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Internationale Beobachtungsmission in Kolumbien

Seit dem im April ausgerufenen landesweiten Streik und dem folgenden sozialen Aufstand ist die Lage in Kolumbien in vielerlei Hinsicht prekär, weshalb eine Internationale Beobachtungsmission notwendig ist.

Von Wolfgang Seiß am
Mission

Emblem der Mission

Den friedlichen Protesten anlässlich einer Steuerreform, die in Pandemiezeiten ausgerechnet geringverdienende Einkommensgruppen zusätzlich belastet hätte, begegnete die Regierung mit einem rabiaten und unverhältnismäßigen Polizeieinsatz. Insbesondere durch den brachialen Einsatz spezieller Polizeieinheiten wie der Anti-Aufstandsschwadron der Nationalpolizei (ESMAD), die mit großer Gewalt gegen friedlich Demonstrierende vorgingen, und paramilitärischer Gruppierungen. Die Eskalation wurde auch von anderen Gruppen benutzt: Zerstörungen am öffentlichen Nahverkehrssystem und Straßenblockaden wurden von der Regierung als Argument gegen alle Protestierenden angebracht. Bei einigen Brandstiftungen ist es bis heute unklar, wer die Urheber waren, Provokateure sind nicht auszuschließen. Die mangelhafte Umsetzung der Friedensabkommen, der für November anstehende Bericht der Wahrheitskommission und die Präsidentschafts- und Kongresswahlen im Jahr 2022 erhöhen die Spannungen zusätzlich. Verschiedene in Kolumbien vertretene deutsche Organisationen sind wie viele unsere Partnerorganisationen von Brot für die Welt der Meinung, dass sich die Lage zunehmend verschlechtert.

Verhandlungen - Fehlanzeige

Eine ernsthafte Verhandlungsbereitschaft der Regierung ist nicht zu erkennen. Dies war auch der Grund dafür, dass sich das Nationale Streikkomitee (Comité de Paro) aus den Verhandlungen zurückzog, die unter Begleitung von Monseñor Henao ((Nationaler Sekretär der Sozialpastorale) und der Vertreterin des UN Hochkommissariats für Menschenrechte in Bogotá, Juliette de Rivero, stattfanden. Das Streikkomitee, bestehend aus traditionellen Organisationen wie den Gewerkschaften, rief zwar den Streik aus, repräsentierte aber bald nicht mehr die Vielzahl der Akteure, die für lokale, regionale und landesweite Rechte auf die Straßen gingen. Ein Großteil davon sind Jugendliche in marginalisierten Stadtvierteln ohne Zukunft, Ausbildung oder Einkommen, die zu Protagonist*innen der Proteste wurden und sich auch durch das Streikkomitee nicht wirklich vertreten fühlen. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt nach offiziellen Zahlen bei 18 % und insgesamt gelten derzeit knapp 30 Millionen (bei einer Gesamtbevölkerung von 50 Millionen) Menschen als arm.

„Primeras Lineas“ - Polizeigewalt

Obwohl die großen Protestdemonstrationen und Straßenblockaden in den letzten Wochen zurückgingen, werden weiterhin v.a. Jugendliche verschleppt, verhaftet und ermordet. Vor allem Mitglieder der Primeras Lineas sind einer permanenten Bedrohung ausgesetzt: Die „Primeras Lineas“, die „ersten Linien“ von Demonstrant*innen organisierten sich in vielen Städten: Sie versuchen mit selbstgebastelten Schildern, die zumeist friedlichen Demonstrationen vor den Angriffen der Polizei zu schützen, wehren sich gegen Polizeieinsätze. Gleichzeitig sind sie oft Sprecher/innen ihrer Stadtteile und werden von der Bevölkerung unterstützt. Nach dem Abflauen der großen Proteste werden sie durch gezielte Aktionen von Polizeieinheiten aus ihren Häusern geholt, verschleppt oder verhaftet. Fingierte juristische Anklagen, die jeglicher Grundlage entbehren, werden bereits als „Falsos Jurídicos“ bezeichnet. In Erinnerung an die über 6.000 „Falsos Positivos“, ermordete Zivilist*innen, die die Militärs als Mitglieder der FARC ausgaben, um „Erfolge“ nachweisen zu können. Die bisherige Bilanz der Polizeigewalt ist aufgrund der Schwierigkeit, sich einen Überblick zu verschaffen, weiterer Fälle, usw. unvollständig. Bislang dokumentiert sind vielfache Fälle sexualisierter Gewalt durch die Polizeieinheiten, über 80 Menschen mit Augenverletzungen, aufgrund gezielter Schüsse von Gummigeschossen durch die Polizeieinheiten, eine Vielzahl von Fällen willkürlicher Verhaftungen, mindestens 80 Fälle von Verschwinden-Lassen, über 80 Tote, über Tausend Verletzte. Darunter viele Schussverletzungen von Jugendlichen im Rückenbereich. Besonders besorgniserregend angesichts der Geschichte Kolumbiens und dem Unwesen der Paramilitärs, die in enger Abstimmung mit den Sicherheitskräften Zivilist*innen ermordeten und vertrieben ist, dass auch jetzt wieder bewaffnete Zivilisten im Verbund mit der Polizei Jagd auf Demonstrant*innen machen. Viele Stimmen sprechen bereits von urbanen Paramilitärs. Eine kritische Berichterstattung wurde und wird massiv behindert. Die „Amerikanische Journalistenföderation“ FLIP reichte darüber einen Bericht bei der interamerikanischen Menschenrechtskommission ein., aber eine juristische Aufarbeitung, ja selbst eine Anzeigenerstattung, ist unwahrscheinlich in einem Land, in dem laut dem UN Hochkommissariat für Menschenrechte die Straflosigkeitsrate zwischen 87 und 94 % liegt.

