Selig sind, die Frieden stiften."

 

Offener Brief von 120 prominenten russischen Filmemacher:innen:
Sie fordern einen sofortigen Waffenstillstand, eine Beendigung der „militärischen Aggression“ und den Rückzug der russischen Truppen. Die so genannte „Militäroperation“ wird Russland für Jahrzehnte vom Rest der Welt isolieren, es von der internationalen Kulturszene verdrängen, zu verheerenden Folgen für seine Wirtschaft führen und "uns und unsere Kinder mit verdienter Schande besudeln. Wir haben nicht genug getan, um diesen Krieg zu verhindern, aber wir wollen ihn nicht – und werden nicht zulassen, dass er in unserem Namen geführt wird.“

 

Aktualisiert am 4. März 2022

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