Gerold Schmidt * ist freier Journalist und Übersetzer. Im Kontext des Escazú-Abkommens führte er mehrere Interviews mit Partnerorganisationen von Brot für die Welt zu den Themen Menschenrechtsverteidiger*innen, Umwelt, Naturressourcen und Rechte indigener und bäuerlicher Gemeinden.
Die kolumbianische Menschenrechtsorganisation MINGA arbeitet in den Provinzen Arauca, Catatumbo, Cauca, Nariño und Putumayo mit kleinbäuerlichen und indigenen Gemeinden. Der Begriff MINGA beschreibt für viele indigenen Gemeinden in Kolumbien das gemeinschaftliche Arbeiten zugunsten der gesamten Gesellschaft.
"Wir setzen auf die Einklagbarkeit von Rechten auf internationaler Ebene"
Gerold Schmidt (G.S.) / Wolfgang Seiss (W.S.): In Kolumbien kommt die Ratifizierung des Escazú-Abkommens derzeit nicht weiter. Wie wird dies in den Organisationen der Zivilgesellschaft, in Regierungskreisen und in der Legislative diskutiert?
Pilar Ramos (P.R.).: Kolumbien ist eines der Länder mit einer sehr hohen Zahl von Aggressionen gegen gesellschaftlich und ökologisch engagierte Personen. Das allein zeigt schon die Notwendigkeit, das Abkommen zu ratifizieren und die Mechanismen für den Schutz und die Garantien für diese Menschen zu stärken. Im Land existieren viele sozio-ökologische Konflikte, denn wir haben eine auf den Extraktivismus ausgerichtete Wirtschaft. Gemeinden und Organisationen werden dabei zunehmend von Partizipationsmöglichkeiten ausgeschlossen. Die kolumbianische Verfassung gilt als Umweltverfassung. Die dort vorgesehen zahlreichen Partizipationsinstrumente kommen in der Praxis aber kaum zur Geltung. Wir haben den Mechanismus der Volksbefragungen, den sich Gemeinden und Organisationen für den Schutz ihrer Rechte zu eigen machen wollen. Doch die Regierung und mächtige gesellschaftliche Gruppen haben die offenkundige Absicht, die wirkliche Beteiligung einzuschränken. Dies erklärt, warum bei Organisationen und Gemeinden Interesse an der Ratifizierung von Escazú besteht. Im Oktober 2020 haben wir uns als Zusammenschluss von rund 130 Organisationen mit einer entsprechenden Aufforderung an die nationale Regierung gerichtet. Die Regierung unter Präsident Duque hat offiziell erklärt, dass sie es für wichtig hält, das Abkommen zu ratifizieren. Kürzlich waren wir bei einem Treffen mit dem Menschenrechtsbüro des Präsidenten, dort wurde uns der entsprechende gute Wille der Regierung versichert. Doch es gibt Teile der Zivilgesellschaft, die das Abkommen nicht wollen. Das sind Unternehmerverbände wie der mächtige Industrieverband ANDI. Aber auch ein bedeutender Teil der Legislative, vor allem die Regierungspartei Demokratisches Zentrum (Centro Democrático) hat eine sehr heftige Kampagne geführt, um das Abkommen zu delegitimieren. Da wird angeführt, Escazú könne ein Hindernis für die Entwicklung sein. Wir wissen, Hintergrund sind starke konzernwirtschaftliche Interessen, Interessen die ebenfalls in der Regierungspartei vertreten sind. Uns lässt das vermuten, dass die Regierung wie bei vielen anderen Themen auch, bei Escazú eine Show veranstaltet.
(G.S./W.S.): Gibt es Mechanismen, um den Ratifizierungsprozess im kolumbianischen Senat, in der Abgeordnetenkammer zu reaktivieren?
Diana Sánchez (D.S.): Es existieren keine wirklichen politischen Mechanismen, das hängt vom Willen des Kongresses ab. Die Mehrheiten gehören der Regierung und die Regierung ist nicht an einer Ratifizierung interessiert. Wir sind präsent auf Foren, in den öffentlichen Debatten, haben unsere Umweltagenda. Aber diese Regierung ist verschlossen, hermetisch. Sie hat nicht einmal auf internationalen Druck reagiert. Wenn nicht etwas Außergewöhnliches passiert, ist unter dieser Regierung keine Ratifizierung in Sicht.
