Das zehnte Weltsozialforum ist vorbei. Fünf Tage hatten Teilnehmende zumeist aus afrikanischen Ländern in über 1.000 Veranstaltungen, oft unter chaotischen Bedingungen, über brandaktuelle Themen diskutiert. Im Interview hält Jürgen Reichel, Mitglied im Organisationsgremium des Forums und EED-Referatsleiter, Nachlese.
Braucht die Welt das Weltsozialforum nach über zehn Jahren noch?
Selbstverständlich. Die Weltwirtschaft hat trotz Banken-, Ernährungs- und Klimakrise noch immer keine wirklichen sozialen und ökologischen Leitplanken eingezogen. Es gibt beispielsweise keine Informationen darüber, ob Fischereikonzessionen die Nachhaltigkeit von Fischbeständen oder die Folgen für die Küstenfischer beachten. Auf den Weltsozialforen treffen Menschen aus verschiedenen Ländern zusammen, die mit vergleichbaren Problemen zu kämpfen haben. Sie vernetzen sich neu oder stärken bestehende Netzwerke. Sie bauen eine Gegenmacht zum Weltwirtschaftsgipfel von Davos und den G8- und G20-Treffen auf. Das Trennende tritt in den Hintergrund und sie können weltweit agieren.
War es richtig, das zehnte Weltsozialforum nach Afrika zu geben?
Das Forum in Dakar hat gezeigt, dass die Menschen auf dem Kontinent noch viel ungeduldiger sind als wir es bei der Festlegung für Senegal vor eineinhalb Jahren gespürt haben. Forderungen nach Transparenz und Demokratie sind nicht nur im Norden Afrikas, sondern auch südlich der Sahara unüberhörbar. 50 Jahre lang haben die Menschen nach der Unabhängigkeit der meisten afrikanischen Staaten stillgehalten. Sie wollten ihre Regierungen gegenüber den alten Kolonialmächten nicht schwächen, selbst wenn sie sich als unfähig erwiesen haben. Dieser Stillhaltebonus ist jetzt aufgebraucht, die Menschen wollen jetzt demokratische Veränderungen.
Viele Teilnehmende beschreiben das Weltsozialforum von Dakar als ein einziges großes Chaos. Teilen Sie diesen Eindruck?
Die organisatorischen Mängel waren unübersehbar. Es ist ein Jammer, wie viele Initiativen ihre Veranstaltungen nicht umsetzen konnten. Manche fanden überhaupt kein Publikum, weil Zeit und Ort bis kurz vor Beginn unklar waren. Dadurch wurde sehr viel Potenzial verschenkt. Die traurige Wahrheit ist, dass die Behinderungen wohl aus politischen Gründen erfolgten. Die Staatsführung wollte ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen und angesichts der Unruhen in Nordafrika verhindern, dass ein Funke vom Forum auf die Bevölkerung überspringt. Im Januar ist deshalb ein neuer Unipräsident eingesetzt worden, der die von seinem Vorgänger mit dem Weltsozialforum getroffenen Absprachen nicht anerkannte. Er ließ die Planungen der Organisatoren an vielen Stellen ins Leere laufen. Paradoxerweise zeigt das die Bedeutung des Weltsozialforums: Es deckt auch Defizite in den Ausrichterländern auf.
Das Interview führte Martin Koch