Soledad Jarquín Edgar ist die Mutter von María del Sol Cruz Jarquín, einer mexikanischen Fotojournalistin, die im Jahr 2018 ermordet wurde. Ihr Fall steht exemplarisch für einen der vielen Morde an Frauen in Mexiko, die zum einen nicht verhindert und zum anderen in den meisten Fällen auch nicht von der Justiz aufgeklärt werden. Wenn der Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechts passiert, spricht man von „Femizid“. Wenn eine politische Dimension hinzukommt, wie die staatliche Verantwortung bei der Verhinderung dieser Verbrechen, oder die institutionelle Gewalt etwa in Form von Straflosigkeit Femizide wesentlich begünstigt, spricht man von „Feminiziden“.
Wir haben mit Soledad Jarquín Edgar nach einem Fachgespräch bei Brot für die Welt, das gemeinsam mit der Deutschen Menschenrechtskoordination Mexiko organisiert wurde, sprechen können.
Vor wenigen Tagen jährte sich zum vierten Mal die Ermordung ihrer Tochter María del Sol. Was war genau geschehen?
Meine Tochter ist während eines Wahlkampfs im Juli 2018 ermordet worden. Sie war bei der Regierung angestellt und wurde von ihrem Vorgesetzten illegalerweise auf eine Reise geschickt. Sonst hätte sie ihren Job verloren. Die Wahlen, aus der auf Bundesebene der amtierende Präsident López Obrador als Sieger hervorging, waren die gewalttätigsten der mexikanischen Geschichte. Nie wurden mehr Kandidatinnen und Kandidaten ermordet. Der Mord an meiner Tochter geschah in Juchitán de Zaragoza im Isthmus von Tehuantepec im Bundestaat Oaxaca, laut staatlichen Angaben einer der gefährlichsten Regionen des Landes. Dorthin wurde meine Tochter geschickt und dort wurde sie von einer bewaffneten Gruppe getötet. Der Angriff galt wohl eigentlich der Kandidatin Pamela Terán, die meine Tochter begleitete. Weder von der Familie von Terán noch vom ebenfalls ermordeten Fahrer der beiden wurde Nachforschungen nach dem Hintergrund der Morde angestellt. Ich werde aber erst Ruhe geben, wenn es Gerechtigkeit in diesem Fall gibt.
Steht in diesem Zusammenhang auch ihr Besuch bei Brot für die Welt?
Ja, genau. Wir sind derzeit auf einer Rundreise durch Europa. Es geht uns um Aufmerksamkeit für die noch immer andauernde Straflosigkeit im Fall des Feminizids an meiner Tochter. Wir treffen auf unserer Reise verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich dem Kampf gegen Feminizide und der Gerechtigkeit in Mexiko verbunden fühlen. Außerdem waren wir in Genf bei den Vereinten Nationen, um eine internationale Klage gegen den mexikanischen Staat einzureichen. Dieser hat vier Jahre nach dem Mord an meiner Tochter noch immer keinerlei Aufklärung geleistet hat, auch wenn es mir unter anderem von Präsident Andrés Manuel López Obrador persönlich versprochen wurde. Wir waren auch in Brüssel, um uns dort mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments zu treffen. In Mexiko konnten wir nichts mehr ausrichten, deswegen sind wir hier.
Welchen Gefahren und Risiken sind Frauen in Mexiko ausgesetzt?
In Mexiko werden pro Tag durchschnittlich elf Frauen getötet. Etwa die Hälfte von ihnen wird von Personen, in aller Regel Männer, getötet. Sie stammen sehr oft aus dem persönlichen Umfeld der Frauen. Sei es der Ehemann, der Ex-Mann, der Freund oder Ex-Freund, der Vater oder der Cousin. Die andere Hälfte der Frauen wird auf der Straße ermordet, ohne dass man danach wüsste, wer der Mörder war.
Mexiko befindet sich in einer schweren Sicherheitskrise. Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass wir Grenze an Grenze mit verschiedenen Gruppen des Drogenhandels leben. Ganz Mexiko ist in deren Würgegriff. Wir leben mit und in einem großen und ständigen Risiko. Dies geht außerdem Hand in Hand mit dem „Machismo“, also einem übersteigerten Männlichkeitsgefühl, und der generellen Gewalt, die in unserer Gesellschaft herrscht. Diese Formen der Gewalt überlappen sich in Mexiko und führen zu einer hohen Zahl an Femiziden. Denn die Männer, die zu Gewalttaten neigen, sind oftmals dazu auch noch sehr eifersüchtig. Auch das führt zu Morden an Frauen.
Es gibt Organisationen, die gegen diese Missstände ankämpfen, wie beispielsweise Consorcio Oaxaca, eine Partnerorganisation von Brot für die Welt. Welche Verbindung haben sie persönlich zu Consorcio Oaxaca?
Ich kenne Consorcio, seitdem sie sich vor etwa 20 Jahren in Oaxaca gegründet haben. Ich bin mit der Gründerin der Organisation, Ana María Hernández, seit Langem befreundet. In meinem Beruf als Journalistin habe ich oft über die Arbeit von Consorcio berichtet. Als meine Tochter María del Sol dann ermordet wurde, bat Consorcio uns Hilfe an. Zunächst dachte ich, die Aufklärung des Falls würde auch so vorangehen. Schließlich akzeptierte ich nach einigen Monaten die Unterstützung von Consorcio.
Sie geben juristische Begleitung, aber auch emotionale und psychologische Unterstützung. Und das nicht nur für mich, sondern immer wieder auch für andere Familienangehörige. Consorcio gibt uns also eine umfassende Hilfe. Zunächst habe ich über Consorcio berichtet, heute bin ich eine Mutter, die nach Gerechtigkeit für ihre Tochter sucht. Und ohne Consorcio wäre ich heute nicht hier und könnte Aufmerksamkeit auf den Fall meiner Tochter und die grassierende Straflosigkeit in Mexiko richten.
Wie können Organisationen wie Consorcio dabei helfen und dazu beitragen, die Situation der Frauen in Mexiko zu verbessern und dass Femizide verhindert oder zumindest aufgeklärt werden?
Wenn die Justiz ist Mexiko so arbeiten würde, wie man es von ihr eigentlich erwarten muss, könnten sich Organisationen wie Consorcio anderen Aufgaben widmen. Da dem aber nicht so ist, sind Mütter wie ich sehr dankbar, dass es sie gibt. Und ich sage bewusst „Mütter“, da es in aller Regel die Mütter sind, die sich gegen die Straflosigkeit in Mexiko engagieren. Ich war einmal auf einem Treffen zum Thema: Dort waren etwa 100 Frauen und nur ein Mann.
Warum ist das so? Warum widmen sich vor allem Frauen diesem Thema?
Männer, und in diesen Fällen die Väter, gehen mit dem Schmerz anders um als wir Frauen. Sie verbergen ihre Gefühle. Aber die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ist auch eine viel Stärkere.
Was können wir hier in Deutschland tun, um Frauen in Mexiko zu helfen?
Zunächst denke ich, dass es wichtig ist, dass der Blick hier in Deutschland wieder in Richtung Mexiko geht. Außerdem sollen Chancen genutzt werden, wenn sie sich ergeben, sich politisch und zivilgesellschaftlich in Mexiko zu engagieren. Die politischen Entscheidungsträger dort sollten spüren, dass sie beobachtet werden, auch von internationalen Organisationen und international gültiger Gesetzgebung. Zudem sind bilaterale Beziehungen zwischen Ländern ein guter Hebel.
Interview: Jonatan Pfeifenberger