Im November 2021 besuchte der UN-Ausschuss gegen das Verschwindenlassen (CED) für 12 Tage Mexiko. Die Ausschussmitglieder sprachen mit Behörden, hunderten von Angehörigen Verschwundener und Opferverbänden sowie zivilgesellschaftlichen Organisationen und Expert:innen, begleiteten Suchbrigaden, nahmen an Exhumierungen teil und besuchten Gefängnisse. In diesen 12 Tagen verschwanden im Land offiziellen Angaben zufolge weitere 112 Menschen.
Die Zahlen sind Ausdruck der tiefgreifenden Menschenrechtskrise in Mexiko, die mit dem Verschwinden der 43 Studenten aus Ayotzinapa im Jahr 2014 international Aufmerksamkeit erzeugte.
Der Besuch in Mexiko ist der erste in der Geschichte des CED. Das Komitee hatte den Besuch bereits seit 2013 angestrebt, im August 2021 stimmte die mexikanische Regierung schließlich zu. Am 12. April stellte die Vorsitzende des UN-Ausschusses, Carmen Rosa Villa Quintana, den Bericht nun in einer virtuellen Pressekonferenz vor.
Wer lässt in Mexiko Menschen verschwinden und wer verschwindet?
Menschen gewaltsam verschwinden zu lassen hat in Mexiko, wie in anderen lateinamerikanischen Ländern, bittere Tradition. Staatliche Sicherheitskräfte ließen während des „Schmutzigen Kriegs“ (Ende der 1960er bis Mitte der 1980er Jahre) systematisch Menschen verschwinden. Dies diente vor allem der Repression von Oppositionsbewegungen und Guerrillagruppen.
Seitdem Präsident Calderón im Jahr 2006 den „Krieg gegen den Drogenhandel“ ausrief und dafür das Militär einsetzte, ist die Gewaltrate exponentiell angestiegen, das Verschwindenlassen von Menschen hat seitdem eine neue Dimension erreicht. 98% Prozent der registrierten Fälle von verschwundenen und nicht-lokalisierten Personen fallen in den Zeitraum zwischen 2006 und 2021.
Die Dynamiken des Verbrechens sind seit 2006 komplexer geworden. Der Bericht des Ausschusses identifiziert neben öffentlichen Bediensteten auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene vor allem auch das organisierte Verbrechen als verantwortlich. Staatliche Akteur:innen seien durch Mittäterschaft, Duldung oder Unterlassung in unterschiedlichem Ausmaß involviert.
Migrant:innen, die sich meist auf ihrem Weg von Zentralamerika oder südlichen mexikanischen Bundesstaaten in die USA befinden, laufen ein besonderes Risiko, Gewalt zu erfahren und Opfer von Erpressung, Menschenhandel, Zwangsrekrutierung durch Drogenkartelle, Folter und Verschwindenlassen zu werden. Auch Menschenrechtsverteidiger:innen, Journalist:innen sowie Mitglieder indigener Gemeinden, die ihre Rechte gegen wirtschaftliche Großprojekte verteidigen, und Mitglieder der LGBTIQ+-Community sind besonders gefährdet.
Straflosigkeit macht Verschwindenlassen zum „perfekten Verbrechen“
Rund 98% aller Straftaten bleiben in Mexiko straflos. In Bezug auf das Verschwindenlassen von Personen existieren bisher lediglich 36 Urteile (Stand 26. November 2021). Die passive Haltung der Justizbehörden und das fehlende Vertrauen der Betroffenen in die Institutionen führten allerdings dazu, dass viele Fälle gar nicht erst angezeigt würden. „Die Straflosigkeit“, so der Bericht „ist in Mexiko ein strukturelles Merkmal. Sie begünstigt die Reproduktion und die Verschleierung des Verschwindenlassens von Personen und gefährdet die Betroffenen, diejenigen, die ihre Rechte verteidigen, und öffentliche Bedienstete, die nach Verschwundenen suchen und die Fälle untersuchen sowie die Gesellschaft als Ganzes.“ Straflosigkeit untergrabe jegliche Initiative zur Bekämpfung und Prävention des Verschwindenlassens.
„Wenn die Staatsanwaltschaften nicht ermitteln und Strafen verhängen, ist das die implizite Erlaubnis, Menschen verschwinden zu lassen“, so Grace Fernández vom Kollektiv Búscame und der Bewegung für unsere Verschwundenen in Mexiko (MNDM), die ihren verschwundenen Bruder seit 2008 sucht, und Ana Lorena Delgadillo, Direktorin der Brot für die Welt-Partnerorganisation Stiftung für Gerechtigkeit (FJEDD).
