Blog

Der Tag ab dem man Pferdchen stiehlt

Von Gastautoren am

Das Apoyo Escolar (Schulnachhilfezentrum), in dem ich arbeite, gehört offiziell zur Asociación Civil de Cartoneros de Villa Itatí. Dieses Projekt ging im Jahre 2001 am Tiefpunkt der großen Wirtschaftskrise aus der Nachbarschaft von Itatí hervor.

Auf den Straßen der großen Städte Argentiniens, und vor allem in Buenos Aires auf der Plaza de Mayo vor dem Regierungsgebäude, standen die Menschen, mit nichts als ihrem Hunger. Protestierende Menschen starben in Zusammenstößen mit der Polizei, in der Nacht des 21. Dezember floh Präsident Fernando De La Rúa mit einem Hubschrauber aus der Casa Rosada.

(Quelle: http://veintitres.infonews.com/nota-3761-politica-La-paradoja-de-la-democracia.html, www.skyscraperlife.com/ciudades-y-arquitectura-la/17220-buenos-aires-de-los-dias-de-aldea-hasta-la-gran-urbe-3.html)

In dieser Situation entstand inmitten vieler ähnlicher Projekte die Initiative der cartoneros (wörtlich: Kartonsammler) von Itatí, die sich zu einer Kooperative vereinten. Sie organisierten sich zum professionellen Aufkauf, der Klassifizierung und dem Recycling der Abfälle, die sie in den Straßen sammelten.

Heute arbeiten etwa 20 Männer im Schuppen der Asociación selbst, viele Familien bringen den von ihnen gesammelten Müll dorthin und werden nach dem Gewicht der gebrachten Ware entlohnt.

Schätzungen zufolge leben im Großraum von Buenos Aires etwa 100.000 Familien davon, nach verwertbaren Materialien zu suchen.

Viele brechen in den Morgenstunden auf, und glücklich sind diejenigen, die ein Pferd besitzen, denn es zieht den hölzernen Wagen auf den ungepflasterten Wegen des Viertels in die Straßen der Stadt.

Itatí liegt in einer Senke, die beim Bau eines Autobahnzubringers entstand, und bei Regen fließt das Wasser in das Viertel, weicht die nur spärlich befestigten Wege auf.

Ab dem 1. Februar 2012 ist es allen cartoneros von Quilmes verboten, mit von Pferden gezogenen Wagen in der Stadt zu arbeiten.

Laut einer neuen Stadtverordnung für das Stadtgebiet von Quilmes ist ein absolutes Verbot ihrer Pferdewagen ausgesprochen; andere Pferdewagen (im Tourismus oder folkloristischen Umzügen) sind ausdrücklich erlaubt. Der Tierschutz feiert seinen Erfolg um die Rechte der Pferde auf den dicht befahrenden Straßen, und ein Nachrichtensprecher verlautet, Buenos Aires sei in der modernen Welt angekommen, in die von Pferden gezogene Wagen eindeutig nicht mehr hineinpassten.

Es ist Freitagabend um halb sechs.

Nach einer langen Arbeitswoche versammeln sich die cartoneros auf Stühlen und Eimern im Schuppen, Asamblea. Sie nehmen uns unsere Pferde weg. Ab kommendem Mittwoch.

Cecilia, Schwester des Franziskanerordens, die das Projekt mit ins Leben rief, ist anwesend; mit ihr Coco, ein Salesianerbruder, und viele der cartoneros, neben mir eine Frau von Perspectiva Sur, einer Lokalzeitung aus dem Süden von Buenos Aires. Ich drucke ihr Foto dieses Nachmittages ab, das ich in ihrem Artikel fand.

 

Cecilia informiert die cartoneros über die Argumente ihrer Gegner - der Menschen von draußen, vor deren Häusern Hunde Wache halten, wie die Pferde in den Häusern der Menschen aus Itatí, die dort drinnen stehen müssen, weil sie Leben erhalten und draußen angebunden gestohlen würden.

Ihr misshandelt die Pferde.

Ihr habt Kinder auf euren Wagen dabei; Kinder sollten in die Schule gehen; nicht arbeiten.

Und einige Frauen sitzen während der Schwangerschaft selbst auf dem wackligen Holz.

Das verzweifelte Schweigen stand in der heißen Halle wie ein vergessenes, ausgetrocknetes Beet.

