Früher kämpfte Daniel Ortega als Guerillero gegen den Diktator Anastasio Somoza, heute geht Nicaraguas Präsident selbst mit aller Härte gegen Oppositionelle vor. Ständig nehmen Sicherheitskräfte derzeit in dem mittelamerikanischen Land Menschen fest, die sich an den Protesten der vergangenen Monate gegen das Regime beteiligt haben: Studentinnen, Rechtsanwälte, Menschenrechtsaktivistinnen, Pfarrer. Polizisten und vermummte Paramilitärs dringen in Wohnungen ein und verschleppen vermeintliche Verdächtige. Die meisten der „Terroristen“ und „Putschisten“, wie Ortega seine Gegner nennt, landen hinter Gittern. Bekannte Oppositionelle wie Carlos Brenes, ein ehemaliger Kampfgefährte Ortegas, sitzen im Hochsicherheitsgefängnis. Ärzte, die Demonstranten behandelt haben, werden kriminalisiert. Insgesamt 300 Inhaftierte warten nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen auf ihre Anklage, 85 von ihnen auf der Grundlage eines jüngst verabschiedeten Antiterrorgesetzes. Etwa 30.000 Personen haben aus Furcht vor Repressalien das Land verlassen. Viele, die geblieben sind, verstecken sich, um den Häschern der regierenden Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) zu entgehen.
Barrikaden und besetzte Universitäten
Die Angriffe der letzten Wochen folgen einer ersten Repressionswelle, in der Polizisten und paramilitärische Gruppen bereits massiv gegen Regimekritiker vorgegangen sind. Studenten und Rentnerinnen waren zuvor Mitte April gegen eine Reform auf die Straße gegangen, die Rentenkürzungen und höhere Sozialbeiträge vorsah. Bauern, Indigene, Arbeiter und auch Unternehmer schlossen sich an. In kürzester Zeit entstanden im ganzen Land Barrikaden, zahlreiche Universitäten wurden besetzt. Ortega nahm die Reform zwar zurück, zugleich schlug er aber brutal zurück: Scharfschützen schossen auf Demonstranten, vermummte Schläger prügelten auf die Oppositionellen ein. Nach Informationen der Menschenrechtsorganisation Centro Nicaraguense de Derechos Humanos (Cenidh) starben bislang 322 Personen, die Asociación Nicaragüense Pro Derechos Humanos (ANPDH) zählt sogar 481 Tote. 58 Menschen werden laut Cenidh vermisst, acht von ihnen gelten definitiv als verschwunden.
Von der Gewalt sind auch Partnerorganisationenvon Brot für die Welt betroffen. „Wir hätten niemals damit gerechnet, dass die Regierung mit einem Schießbefehl auf die Proteste reagiert“, sagt Sandra Ramos, die Leiterin der Frauenrechtsorganisation Maria Elena Cuadra (MEC). MEC ist einer der sicheren Orte, an denen staatlich Verfolgte Schutz finden. Vor allem aber setzt sich die Organisation für Arbeiterinnen ein, die in Freihandelszonen in der Textilindustrie tätig sind. Ein von BdfW unterstütztes Projekt zur Schulung von beschäftigten Frauen ginge zwar trotz der angespannten Lage weiter, erklärt Ramos. Allerdings habe der Druck der chinesischen Unternehmer auf die Arbeiterinnen zugenommen. Den Frauen sei gedroht worden: Sollten sie sich gegen die Regierung stellen, könnten sie die Firma sofort verlassen. Die Produktion in der Weltmarktfabrik sei schließlich nur dank Ortega möglich.
Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger
Unter starkem Druck stehen auch Menschenrechtsverteidiger. So musste etwa ANPDH aufgrund von Drohungen ihr Büro schließen. Deren Leiter flüchtete ins Ausland. Auch Juan Carlos Alce von Cenidh spricht von Verfolgungen, Belästigungen bis hin zur Kriminalisierung. Das sei zwar nicht ungewöhnlich, erklärt er, „aber in den letzten vier Monaten haben wir ein Gesicht der Regierung erlebt, das wir vorher so nicht kannten“. Cenidh bildet in einem von BdfW unterstützten Projekt Menschenrechtsverteidiger in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen aus: Indigene, Gewerkschafter, Journalisten. Diese seien natürlich in Gefahr, sagt Alce. Er verweist aber vor allem auf die vielen Studenten, die den Kugeln zum Opfer gefallen seien. So beispielsweise der 15jährige Alvaro Conrado, dem ein Scharfschütze gezielt in den Hals geschossen habe.
Hoffen auf den Dialog
Trotz der hemmungslosen Angriffe des Regimes hoffen viele auf eine Verhandlungslösung. Doch das wird schwierig werden. Ortega unterstellt den Oppositionellen, einen bewaffneten Aufstand angezettelt zu haben. Die Regimekritiker fordern indes vorgezogene Neuwahlen, um den autoritären Staatschef abzusetzen. Darüber will der Präsident aber nicht verhandeln. An diesen Widersprüchen scheiterte im Juni ein von Bischöfen moderierter Dialog zwischen der Regierung und dem oppositionellen Bündnis Alianza Cívica (AC), dem auch MEC angehört. Seither ist Ortega nicht mehr bereit, die Gespräche fortzuführen.
Auch das oppositionelle Bündnis selbst hat schwierige Aufgaben zu lösen. Am AC sind Bauern, Studenten, Feministinnen und Arbeiter ebenso beteiligt wie Unternehmer. Widersprüche über ein gemeinsames Programm sind also vorprogrammiert. Doch in einem sind sich alle einig: Ortega muss abtreten. Und alle setzen auf eine friedliche Lösung des Konflikts. Denn nicht wenige, die jetzt gegen das Ortega-Regime kämpfen, haben bereits zwei Kriege miterlebt: 1979 gegen den Diktator Somoza und in den 1980ern gegen die von den USA unterstützten Contras. Damals standen sie auf Seiten der Sandinisten, heute ist die FSLN zu ihrem Gegner geworden. Für sie steht außer Frage: Nicaraguas Jugend darf nicht in einem weiteren Krieg sterben.