Roberto Azevêdo konnte die Tränen nicht zurückhalten. Bewegt und erschöpft verkündete er am Samstag Vormittag die Einigung auf das erste umfassende multilaterale Freihandelsabkommen seit fast 20 Jahren. Erst seit drei Monaten im Amt, hatte der Brasilianer entscheidenden Anteil daran, die Delegierten aus 159 Staaten zu einem Kompromiss über strittige Handelsfragen und nationalen Einzelinteressen zu bewegen. Das Ringen um einzelne Formulierungen brachte viele schlaflose Nächte und zwang die Teilnehmer, entgegen der Planung noch am Samstag auf der indonesischen Insel Bali weiter zu verhandeln.
Der Durchbruch auf der „Insel der Götter“ wurde in Wirtschaftskreisen einhellig begrüßt. Hunderte Milliarden Euro werde der Wegfall bürokratischer Schranken beim grenzüberschreitenden Warenverkehr jährlich einsparen, prophezeien Unternehmensverbände. Profitieren würden auch die armen Länder, zumal ihnen im Rahmen des Bali-Paket finanzielle Unterstützung und mehr Entwicklungshilfe zugesagt wurde.
Der Streit mit Indien ist nach dem erfolgreichen Kompromiss schnell vergessen. Tagelang wurde das nach China bevölkerungsreichste Land gebrandmarkt, die Verhandlungen mit dem Beharren auf seinem subventionierten Anti-Hunger-Programm zu blockieren. Am Ende rückten Indien wie die Industriestaaten von ihren Maximalforderungen ab.
Für das Hilfswerk „Brot für die Welt“ ist der Kompromiss deswegen „nur ein ein halbherziger Schritt“. „Aus entwicklungspolitischer Sicht ist zu beklagen, dass Indien sein Nahrungsmittelprogramm auf Getreide beschränken muss und jetzt nicht mehr auf nahrhaftere Lebensmittel wie Linsen oder Milch ausweiten darf,“ beklagte Handelsexperte Heinz Fuchs. Die WTO-Freihandelsregeln stellten auch nach der Bali-Konferenz „ein Hindernis für einen umfassenden Kampf gegen Hunger und Armut“ dar.
Der Verhandlungsmarathon von Bali hat die Welthandelsorganisation an ihre Grenzen gebracht. Im Raum steht die Frage, ob die Liberalisierung des Welthandels das richtige Instrument ist, um wirtschaftliche Probleme insbesondere in armen Ländern zu lösen. „Nahrungsmittelsicherheit versus Freihandelsregeln“ war der Stolperstein in Bali. Doch auch andere staatliche Programme zur Stützung notleidender Menschen können in Zukunft schnell in Widerspruch zu den WTO-Richtlinien geraten. Vorsorglich legte die WTO im Bali-Kompromis fest, dass andere Staaten dem indischen Beispiel nicht folgen dürfen.
Indien, wo rund 40 Prozent der Kinder unterernährt sind, hat sich durchgerungen, mit staatlichen Hilfen gegen Hunger und Unterernährung vorzugehen. Zumindest auf dem Papier ist es eine wichtige Maßnahme zur Ernährungssicherheit: Die Regierung will allen Bedürftigen eine Mindestration an Reis zur Verfügung stellen und für Dürrezeiten Nahrungsmittelreserven anlegen.
Der Kauf und Verkauf von Nahrungsmitteln zu staatlich festgelegten Preisen, die zudem die Kleinbauern stützen sollen, ist aber aus WTO-Sicht ein Problem. Es handelt sich um Subventionen, die jedes Land nur in eng begrenztem Maß anwenden darf. Sie wären eine Benachteiligung von Agrarexporteuren. Aber auch Nachbarstaaten wie Pakistan oder Thailand fürchten sich vor Billigimporten aus den Reserven.
Heinz Fuchs von Brot für die Welt ist der Meinung, dass die Logik der WTO fragwürdig ist. „Zu mehr als 70 Prozent tragen Kleinbauern weltweit zur Ernährungssicherung bei. Ihre Förderung durch Aufkauf von Nahrungsmitteln zu festgelegten Preisen wird aber von der WTO als Wettbewerbsverzerrung verboten,“ kritisiert Fuchs.
Der Streit um Indiens Ernährungsprogramm überlagerte andere durchaus kontroverse Fragen der Liberalisierung des Welthandels. Die Schwellenländer-Gruppe G20 konnte sich zum Beisiel nicht mit ihrem Vorschlag durchsetzten, die Senkung der Exportsubventionen im Agrarbereich verbindlich festzuschreiben. Auch wenn die EU derzeit keine solchen Subventionen mehr anwendet, kritisiert Tobias Reichert von Germanwatch, dass „die Industrieländer sich weiterhin die Möglichkeit vorbehalten, Exportsubventionen für ihre Landwirtschaft jederzeit wieder einzuführen“.
Auch das Maßnahmenbündel, mit dem die Wirtschaften in den ärmsten Ländern gestärkt werden sollen, ist alles andere aus ein großer Wurf. Zwar können die LDC-Staaten mit mehr Unterstützung und finanziellen Hilfen rechnen, doch der Umfang davon entspricht nicht dem Ausmaß der Armutsprobleme, kritisiert Alexis Passadakis von Attac-Deutschland. „Im Gegensatz zu anderen Passagen des Bali-Pakets ist das LDC-Abommen nicht verbindlich.“ Es sei zu befürchten, dass vieles davon wie in der Vergangenheit nur schöne Absichtserklärungen bleiben, so Passadakis.
Aus Sicht der exportorientierten Industrie- und Schwellenländer ist das wichtigste Ergebnis von Bali die Einigung auf Handelserleichterungen. Dadurch werden Zollbestimmungen vereinfacht und vereinheitlicht, wodurch die Unternehmen in Zukunft Milliardenkosten einsparen werden. Ein großer Schritt für die reicheren Länder, der aber bestimmt keinen Entwicklungsschub in den ärmeren Ländern auslösen wird obwohl. Damit bleibt die Frage aktuell, ob die 2001 eingeläutete Doha-Verhandlungsrunde, deren erstes konkretes Ergebnis das Bali-Paket ist, zurecht auch „Entwicklungsrunde“ genannt wird.
Zeitweise wirkte es so, als ob Indien allein gegen den Rest der WTO antritt. Klare Unterstützung bekam es lediglich von den sozialen Bewegungen und NGOs, die die Bali-Verhandlungen kritisch begleiteten. Der Einfluss der zivilgesellschaftlichen Gruppen war in Bali jedoch, anders als früher in Seattle oder Cancún, nur am Rande zu spüren.