Zudem befinden sich mehr als 52.000 (Stand November 2021) nicht-identifizierte Leichen in Massengräbern, forensischen Einrichtungen und Universitäten. Die forensischen Dienste des Landes seien nicht ausreichend: Unter den aktuellen Bedingungen, so die Expert:innen, würde es 120 Jahre dauern, alle Leichen zu identifizieren.
Politik muss vor allem auf Prävention setzen
Mit einem Gesetz gegen das Verschwindenlassen von 2017 – Ergebnis der anhaltenden Mobilisierung von Angehörigenverbänden, Menschenrechtsorganisationen und internationalen Organisationen – wurden wichtige Voraussetzungen geschaffen, die als Grundlage für die Einrichtung verschiedener Institutionen und Mechanismen, insbesondere zur Suche von Verschwundenen, Strafverfolgung und forensischen Identifizierung, dienen. Allerdings sehen sich diese in ihrer Arbeit mit großen Hürden konfrontiert, darunter mangelnde finanzielle Ausstattung und fehlende interinstitutionelle Koordination. Insbesondere bei den Staatsanwaltschaften zeige sich mangelnde Bereitschaft zur Kooperation, stellt der Bericht fest.
Daher könne gegenwärtig nicht von einer ganzheitlichen nationalen Politik zur Bekämpfung des Verschwindenlassens gesprochen werden. Damit Verschwindenlassen in Mexiko nicht länger der Inbegriff des „perfekten Verbrechens“ sei müsse diese, so machen die Expert:innen deutlich, vor allem auch auf Prävention setzen und dafür an den strukturellen Ursachen des Verschwindenlassens ansetzen. Der Bericht des CED nennt vier Mindestvoraussetzungen für die Umsetzung einer solchen Politik:
- Die Verantwortung staatlicher Akteur:innen berücksichtigen und die strukturellen Ursachen der Straflosigkeit bekämpfen
- Die Abkehr von der Militarisierung der öffentlichen Sicherheit
- Das Verschwindenlassen sichtbarer machen und die ganze Gesellschaft informieren und sensibilisieren
- Die Anwendung des bereits geschaffenen rechtlichen und institutionellen Rahmens
Aus Sicht der Betroffenen
Besonders relevant ist, dass die Expert:innen des CED es für notwendig erachten, eine Sonderkommission einzurichten, die sich aus (inter)nationalen Expert:innen zusammensetzt und das Verschwindenlassen von und die Massaker an Migrant:innen untersucht. Sie nehmen damit einen Vorschlag auf, für den sich die FJEDD und Betroffene unermüdlich einsetzen.
Dass Präsident López Obrador kurz nach Veröffentlichung des Berichts die aktuelle Verantwortung des Militärs für Fälle von Verschwindenlassen negierte und den Wahrheitsgehalt der Aussagen des Berichts in diesem Zusammenhang anzweifelte, ist bedauerlich. Die Äußerungen fügen sich jedoch in den öffentlichen Diskurs einer Regierung, die dem Militär immer weitreichendere Aufgaben zukommen lässt – von der Kontrolle der südlichen Grenze bin hin zur Entwicklung von Infrastruktur – und die (inter)nationale Kritik an der Menschenrechtslage meist als „politisch motiviert“ abweist.
Die mexikanische Regierung ist nun aufgefordert, sich innerhalb von 4 Monaten zu den Empfehlungen des Berichts zu äußern. Indes erzählt Efraín Tzuc, der als Mitarbeiter in einem Journalistennetzwerk (adondevanlosdesaparecidos.org), das von Brot für die Welt unterstützt wird, die Muster des Verschwindenlassens aufdeckt und die Stimmen der Familien immer wieder in den Blick der Öffentlichkeit rückt: „Viele Angehörige hoffen noch immer darauf, dass der Ausschuss auch von Artikel 34 des Internationalen Abkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen (ICPPED) Gebrauch macht und den Fall Mexiko der UN-Generalversammlung präsentiert.“
Umfassende Politikmaßnahmen zur Bekämpfung und Prävention des Verbrechens bedürfen, so machen es Grace Fernández und Ana Lorena Delgadillo deutlich, nicht nur der wirksamen Zusammenarbeit zwischen allen staatlichen Institutionen auf verschiedenen Ebenen. Sie machen auch die direkte Einbindung der Familienangehörigen, die oft seit vielen Jahren für Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung kämpfen, in die Entwicklung und Umsetzung dieser Maßnahmen nötig. Und noch eine Sache wünschen sich die Angehörigen, die sich im MNDM, einer Vereinigung, die mittlerweile mehr als 80 Kollektive von Angehörigen Verschwundener aus Mexiko und Zentralamerika umfasst, zusammengeschlossen haben: Dass der Präsident in seiner morgendlichen Pressekonferenz der mexikanischen Gesellschaft die wichtigsten Ergebnisse des Berichts präsentiert und offen den politischen Willen zeigt, eine solche Política Nacional endlich umzusetzen.