Der brasilianische Ökonom Azevêdo, der 2013 zum Generalsekretär der Welthandelsorganisation gewählt wurde, gilt als Dealmaker. Nur wenige Monate im Amt fädelte er bei der 9. Ministerkonferenz in Bali ein Abkommen über weltweite Handelserleichterungen ein, das als erstes globales Freihandelsabkommen seit über 20 Jahren gefeiert wurde. Zwei Jahre später in Nairobi verhinderte Azevêdo ein Scheitern der Konferenz durch einen Minimalkompromiss in letzter Sekunde. Im September dieses Jahres trat er seine zweite vierjährige Amtszeit an. Bei der kommenden Ministerkonferenz im Dezember in Buenos Aires hoffen die Freihandelsverfechter auf weitere Azevêdo-Deals.
Generalsekretär im Dienst der Industriestaaten
Neben seinem Verhandlungsgeschick hat Azevêdo den Bonus, Repräsentant eines der Staaten im Süden zu sein, die sich über Jahre erfolgreich gegen die Dominanz der Industriestaaten in der WTO wehrten. Viele Initiativen der USA und der EU scheiterten im vergangenen Jahrzehnt daran, dass Entwicklungsländer Freihandelszugeständnisse an die Staaten im Norden vom Schutz ihrer Agrarwirtschaft und Sonderbehandlungen für besonders arme Länder abhängig machten. Azevêdo gelang es, diese Blockade in den Verhandlungen schrittweise aufzulösen – zu Lasten des Südens. Soziale Bewegungen sehen sein Entgegenkommen an die Industriestaaten kritisch.
„Roberto Azevêdo kommt zwar aus dem Süden, aber er ist den Interessen der Industrieländer und der großen Konzerne gegenüber sehr aufgeschlossen“, sagt Graciela Rodrigues. Sie spricht im Namen von Rebrip, einem Netzwerk brasilianischer Organisationen der Zivilgesellschaft, die internationale Verhandlungen wie in der WTO kritisch begleiten. In Brasilien stehe Azevêdo auf Seiten der Freihandelsverfechter und des Agrobusiness, die familiäre oder ökologische Landwirtschaft werde von ihm kaum vertreten, kritisiert Rodrigues. „Der WTO-Generalsekretär will Verhandlungsabschlüsse egal zu welchem Preis. Seit dem Putsch in Brasilien und dem Rechtsruck in der Region hat Azevêdo noch mehr freie Hand, die Interessen der großen Unternehmen zu puschen.“
Allianz der Staaten des Südens war von kurzer Dauer
Noch vor kurzem waren die Kräfteverhältnisse innerhalb der WTO anders gelagert. Um die Jahrhundertwende formierten sich innerhalb der WTO mehrere Staatengruppen, was zu einer effektiven Interessenvertretung für ärmere Länder führte. So setzte sich die von Brasilien und Indien angeführte G-20 erfolgreich für Zoll- und Subventionssenkungen der Industriestaaten im Agrarbereich ein. Da die Industriestaaten nicht kompromissbereit waren, führte die gegenseitige Blockade der Verhandlungen zum Scheitern der Ministerkonferenzen 2003 in Cancún und 2005 in Hongkong.
Die damalige Allianz von Staaten des Südens ist nach Meinung von Rebrip, einem Partnernetzwerk von Brot für die Welt, eine richtungsweisende Entwicklung gewesen. Nach Meinung von Graciela Rodriguez wurde damit eine weitere Machtverschiebung zu Gunsten der USA und der Europäischen Union verhindert. „Es war der Versuch, mit breiter Teilhabe demokratischere Handelsregeln durchzusetzen“, so Rodrigues. Unter anderem deswegen geriet das globale Handelsregime unter dem Dach der WTO in eine Krise und führte zu einem Boom von bilateralen oder multilateralen Freihandelsgesprächen, in denen ärmere Länder auf sich allein gestellt weniger Durchsetzungskraft haben.
Gegensätzliche Interessen in den Schwellenländern verhinderten jedoch eine Vertiefung von Süd-Süd-Beziehungen. So priorisierten Brasilien oder Argentinien auch schon vor Azevêdos Amtsantritt die eigene industrielle Landwirtschaft. Gefördert wurden ökologisch fragwürdige Monokulturen für den Export und der Einsatz von Pestiziden, während die Produktion von Lebensmitteln durch die kleinbäuerliche Landwirtschaft vernachlässigt wurde. Der Konsens von Süd-Staaten gegenüber der Marktabschottung der Nord-Staaten beruhte also auf teils widersprüchlichen Voraussetzungen: Brasilien und andere Flächenstaaten strebten lediglich größere Agrarexportquoten an, während sich viele der ärmsten Länder um ihre Ernährungssouveränität sorgten.
Brasilien: Agrarexporte wichtiger als Ernährungssouveränität
Vor allem Brasilien, dessen Mitte-Links-Regierung seit 2002 Wortführer des Ausbaus von Süd-Süd-Kooperation war, trägt Verantwortung dafür, dass diese Südallianz nicht von langer Dauer war. Schon ab dem Jahr 2008 relativierte Brasilien seine Teilhabe an der G-20, insbesondere in Bezug auf die von Indien geforderten Ausnahmeregelungen zur Wahrung der Ernährungssouveränität in Krisenfällen. Unternehmerfreundliche Positionen gewannen im größten Land Lateinamerikas zunehmend an Einfluss, was auch auf den Machtzuwachs von konservativen Parteien im Kongress zurückzuführen ist. Der Richtungsschwenk in Brasilien und wenig später das unternehmensorientierte Verhandlungsregime von Roberto Azevêdo besiegelten das Ende der Süd-Opposition gegen die Freihandelsinteressen des Nordens.
Graciela Rodrigues und die Rebrip verweisen in diesem Kontext zudem darauf, dass es kaum möglich sei, bei Ländern wie Brasilien oder Argentinien von 'nationalen Interessen' auszugehen. „Die großen Unternehmen in Entwicklungsländern verfolgen eigene Interessen, die oft an den eigentlichen Bedürfnissen der Staaten vorbei gehen“, erklärt Rodriguez. „Es geht ihnen um Gewinne, weswegen sie je nach Konstellation für stärkere Liberalisierung plädieren.“ Da diese Player großen Einfluss auf die Regierungen haben, müsse generell angezweifelt werden, ob die Delegierten bei einer WTO-Konferenz wirklich im Interesse des eigenen Landes verhandeln, gibt die Ökonomin zu bedenken.
Dass die WTO wieder an Bedeutung gewinnen würde, zeichnete sich laut Rodriguez schon seit der großen Finanzkrise 2008 ab. Neben dem Ausbau der Machtposition seitens der Industriestaaten kam später auch die Erkenntnis hinzu, dass bilaterale Freihandelsverhandlungen ebenfalls scheitern können, wie am Beispiel von TTIP zu sehen ist. „Neue protektionistische Tendenzen und vor allem der Wahlsieg von Donald Trump in den USA zwingen die Verfechter des Liberalismus, wieder auf globale Abschlüsse in Rahmen der WTO zu setzen“, analysiert Rodrigues. Es kommt ihnen sehr gelegen, dass zumindest in Latenamerika rechte Regierungen im Aufwind sind, die ganz nach dem Muster der 90-er Jahre auf Anreize für Auslandsinvestitionen und Exportoptionen durch liberalisierte Märkte setzen. Es sei kein Zufall, dass die 11. WTO-Ministerkonferenz in Argentinien stattfindet, wo Präsident Mauricio Macri gerade Sozialleistungen abbaut und Unternehmen hofiert, sagt Rodrigues.