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Katastrophenvorsorge braucht Sozialsysteme

Die nächste Bundesregierung muss die Weichen stellen für mehr internationale Zusammenarbeit zu universeller sozialer Sicherheit. Im Rahmen der deutschen G7-Präsidentschaft 2022 hat sie die Chance, wichtige Akzente zu setzen, um sozialen Katastrophen in der Zukunft vorzubeugen.

Von Nicola Wiebe am
Eine Puppe im Schlamm der zerstörten Straßen von Honduras nach zwei Tropenstürmen.

Die nächste Katastrophe ist nicht vorhersehbar. Wirklich nicht? Seit mindestens zehn Jahren nehmen klimawandelbedingte Extremwetterereignisse an Häufigkeit zu: Starkregen, Wirbelstürme, Dürren. Auch die nächste Pandemie steht bevor. Zwar ist nicht sicher, wann und wo genau die nächsten Krisenereignisse zu erwarten sind. Dass sie auftreten werden, ist jedoch absehbar. Und dass sie überall dort in eine soziale Katastrophe münden, wo sie auf prekäre Lebenslagen, schlechte Arbeitsbedingungen und fehlende soziale Absicherung treffen, darf spätestens nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre wirklich niemanden mehr überraschen.

Der Mitte September veröffentlichte Weltrisikobericht 2021 zeigt erneut eindrücklich auf, wie durch die zunehmenden Krisenereignissen auf der einen Seite und die Verwundbarkeit von Menschen und Ländern auf der anderen Seite eine Abwärtsspirale entsteht, die jeglichen Fortschritt in der Bekämpfung von Hunger, Armut und Ungleichheit zunichte machen kann.

Soziale Sicherheit wirkt

Länder mit sozialen Sicherungssystemen sind ganz anders in der Lage, mit Krisenereignissen umzugehen. Soziale Sicherheit reduziert die Verwundbarkeit im Vorfeld und federt in der Krise die Auswirkungen auf die Einzelnen und auf die Gesellschaft insgesamt ab.

Ein gesicherter Zugang zum lebensnotwendigen Minimum, einschließlich essentieller Gesundheitsversorgung, schafft eine stabile Ausgangsbasis. Die Absicherung eröffnet Handlungsspielräume, bescheidene Risiken einzugehen, um sich an Veränderungen anzupassen oder Einkommensquellen zu diversifizieren. Maßnahmen der öffentlichen Beschäftigung tragen nicht nur zur Sicherung der Existenz der einzelnen Programmteilnehmer und ihrer Familien bei. Sie können auch dem Gemeinwohl dienen und beispielsweise durch den Bau von Bewässerungsanlagen oder Dämmen ganz gezielt dazu beitragen, die Anfälligkeit für Schäden zur reduzieren.

Im Fall einer Krise schützen soziale Sicherungssysteme. Etablierte Sozialprogramme können als Vehikel dienen, um schnell und effektiv Nothilfe zu leisten, beispielsweise durch die zusätzliche Berücksichtigung der vom Krisenereignis besonders betroffenen Menschen in bereits funktionierenden Sozialhilfeprogrammen im Rahmen von Kurzarbeitergeldzahlungen oder in öffentlichen Beschäftigungsgarantien. Eine andere Möglichkeit ist eine befristete Erhöhung von Kindergeld oder anderen Sozialtransfers, um Existenzgrundlagen abzusichern. Das verhindert Schulabbrüche zur Arbeitsaufnahme und ähnliche Überlebensstrategien, die langfristig Verarmung zementieren. Gleichzeitig wird die Nachfrage gestützt und so die Tiefe und Dauer der Krise für die Gesamtgesellschaft abgemildert.

Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme, die sowohl in der Krise schützen als auch zu Prävention und Überwindung von Verwundbarkeit beitragen, ist eine große Herausforderung. Nicht zuletzt die Finanzkrise 2007/08 und die Coronakrise 2020/XX haben gezeigt, dass erfahrene Institutionen und eingeübte Verfahren erheblich zuverlässiger, umfassender und effizienter schützen. Im Rückblick auf die Finanzkrise ist erkennbar, dass der wirtschaftliche Abschwung in Ländern mit etablierten sozialen Sicherungssysteme geringer und kürzer ausgefallen ist. Während der Coronakrise wurden bislang mehr als 3300 Maßnahmen der sozialen Sicherheit in nahezu allen Ländern weltweit aufgelegt. Trotz dieser immensen Anstrengungen konnten in vielen Ländern gerade die Schwächsten nicht erreicht werden, weil sie bislang weder im Sozialsystem erfasst sind noch Institutionen und Kanäle darauf vorbereitet waren, sie mit Auszahlungen zu erreichen.

Schluss mit der Vogel-Strauß-Politik

Kurzfristig in Krisensituationen aufgelegte Programme sind nicht so leicht in der Lage, unmittelbar zur Schadensreduzierung und Bewältigung beizutragen und die soziale Katastrophe zu verhindern, geschweige denn langfristige gesellschaftliche Veränderungen voranzubringen. Deshalb erwarten wir von der neuen Bundesregierung, dass sie von Tag eins an entschieden vorangeht. Die deutsche G7-Präsidentschaft im Jahr 2022 ist eine gute Gelegenheit, Anstöße für ein gemeinsames Handeln der Staatengemeinschaft zu geben.

Eine legitime Grundlage dafür ist die Empfehlung 202 zu sozialer Grundsicherung, die im Jahr 2012 durch 187 Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen angenommen wurde. Die Staaten haben sich durch diese Empfehlung dazu verpflichtet, soziale Grundsicherung für alle Einwohner:innen zu gewährleisten. Das beinhaltet minimale Einkommenssicherheit und Zugang zu essentieller Gesundheitsvorsorge. Darauf sollen umfassendere Sicherungsprogramme aufgebaut und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Zehn Jahre nach der feierlichen Selbstverpflichtung ist es dringend an der Zeit, Fortschritte in der Umsetzung zu beschleunigen.

Globale Verantwortung wahrnehmen

Dafür ist – unter anderem – ein internationaler Finanzierungsmechanismus notwendig, um die Staaten beim Aufbau sozialer Grundsicherung zu unterstützen, die derzeit finanziell dazu noch nicht in der Lage sind. Das sind häufig die Staaten, die Krisenereignissen in besonderem Maße ausgesetzt sind. Im Zentrum stehen dabei die Idee einer globalen Risikogemeinschaft und das sozialpolitische Solidarprinzip in klarer Abgrenzung von neokolonialen Mustern der Fremdbestimmung. Ein multilateral – entsprechend der Wirtschaftskraft der Länder – finanzierter globaler Fonds für soziale Sicherheit würde sich in erster Linie am Aufbau und an der vorübergehenden Ko-Finanzierung von sozialer Grundsicherung in Ländern mit niedrigem Einkommen beteiligen. Mögliche Finanzierungsquellen sind dafür speziell designierte Steuern oder Abgaben (zum Beispiel Finanztransaktionssteuer, Abgabe auf Flugtickets) oder Mittel der internationalen Zusammenarbeit. Der Fonds würde außerdem in Krisensituationen tätig, damit soziale Sicherungssysteme angemessen reagieren können.

Katastrophenvorsorge braucht soziale Sicherungssysteme. Wir brauchen eine Regierung, die angesichts der absehbaren Krisen initiativ globale Verantwortung übernimmt und das Menschenrecht auf soziale Sicherheit auch für die voranbringt, die derzeit am weitesten zurückgelassen werden.

 

Dieser Text ist ein Beitrag in der Reihe #brotfürdiewahl im Vorfeld der Bundestagswahl 2021. Alle weiteren Beiträge finden Sie hier.

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