Javier Marín (J.M.): Wie in anderen Ländern Lateinamerikas kommt der größte Gegenwind von den Unternehmergruppen. Wir setzen auf die Einklagbarkeit von Rechten auf internationaler Ebene. In der öffentlichen Meinung ist das Abkommen aber nicht gut positioniert. Das hat damit zu tun, dass die genannten Unternehmensgruppen einen großen Einfluss in den Massenmedien haben. So verbreiten die Medien vor allem die Bedenken und die Kritik des Regierungssektors, der Verbände. Sie werden an diesem Punkt auf einmal ganz patriotisch und erklären, das Escazú-Abkommen verletze die Souveränität des Landes. Oder sie sagen, Umweltschützer*innen würden mit Escazú zu einer besonderen Gruppe, das schaffe Ungleichheit. Eine effektive Beteiligung von sozialen Organisationen oder der Zivilgesellschaft im Allgemeinen ist zudem durch die Zunahme der allgemeinen Gewalt im Land erschwert.
(G.S./W.S): Javier erwähnt die Einklagbarkeit von Rechten. Diese Frage stellt sich für die Bevölkerung sicherlich auch in der Amazonasprovinz Putumayo. Neben den Auseinandersetzungen um den Koka-Anbau ist ein weiterer Konfliktherd dort vor allem die Ölindustrie. Darauf wollen wir uns im weiteren Gespräch konzentrieren. Könnt Ihr dazu einen Überblick geben?
(J.M.): Die Regierung hat um die Jahrtausendwende angefangen, die direkte Beteiligung Kolumbiens an der Ölindustrie zu verringern. Das staatliche Unternehmen Ecopetrol wurde demontiert, seine Kapazitäten in den Bereichen Transport, Kommerzialisierung, Petrochemie reduziert. Verhandlungen mit anderen Unternehmen wurden in die Hände der Nationalen Behörde für fossile Brennstoffe (ANH) gelegt. Seit 2000 finden jedes Jahr im September Verhandlungsrunden statt, in denen die sogenannten Ölblöcke in Form von Konzessionen auf dem internationalen Markt angeboten werden. So gab es in Putumayo im Jahr 2000 auf einmal 15 neue Ölfirmen. Die meisten davon hatten aus steuerrechtlichen Gründen ihren offiziellen Sitz in Kanada. Nach dem Ölpreiscrash (2014/2015) blieben einige Unternehmen übrig. In Putumayo gibt es noch fünf große Unternehmen, die die Ölindustrie kontrollieren. Dabei ist die Ölförderung in Putumayo insgesamt nicht zurückgegangen, die Industrie ist nur stärker konzentriert.
(G.S./W.S.): Haben wir richtig gelesen, dass 71 Prozent des Territoriums in Putumayo für Erdölkonzessionen vergeben sind?
(J.M.): Das stimmt. In der Provinz sind insgesamt 40 Blöcke an die Unternehmen übergeben worden. Sie machen zusammen 71 Prozent der Fläche Putumayos aus. Die übrigen 30 Prozent sind noch frei, weil es sich um ein Naturreservat handelt, das sich größtenteils im Landkreis Guamez befindet. Das wird sich möglicherweise schon bald ändern. Der untere Putumayo ist praktisch vollständig von den Ölblöcken abgedeckt. Im oberen Putumayo gibt es seit etwa zehn Jahren Bergbaukonzessionen.
(G.S./W.S.): Wie steht die Bevölkerung zu den Ölkonzernen?
