289 Tage sind vergangen…
62 Tage bleiben noch, davon nur 22 normale Arbeitstage…
ein perfekter Zeitpunkt für einen weiteren Blogeintrag.
Sowohl in meiner Arbeit in der Nachhilfe, als auch im Frauenhaus, wo ich erst seit etwa zwei Monaten arbeite, mache ich immer wieder sowohl positiv, als auch negativ beeindruckende Erfahrungen, von denen ich erzählen möchte:
Das Haus einer Familie mit fünf Kindern, die unserem Nachhilfegebäude direkt gegenüber wohnt, ist vor einer Woche abgebrannt. Sie gehörten im Elendsviertel selbst schon zu den Ärmeren und hatten kaum mehr als einen Verschlag aus Wellblech, Brettern und Planen als Zuhause. Vermutlich ist die Feuerstelle, auf der sie kochen, außer Kontrolle geraten und so sind fast alle ihre Besitztümer in Rauch aufgegangen. Kleider, Schuhe, Schulhefte. Und das ausgerechnet vor dem nahenden Winter.
Es ist schwer zu begreifen, warum es gerade diese Familie treffen musste, wenn die Geschwister eine Weile mit kohleschwarzen Händen zur Nachhilfe kamen, ihre Haare nach Qualm rochen und sie ihren Freunden erklären mussten, dass Schulhefte bei einem Brand nass werden, weil man das ja mit Wasser löscht. Mittlerweile ist das gerettete Heft getrocknet, das Dach wieder dicht und die Kinder laufen nicht mehr barfuß im Schlamm.
Das jüngste dieser Kinder ist Braian, ein Zweijähriger, der vor einem halben Jahr häufig alleine vor seinem Haus stand. Manchmal barfuß und schlecht gekleidet, immer still, einsam und trotz seiner traurigen Mine von den anderen Kindern unbeachtet. Mittlerweile hat er Vertrauen gefasst, kommt auf mich zu, lässt sich von mir auf der Schaukel anschubsen und lacht sogar, wenn ich ihn auf den Arm nehme. An manchen Tagen schreit er meinen Namen, so gut er ihn eben aussprechen kann, während ich arbeite, damit ich komme, um ihn anzuschubsen. Ich bin total stolz, wie sehr er mir vertraut, obwohl er noch gar nicht zu „meinen“ Nachhilfsschülern gehört und ich hoffe, dass er auch nach meinem Abflug, sich weiter so gut entwickelt, auch wenn eine Bezugsperson ihn verlassen hat.
Im Frauenhaus konnten zwei Frauen mit ihren Kindern in eigenständige, neue Sozialwohnungen ziehen und so sind neue Bewohnerinnen mit jeweils fünf Kindern eingezogen.
Auch hier bin ich erstaunt, wie schnell Nathanael, Dylan und Co sich als Gruppe gefunden und zu uns Vertrauen gefasst haben.
Ein siebenjähriges Mädchen beispielsweise, das gestern bei unserer Ankunft traurig und verschlossen war und später mit uns gespielt und gelacht hat, hat kurz bevor wir Freiwilligen wieder gegangen sind, plötzlich angefangen zu weinen und hat mich umarmt; bestimmt für zwei Minuten, voller zärtlichem Druck.
Ich will und kann mir nicht vorstellen, wie viel Nähe und Sicherheit diesem Mädchen fehlt, damit sie so etwas mit mir tut, obwohl wir uns bisher höchstens dreimal für je 2 Stunden gesehen haben.
Außerdem haben die Sozialarbeiterinnen des Frauenhauses eine der vor Kurzem eingezogenen Frau, die mit ihren Kindern zu ihrem gewalttätigen Ehemann zurückkehren wollte, vorerst überreden können, im Frauenhaus zu bleiben, in dem sie ihr den Besuch von Stefan und mir angekündigt hat. Mittlerweile will diese ihre Kinder in einer Schule nahe dem Frauenhaus anmelden; es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung, aber trotzdem ein sehr befriedigender, denn man spürt, dass man mit seinem bescheidenen Toben, Spielen, Reden und Zeichnen mit den Kindern eine sinnvolle, sogar elementare Aufgabe erledigt.
