Wie sieht die politische Situation in Ägypten nach dem „Arabischen Frühling” aus? Und warum kommt es zu Migration?
Youssef: Es hat in diesem Jahr in Ägypten viele politische, soziale, kulturelle und religiöse Veränderungen gegeben. Dennoch ist der Kampf in Ägypten nicht zuende.
Die ägyptische Revolution, die auf die tunesische folgte, hat zu zahlreichen Aufständen in der Region geführt, und das ist es, was wir als „Arabischen Frühling” bezeichnen. Vom Golf bis zum Ozean kämpfen die Araber endlich für ihre Freiheit und gegen die Diktatoren.
Diese dramatischen politischen Veränderungen werden zwar gefeiert, führen aber gleichzeitig zu einem instabilen Zustand, durch den arme Menschen gezwungen werden, auf der Suche nach einem besseren Leben in Länder abzuwandern, die ihnen Sicherheit gewähren können.
Obwohl es in Ägypten weniger Aufruhr gab als in anderen Ländern, sind viele Menschen weggezogen, um der Gewalt zu entgehen. Und viele Ägypter, die in anderen Ländern gearbeitet haben, sind nach Ägypten zurückgekehrt und kämpfen nun mit Arbeitslosigkeit, schlechten wirtschaftlichen Bedingungen und der Bedrohung ihrer Sicherheit.
Als Reaktion auf das Aufblühen radikaler islamischer Gruppen seit dem Zusammenbruch des Sicherheitssystems ziehen viele Ägypter, besonders Kopten, es vor, in den Westen zu emigrieren.
Können Sie die jüngsten politischen Entwicklungen in Ägypten erklären?
Youssef: Die Hauptentwicklung in Ägypten ist die Vertreibung des früheren diktatorischen Regimes. Jetzt sind die Ägypter voll Hoffnung, dass sie ihr Land auf den Weg zu einer echten Demokratie bringen können.
Es gibt jedoch viele für die Ägypter frustrierende Faktoren, unter anderem die Tatsache, dass sich der Oberste Rat der Streitkräfte soviel Zeit damit läßt, die Macht an eine Zivilregierung abzutreten. Viele Demonstranten haben gefordert, diese Übergangsphase zu beschleunigen.
Eine weitere Sorge ist das Aufblühen radikaler islamischer Gruppierungen nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch das vorherige Regime. Diese Gruppen verlangen eine Rolle im neuen Ägypten, und einige von ihnen, wie Al Ekhwan al Muslmūn, Al Salafi-oun und Al Ja-ma’a Al Eslamiyya, verfügen nach der ersten Wahlrunde über mehr als 40 Prozent der Sitze im Parlament.
Trotz der vielfach geäußerten Forderung, das Wiedererstarken der Symbole des früheren Regimes zu verhindern, haben der Oberste Rat der Streitkräfte und die Regierung nicht wirklich die erforderlichen Maßnahmen getroffen. Und so kommt es, dass viele Mitglieder der aufgelösten Nationaldemokratischen Partei neue politische Parteien gebildet haben und für die aktuellen Parlamentswahlen kandidieren.
Ein Rückschlag ist auch, dass es den liberalen Kräften teilweise nicht gelungen ist, in der ersten Phase der aktuellen Parlamentswahlen eine Mehrheit zu erringen. Dadurch kam es zu einem Zustand der Ungewißheit, der sich als Übergangsperiode ohne deutlichen politischen Kurs darstellt.
Was bedeutet diese Situation für die Christen in Ägypten?
Youssef: Da es keine Sicherheit gibt, sahen sich die Kopten zunehmend Gewalt und zwischenreligiösen Spannungen ausgesetzt, die zum Niederbrennen einiger Kirchen führten, wie beispielsweise in Atfih, Embaba und Aswan. Bei dem unglücklichen Vorfall am 9. Oktober wurden mehr als 30 Christen getötet, als sie gegen das Niederbrennen der Kirche in Aswan protestierten.
Das Aufblühen radikaler Gruppen in Ägypten kann dazu führen, dass ein islamischer Staat gegründet und die islamischen Gesetze der Scharia eingeführt werden. Als eine durchaus gerechtfertigte Reaktion ziehen sich die Christen, die bereits verunsichert sind, immer stärker in ihre Kirchengemeinden zurück.
Diese Situation hat außerdem eine Emigrationswelle unter den Christen ausgelöst, deren Hauptgrund die politische Ungewißheit im Lande ist. Die Christen fürchten, dass Ägypten, wenn der Oberste Rat der Streitkräfte weiterhin regiert, unter der gleichen Militärherrschaft stehen wird wie in den vergangenen 60 Jahren. Sie befürchten auch, dass, wenn die radikalen Ziele der politischen islamischen Gruppierungen umgesetzt werden, indem man zum Beispiel einen islamischen Staat gründet, es für Christen in diesem Staat keinen Platz geben wird.
Des weiteren zwingt die sich verschlechternde wirtschaftliche Situation Millionen arbeitsloser Bürger dazu, außerhalb Ägyptens nach Arbeit zu suchen. Die zunehmende Gewalt hat viele Kopten gezwungen, in Länder wie die USA, Kanada und Australien auszuwandern. Außerdem beantragen viele der christlichen Ägypter religiöses Asyl. In dieser Situation haben Stimmen aus der koptischen Diaspora internationalen Schutz für die religiösen Minderheiten in Ägypten beantragt.
Wie gehen die Kirchen mit diesen Herausforderungen um? Wie lautet die ökumenische Antwort?
Youssef: Die nationalen Kirchen in Ägypten spielen eine wichtige Rolle im gesellschaftlichen Leben. Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass ihre Anhänger vollwertige Staatsbürger ihres Landes sind.
Außerdem versuchen die Kirchen, die Christen darauf aufmerksam zu machen, wie wichtig ihre Beteiligung am gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leben ist. Einige Kirchenführer nehmen an politischen und gesellschaftlichen Ereignissen teil, weil sie sich an der Planung für das neue Ägypten nach der Revolution beteiligen wollen.
Am 11. November fand im Kloster von Saint Sam’an El Kharaz eine große ökumenische Gebetswache für Ägypten statt, an der 70.000 Christinnen und Christen aller Konfessionen teilnahmen. Eine ganze Nacht lang beteten die Menschen für Ägypten.
Die Kirchen kümmern sich auch um die Migranten. Sie bieten ihnen geistliche Unterstützung mit spezialisierten Programmen für Flüchtlinge an, leisten finanzielle Hilfe bei der Suche nach einem Arbeitsplatz, besorgen Unterkünfte und andere Formen der Hilfe und unterstützen die Migranten bei Asylverfahren.
Das Interview fand am Rande einer Sitzung des Globalen ökumenischen Netzwerks für Migrationsfragen des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) statt, das das ÖRK-Büro für Gerechte und integrative Gemeinschaften auf Einladung des Kirchenrates des Nahen Ostens (Middle East Council of Churches) von 5. bis 7. Dezember in Beirut veranstaltete.
© Naveen Qayyum / ÖRK