(D.S.): Es gibt eine subtile Art, die Gemeinden zu entzweien. In den sogenannten Interventionsbereichen werden den Gemeinden in einem bestimmten Radius Entschädigungszahlungen, einige Projekte versprochen. Aber außerhalb dieses Interventionsbereiches steht den Gemeinden nichts zu, obwohl auch ihr Ökosystem betroffen ist. Das führt zu Konflikten und Spannungen zwischen den Gemeinden. Es handelt sich um absolut marginalisierte Gemeinden, die unter prekären Verhältnissen leben. Sie wissen, es gibt Auswirkungen. Aber sie leiden solchen Mangel, dass sie hoffen, am Ende etwas zu bekommen. Und sie stimmen zu. Das führt zu Auseinandersetzungen mit den Gemeinden, die sich gegen jegliche Intervention wenden. Dann gibt es andere, die angesichts der Schwierigkeit, die Unternehmen wieder weg zu bekommen, sagen, wir akzeptieren die, die schon da sind, aber keine weiteren. Die unterschiedlichen Positionen existieren auch innerhalb einer Gemeinde.
(G.S./W.S.): In Putumayo existieren verschiedene bewaffnete Akteure. Arbeiten die Ölunternehmen mit diesen bewaffneten Akteuren zusammen? Wie hat sich die Lage durch das Friedensabkommen von 2016 verändert?
(P.R.): In einigen Fällen konnten Verbindungen zwischen Unternehmen und paramilitärischen Gruppen nachgewiesen werden, wenn es um Unterdrückung, Kontrolle und Schutz ihrer Aktivitäten im Territorium ging. Aber es gibt dazu nur wenige Gerichtsurteile und Verfahren. Jüngst hat es öffentliche Anklagen der Kleinbäuer*innen aus der Zone Reserva Campesina gegeben, die den Ölkonzern Amerisur betreffen. Demnach gibt es Druck der Abspaltungen der ehemaligen/ im Zuge des Friedensabkommens von 2016 demilitarisierten Guerilla-Organisation FARC, damit die Campesinos für Amerisur arbeiten. Amerisur hat dementiert, doch es ist nicht das erste Mal, dass solch eine Anklage erhoben wird. Es sind neue bewaffnete Gruppen entstanden. Die stärkste nennt sich selbst „Grenzkommandos“, dort finden sich Drogenkartelle, paramilitärische Gruppen und ehemalige Mitglieder der 48. Front der FARC. Dazu kommen andere Bündnisse mit internationalen Drogenkartellen, wie der mexikanischen. Ob die Gruppen die Unternehmen aktuell „besteuern“, können wir nicht genau sagen. Was offenkundig ist: Niemand rührt die Ölgesellschaften an. Umgebracht werden soziale Führungspersönlichkeiten, Gemeindeautoritäten, ins zivile Leben eingegliederte FARC-Mitglieder.
Armee und Polizei haben sich in den Dienst der Privatunternehmen gestellt. Es herrscht eine sehr starke Präsenz der öffentlichen Sicherheitskräfte vor. Es gibt also eine ganze institutionelle Struktur, die um die Rohstoffindustrie herum aufgebaut wurde, um diese zu schützen. J.M.: Offensichtlich haben sich die Bedingungen für die Aktivitäten der Ölkonzerne vor und nach dem Friedensabkommen von 2016 substantiell geändert. Vor dem Abkommen gab es ständige Angriffe auf die Infrastruktur der Unternehmen vor allem im Transportbereich. Das betraf die Pipelines, die es vor allem im mittleren Putumayo gibt und die Tankwagen, in denen vor allem im südlichen Putumayo das Öl transportiert wird. Die Attacken auf Ölpipelines, Tankwagen und andere Infrastruktur der Ölfirmen sind nach dem Friedensabkommen verschwunden, obwohl es die starke militärische Präsenz verschiedener Gruppen gibt. Die Aktivitäten der Ölindustrie richten sich nach der Rentabilitätslogik und den realen Möglichkeiten. Sie schließen Allianzen mit dem bewaffneten Akteur, der die Kontrolle über das Gebiet hat, in dem sie präsent sein wollen.
* Gerold Schmidt ist freier Journalist und Übersetzer sowie Diplom-Volkswirt. Berichtet seit 30 Jahren zur politischen und wirtschaftlichen Situation in Mexiko und Mittelamerika. Spezialisiert auf die Themen: Menschenrechte, Klimakrise, Umweltbewegungen, Biodiversität, kleinbäuerliche und indigene Landwirtschaft. Als Fachkraft von Brot für die Welt arbeitete er in den 2010-er Jahren beim Studienzentrum für den Wandel im Mexikanischen Landbau (CECCAM) in Mexiko-Stadt.