„Das ist ein Problem“ , sagt einer, „aber ich kann es nicht lösen. Ich habe niemanden, der auf meine Kinder aufpasst, wenn ich gegen Abend hinausfahre.“

„Meinem Pferd geht es gut“, wehrt sich ein anderer. „Sollen sie doch Ärzte schicken und sich dessen versichern.“

Warten.

Cecilia verteilt Kopien eines von ihr und anderen verfassten Gegenentwurfes zum Gesetz. Gemeinsam wird es durchgelesen. Vor allem die älteren Männer diskutieren mit Cecilia und Coco über einzelne Absätze, man streicht.

Mir war bis zu diesem Moment nie bewusst, wie viel Kreativität ein solches Schreiben verlangt. Darüber hinaus möchte ich aber nicht kommentieren, sondern aus ihrem Vorschlag zitieren (eigene Übersetzung aus dem Spanischen).

„Wir ziehen in Betracht,

a) dass die cartoneros eine wichtige, umweltpolitische und soziale Funktion erfüllen und wir die Lebensqualität ihrer Familien verbessern wollen

b) dass das Arbeiten mit Pferden für alle Beteiligten eine risikoreiche Angelegenheit ist und Probleme für den Verkehr in der Stadt mit sich bringt

c) dass einige Pferde krank oder verletzt sind

d) dass in einigen Städten unseres Landes und Lateinamerikas bereits Erfahrungen gemacht wurden, die Pferde gegen andere Leichtfahrzeuge auszutauschen (Cordoba, Stadt Buenos Aires, Rosario...)

e) dass die Tierschutzvereine weiterhin den Antrieb der Wagen durch tierische Lebewesen (tracción a sangre) reklamieren

f) dass die Arbeitsbedingungen der recicladores urbanos verbessert werden müssen.“

Ein Vorschlag der Stadt bezog sich darauf, dass man doch einen Zeitraum des Tages auswählen könnte, in dem die cartoneros noch ihrer Arbeit nachgehen könnten. Man einigte sich auf nachts.

„Soll ich meine Kinder also dann nachts allein lassen?“ -

Es geht wohl weder um die Gesundheit der Pferde noch um die Kinderarbeit selbst.

Es geht um die Kinderarbeit auf öffentlicher Straße im Stadtbild einer modernen Stadt. Und um große wirtschaftliche Interessen. Der Abfall ist wie vielerorts ein großes Geschäft.

Die cartoneros überlegen, ob ein fester Zeitraum in irgendeiner Weise vielleicht einhaltbar wäre. Doch der eine zieht morgens los, der andere abends. Viele haben noch andere kleinere Arbeitsstellen, und es muss kombinierbar bleiben.

Es wird der Vorschlag erdacht, einen Zeitraum von 18 Monaten einzurichten, in dem jeder Arbeitende frei entscheiden kann, ob er sein Pferd gegen ein anderes Gefährt eintauschen möchte. Über alles kann ein Gespräch zustande kommen, aber ein schlichtes Verbot ihrer Arbeitstätigkeit wird verzweifelt bekämpft. Man schlägt vor, in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Fakultäten an der Universität ein Konzept zu erarbeiten, das für alle annehmbar ist.

Am Montag im Büro des Bürgermeisters. Er gesteht seinen Fehler ein, diese Anordnung ohne Absprache mit den Betroffenen auf den Weg gebracht zu haben. Der Bürgermeister war selbst viele Jahre ein Verschwundener1 und ist niemand, der den Armen den Hals abschneidet. Doch eines möchte er in seiner Stadt nicht zulassen: Das Kinder allein die Pferdewagen führten.

Vor Kurzem ritt ein kleiner Junge riskant über einen Bahnübergang und wurde von einem Zug erfasst. Dass Kinder auf diese Art ums Leben kommen, könne er nicht zulassen. Zustimmung.

Das (Arbeits-)Verbot wurde zunächst aufgeschoben. Weitere Gespräche sollen nun folgen.

Einige Zeitungen berichten im Internet über den stattfindenden Dialog, unter den Artikeln haben Leser die Möglichkeit, zu kommentieren. Dass niemand auf der Seite der cartoneros steht, ist keine Überraschung. Die gewaltsame Art der gezeigten Ablehnung ihrer Lösung zur Überwindung der arbeitslosen Armut jedoch erschreckt mich.

Für viele cartoneros ist das Pferd das einzige, was sie besitzen.

