Menschenwürde und Weltmeisterschaft – für Lucia Maria Pereira sind das Gegensätze. Die nationale Koordinatorin der Bewegung der Straßenbewohner (RUA) lebte selbst lange Zeit in der Millionenstadt Salvador da Bahia auf der Straße. Großereignisse wie die WM sorgen bei Obdachlosen für Angst und Schrecken. Sie berichtet: "In allen WM-Städten wurden, genauso wie es vorher beim Confed-Cup passiert ist, die Obdachlosen mittels Zwangseinweisungen weggeschafft.“ Sie sagt das betont sachlich, aber es ist spürbar, wie gekränkt sie darüber ist, wie der Staat mit Menschen umgeht, die auf der Straße leben: "Das geschieht nicht, um für diese Personen zu sorgen, sondern um sie wegschaffen zu können, den vermeintlichen Dreck und die armen Menschen der Stadt zu verstecken, damit die Touristen ein aufgehübschtes Brasilien sehen.“
Es geht um mehr als Almosen
Die ungeschminkte Wahrheit muss ans Tageslicht. Dafür setzt sich RUA ein. Die Organisation gibt eine eigene kleine Zeitung heraus. Sie berät Obdachlose und macht sich für ihre Rechte stark. Politiker und Bürokraten weist sie immer wieder darauf hin, wenn sie Menschenrechte missachten. Bei RUA, einer Partnerorganisation des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt, geht es um viel mehr als Almosen. Wie passend, dass die Zentrale von RUA in einer ehemaligen Suppenküche in der Altstadt Salvadors angesiedelt ist. Mildtätige Gaben sind passé, erklärt Lucia Maria Pereira: "Ab dem Moment, an dem du einer Person nur eine Suppe und eine alte Decke gibst, hilfst du ihr nicht, aus dieser Situation herauszukommen. Was sie braucht, ist, mit Würde behandelt zu werden, als Mensch.“ Menschen hätten das Bedürfnis, ein Zuhause zu haben; die Straße sei nicht zum Wohnen gemacht. Die Koordinatorin von RUA sagt klar, was Obdachlosen zusteht: "Diese Menschen sollten ihr eigenes Zuhause haben, ihre Arbeit, Essen; sie wollen von ihrer Arbeit leben können.“
Zwangsumsiedlungen dokumentiert
Das ist in der vorurteilsfreudigen Gesellschaft Brasilien eine Mammutaufgabe. Lucia Maria Pereira fasst es so zusammen: "Wir versuchen, eine Kultur zu verändern, damit die Menschen die Art und Weise, wie sie leben, nicht akzeptieren, sondern wirklich versuchen, Teil der Gesellschaft zu sein.“ Offizielle Stellen möchten das offenbar nicht: Vor dem Confed-Cup im vergangenen Jahr, der als Generalprobe für die Fußball-WM galt, siedelte die Stadtverwaltung nach Angaben von RUA allein in Salvador mindestens 600 Obdachlose gegen ihren Willen um. Sie wurden mit Zwang in eine ehemalige Nervenklinik gebracht. Dort mussten sie ohne angemessene Versorgung ausharren – es fehlte an Essen, Wasser und Hygiene. Einige schwangere Frauen brachten unter diesen fatalen Umständen sogar ihre Kinder zur Welt. Die RUA-Koordinatorin sagt verbittert: "Alle, absolut alle Rechte dieser Menschen wurden verletzt!“
Gäste sollen fair bleiben
Was sie den WM-Gästen mit auf den Weg gibt? Lucia Maria Pereira denkt nach, holt tief Luft, und legt los: "Die WM-Besucher aus Deutschland brauchen einen kritischen Blick. Brasilien ist nicht das, was unsere Regierung als Image verkauft. In Brasilien gibt es immer noch viel Armut, in Brasilien gibt es immer noch eine große soziale Ungleichheit.“ Sie bittet die Touristen, fair zu bleiben und sich nicht mit Allgemeinplätzen abspeisen zu lassen: "Die Brasilianerinnen sind nicht einfach Sexualobjekte, unsere Kinder sind keine bedauernswerten Wesen, die Straßenbevölkerung besteht nicht aus Armseligen und Dieben. Es ist wichtig, dass uns die WM-Besucher mit Respekt und Würde behandeln und nicht alles glauben, was über Brasilien da draußen erzählt wird."