Das hilft mir über den ein oder anderen Zweifel, den ich hege, wenn mein Drittklässler einfach nicht zu lesen lernt…
Im Gegensatz zu anderen Freiwilligen, die das Gefühl haben, in ihren Projekten gegen Windmühlen kämpfen oder gegen „Wände der argentinischen Bequemlichkeit“ zu reden, bin ich froh, sagen zu können, dass mein Projekt zur Zeit trotz allen Schwierigkeiten eher wächst und stärker wird, als zu stagnieren.
Insgesamt erreicht unsere „Cartonero-Assoziation der Salisianer“ in ihren vier Nachhilfsgruppen an zwei verschiedenen Orten über 120 Kinder, in zwei Jugendzentren etwa 80 Jugendliche. Außerdem gibt sie 25 Cartoneros und einem halben Dutzend Erzieherinnen (und zwei Erziehern) im „Cartonero-Schuppen“ und den Nachhilfeschulen einen festen Arbeitsplatz mit geregeltem Einkommen.
Damit erreichen wir zwar nicht einmal 10% aller Personen/Familien, die in der „Villa Itatí“ leben, aber wenn diese Assoziation wie jetzt im Mai ihr zehnjähriges Jubiläum feiern kann, dann ist das zwar ein Grund zur Freude und dennoch keine Gelegenheit, sich auszuruhen, sondern zum Anpacken und Weitermachen…Hoffentlich sehen das auch die kommenden Freiwilligen es ähnlich, sofern Niebels Pläne es erlauben, sie zu schicken. Nicht dass unsere Koordinatorin sich wieder beschweren muss, dass „die Deutschen“ von Jahr zu Jahr fauler werden.
Ein Beispiel für das Wachstum ist der große Hof mit Bäumen, den wir vor meinem Nachhilfsgebäude zusätzlich anlegen wollen. Dazu haben wir Freiwilligen mit einem engagierten Paraguayer eine Menge Schilf mit Macheten gekürzt, einen Zaun aus Holzpaletten errichtet und schubkarrenweise Erde angekarrt.
Jetzt warten wir auf Abflussrohre und viel Erde von der Stadtverwaltung, womit eine Straßenpassage gebaut und der Hof gefüllt werden soll. Da die Regierungspartei im Moment tief im Wahlkampf steckt (Präsidentschaftswahlen im Oktober), haben wir sogar berechtigte Hoffnung, dass diesmal tatsächlich etwas vorangeht.
Darüber hinaus habe ich auch in den Nachhilfsgruppen das Gefühl, dass sich durch Kleinigkeiten Einiges verbessert in diesem Jahr. Es gibt mehr Kontinuität für die Kinder, indem feste Gruppen gebildet wurden und die Erzieher seltener fehlen; die Schulutensilien wurden besser eingeteilt und werden besser gepflegt; eine recht autoritäre und schreiend-einschüchternde Erziehern wurde durch jüngere ersetzt; in große Ausflüge werden die Kindern im Voraus pädagogisch miteinbezogen…
Des Weiteren werden alle zwei Wochen für uns Erzieher eine pädagogische oder fachliche Weiterbildung von außen angeboten, zu der mittlerweile sogar fast alle Erzieher kommen.
Hilfreich und innovativ ist auch ein Kurs über gruppendynamische Spiele, der in einem befreundeten Projekt eines anderen Viertels wöchentlich stattfindet und den ich mit drei anderen Erzieherinnen besuche.
Das sind alles viele kleine Veränderungen, die mich motivieren und hoffen lassen…nicht auf eine große Revolution der Armen dieser Welt, aber dennoch auf eine langsame Angleichung an unsere Lebensbedingungen für alle Villa-Bewohner, alle benachteiligten Argentinier und letztendlich alle Menschen, die nicht im Zentrum des Wohlstands leben.
Das geht allerdings nur, wenn die reichen Argentinier und wir, reichen Westler uns nicht weiter blind- oder sogar querstellen, sei es im Namen Gottes oder im Namen der Menschlichkeit oder nur wegen (D)eines schlechten Gewissens…denn schon „Die Ärzte“ wussten:
„Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist,
es wäre nur deine Schuld, wenn sie so bleibt!“
In diesem Sinne melde ich mich nächste Woche wieder mit vielen weiteren Themen, die sich eher um mich und meine Zukunft drehen…