Internationale Beobachtungsmission

In diesem Kontext, der eine internationale Begleitung und intensivere Beobachtung erfordert, luden vor einem Monat sechs Menschenrechtsorganisationen – darunter vier Partnerorganisationen von Brot für die Welt, zu einer internationalen Beobachtungsmission ein. Diese Bitte wurde auch an Brot für die Welt und Misereor herangetragen, die aus Gründen der Corona Pandemie einer direkten Teilnahme nur eingeschränkt nachkommen konnten. An der internationalen Mission mit dem Titel, „Internationale Beobachtungsmission zur Bekräftigung des sozialen Protestes und gegen die Straflosigkeit“ vom 03 bis zum 12 Juli 2021 nehmen 40 Personen aus 11 Ländern Europas, der USA, Kanada und Lateinamerikas teil. Diese sind Expert*innen in unterschiedlichen Themen (Verschwindenlassen, Folter, soziale Proteste, juristische Verfahren, psychosoziale Begleitung, Gewalt gegen Frauen, politische Analyse und Dialog mit kirchlichen Autoritäten, Konflikttransformation), Aktivist*innen, regionale und nationale Kirchenvertreter wie auch ein Vertreter des Vatikans. Dabei besuchen die Mitglieder der Mission insgesamt 11 Regionen (vgl. Schaubild) Kolumbiens und sprechen dort mit Opfern, lokalen Organisationen und dokumentieren Fälle von Opfern der Gewalt ebenso wie Informationen über das Vorgehen der Polizeieinheiten, der Sondereinheit ESMAD und der Nationalen Polizei. In vielen Regionen werden auch die während der Proteste seit Anfang Mai aktiven, sogenannten „Ersten Linien“ – Primera Lineas besucht. Ziel der Mission ist es, Zeugenaussagen aus den verschiedenen Regionen zu sammeln und aufzubereiten, das Ausmaß der Gewalt und das Vorgehen der Sicherheitskräfte und paramilitärischer Gruppierungen in den elf Regionen wie auch die juristischen und außergerichtlichen Mechanismen, die zur Erhaltung von Straflosigkeit beitragen und die eine transparente Rechenschaftslegung der Handlungen staatlicher Sicherheitskräfte verhindern, zu erfassen und zu dokumentieren. Aber auch die Beweggründe und Lebensumstände der Protestierenden sollen erfasst werden und ein Beitrag zur Analyse der kolumbianischen Organisationen geleistet werden. Der Schlussbericht wird unterschiedliche Blickwinkel (juristisch, soziologisch, psychologisch, geschlechtsspezifisch, ökonomisch, medienpolitisch) enthalten, die zugrundliegenden Handlungsmuster dokumentieren helfen. Schlussfolgerungen und Empfehlungen für die weitere Arbeit, aber auch Forderungen an die kolumbianischen Autoritäten sind Teil des Berichtes.

Solidarische Unterstützung aus Mexiko und Guatemala

Teil der Mission ist eine Delegation aus Mexiko und Guatemala mit 11 Personen: mexikanische Partnerorganisationen des Zivilen Friedensdienstes von Brot für die Welt in Koordination mit der Dialogstelle Menschenrechte organisierten die Teilnahme. Damit soll nicht nur ein solidarischer Beitrag für die kolumbianischen Menschenrechtsorganisationen in diesen schwierigen Zeiten geleistet werden. Durch die Mission soll die Vernetzung und das gegenseitige Lernen gefördert werden. Zugleich werden Ansätze für gegenseitige Unterstützungsmöglichkeiten und gemeinsame Lobbyaktivitäten ausgelotet. Die Erfahrung der Delegierten im Austausch mit den kolumbianischen Organisationen und den Opfern sollen nach der Rückkehr vor dem Hintergrund der Gewaltproblematik in Guatemala und Mexiko reflektiert werden.

Auftakt am 3. Juli

Zum Auftakt der Mission wurden die Gäste durch verschiedene Vertreter*innen kolumbianischer Organisationen in den Kontext eingeführt. Eine Rolle spielte dabei die sozialen und ökonomischen Ursachen der Proteste, die diversen Akteure und vor allem die Jugendlichen, die, oft aus den verarmten Vororten stammend, sich mehr und mehr zu sozialen Akteuren des Protestes entwickelten und ihre Forderungen nach Teilhabe (Einkommen, Bildung, Gesundheit) und eigenen Lebensentwürfen aufstellten. Dabei wurde auch die Rolle der Kirchen als Vermittlerinnen und Akteure, die Kontakte zu den Jugendlichen haben und sie begleiten, angesprochen. Einschränkungen der Pressefreiheit sowie die bislang dokumentierten Fälle von Ermordungen, Verschwinden-Lassen und willkürlichen Verhaftungen.

Am Nachmittag des 5. Juli reisten die Delegationen in die Regionen ab, einzelne Vertreter*innen hatten zuvor noch Gespräche mit der „Defensoría“ (staatliche Menschenrechtskommission), der EU Mission und dem Büro der Hochkommissarin für Menschenrechte – OACNUDH. Zum Ende der Mission sind Gespräche mit staatlichen Autoritäten sowie dem mexikanischen und dem deutschen Botschafter geplant.

Die Mission ist nicht die einzige dieser Art, die in den letzten Monaten Kolumbien besucht: Eine Solidaritätsmission aus Argentinien stellte vor kurzem ihren Schlussbericht vor. Auch der lang erwartete Bericht der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, die Anfang Juni zu einem Kurzbesuch Kolumbien besuchen konnte, wurde am 8. Juli veröffentlich (dazu mehr in einem weiteren Artikel). Ebenso arbeitet eine Delegation katalanischer Abgeordneter an ihrem Endbericht.

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