Vor einigen Jahren passierte etwas Ähnliches. Der Vorwurf, Pferde würden misshandelt, ist nicht neu und damals begann die Regierung damit, die Besitzer ihrer Pferde auf der Straße zu enteignen. In diesem Moment segnete Arturo Blatezky, Pastor und Mitglied der Ökumenischen Menschenrechtsbewegung MEDH, 150 Pferde und Karren auf dem großen Fußballfeld von Itatí zwischen den beiden Autobahnauffahrten. Es war eine Demonstration der tiefen Bindung der cartoneros zu ihren Pferden. Pastor Blatezky segnete Brot, brach es, gab es den Anwesenden, und sie brachen es in rührenden Momenten, um es mit ihren Pferden zu teilen.

Ich werde vom weiteren Verlauf der Dinge berichten und hoffentlich ein paar Fotos vom Geschilderten auftreiben können.

An diesem Nachmittag war es mein Anliegen, bis hierhin das Geschehene festzuhalten, und von der spannenden Erfahrung zu berichten, wenn sich sooft Unbeachtete Gehör verschaffen, um im politischen Prozess für ihre Art der Überwindung der Armut einzustehen.

Straßenszene aus Itatí. Auf dieser Aufnahme schieben Jungen ein Autowrack zwecks Verkaufs zum Recycling-Schuppen der cartoneros (rotes Backsteingebäude hinten links). Viele der Kinder aus meinem Apoyo Escolar sind Kinder von cartoneros.

1 Während der grausamen Militärdiktatur (1976-83) ließ die Regierung etwa 30.000 Menschen, vor allem politische Gegner und Studierende, verschwinden. Link zum Weiterlesen: www.lateinamerikanachrichten.de/index.php

*****

 

 

20. März 2012 - Aktualisierung

Die Regierung hält sich an keine getroffene Abmachung.

Die Polizei entführt Pferde und Wagen auf offener Straße.

Sie beruft sich dabei auf ein Gesetz, das noch von der Militärdiktatur geschaffen wurde.

Am kommenden Samstag, dem 24. März, wird an den Militärputsch des Jahres 1976 erinnert. Es ist die größte Demonstration des Jahres in Argentinien. Nie wieder! - ist die Botschaft, und im gleichen Moment zieht die Regierung von Quilmes Gesetze aus dieser Zeit heran, aus mangelnder Fähigkeit, mit eigenen, demokratischen Mitteln Politik zu machen.

Jetzt spenden Unterstützen Sie uns

Lachender Junge

Hinweis: Die Spendenbeispiele sind symbolisch. Durch Ihre zweckungebundene Spende ermöglichen Sie uns dort zu helfen, wo es am dringendsten ist.

50 € (Spendenbeispiel) Mit 50 € kann z.B. eine Permakultur-Schulung in Malawi finanziert werden. So lernen Familien, wie sie dank Permakultur auch in den Dürre-Perioden frisches Obst und Gemüse ernten können.

100 € (Spendenbeispiel) Mit 100 € können z.B. 50 Spaten für das Anlegen von Gemüsegärten in Burkina Faso gekauft werden. Dort wird vermehrt auf dürreresistentes Saatgut gesetzt, um trotz Klimawandel genug zum Überleben zu haben.

148 € (Spendenbeispiel) Mit 148 € kann z.B. ein Regenwassertank mit 2.000 Liter Fassungsvermögen in Bangladesch gekauft werden. Dort versalzen immer mehr Wirbelstürme die Böden und das Grundwasser, Trinkwasser ist Mangelware.

Hinweis: Die Spendenbeispiele sind symbolisch. Durch Ihre zweckungebundene Spende ermöglichen Sie uns dort zu helfen, wo es am dringendsten ist.

50 € (Spendenbeispiel) Mit 50 € kann z.B. eine Permakultur-Schulung in Malawi finanziert werden. So lernen Familien, wie sie dank Permakultur auch in den Dürre-Perioden frisches Obst und Gemüse ernten können.

100 € (Spendenbeispiel) Mit 100 € können z.B. 50 Spaten für das Anlegen von Gemüsegärten in Burkina Faso gekauft werden. Dort wird vermehrt auf dürreresistentes Saatgut gesetzt, um trotz Klimawandel genug zum Überleben zu haben.

148 € (Spendenbeispiel) Mit 148 € kann z.B. ein Regenwassertank mit 2.000 Liter Fassungsvermögen in Bangladesch gekauft werden. Dort versalzen immer mehr Wirbelstürme die Böden und das Grundwasser, Trinkwasser ist Mangelware.

Bitte eine gültige Eingabe machen

Als Fördermitglied spenden Sie regelmäßig (z.B monatlich)