Heute war ein großer Tag! Er war nicht geprägt von Glanz und Glamour, war weder festlich noch anderweitig offensichtlich bemerkenswert. Es war ein Tag an dem all das was ich bisher gelesen, gehört oder gesagt habe ohne Bedeutung waren, keine der tausenden Theorien meiner politischen Belesenheit mir weiterhelfen konnten, ein Tag auf den einen Bilder von Krieg und Zerstörung, von Armut und Tod, von Auswüchsen des immer weiter um sich greifenden Imperialismus weniger Länder nicht vorbereiten können. Karl Marx beschreibt die Armut des Proletariats, die Himmelweiten Unterschiede zwischen Arbeiter und Belesenem, sogenanntem Intellektuellen, beschreibt den Zerfall jeden kultivierten Lebens durch Kapitalismus und seine Krisen, Wladimir Lenin beschreibt überdeutlich die Ausbeutung der Masse durch Individuen im Zarenreich, Buenaventura Durutti gibt einem Einblick in die eigene Lebenslage, gefangen zwischen 13 Stunden Arbeit und Blechhütten von 10 Quadratmetern in denen ganze Familien einpfercht wie Hühner in Massentierhaltung das verbringen, was man wohl ein Leben am Abgrund nennen darf, Ernesto Che Guevara beschreibt den Imperialismus der USA als die Bereicherung weniger in einem System das auf Eigeninitiative aufbaut, diese in der Praxis aber mit allen erdenklichen Mitteln zu unterdrücken sucht.
All das schrumpft in wachsender Unwichtigkeit zusammen, wenn die Armut einen selber ereilt, wenn man mit eigenen Augen sieht, was man vorher nur gelesen und vermutet hatte, wenn die Aussichtslosigkeit von 55000 Menschen zusammengepfercht auf 32 Miniblöcke greifbare Realität wird, wenn einem Menschen gegenüberstehen, meist offen wenige misstrauisch, die in einer von Hunger und Materialnot regierten Welt leben und versuchen ein Heim für Kinder und Frau bewohnbarer zu machen. Mit einigen wenigen Brocken Spanisch habe ich heute mit Einwohnern des Elendsviertels kommuniziert und versucht über alltägliche Gemeinsamkeiten zu reden. Themen wie Fußball und Musik sind willkommene Gesprächsthemen wenn sonst keine Berührungspunkte vorhanden sind. Jeder Haushalt hat einen Fernseher, das hat die Regierung vor einigen Jahren festgesetzt, Fußball und Basketball sind live im Staatsfernsehen empfangbar, Musiksender gibt es mehr als in Deutschland, die ungebildeten Massen sind ruhiggestellt und Dummgehalten.
Die Kinder spielen in Tümpeln, verseucht von Chemikalien und Essensresten, die Fußbälle sind aus den Mülleimern der Reichen stibitzt und zusammengeflickt und wer Handy und Mp3player besitzt wird des Stehlens bezichtigt. Gepflasterte Straßen gibt es nicht, die Blechhütten sind oft nicht höher als 1,80 Meter. Viele werden nie fertig gestellt, da das selbst erarbeitete Geld nicht die Fertigstellung ermöglicht und der Staat mit dem Bau von Villen für Europäer alle Hände voll zu tun hat und sich um das Haus eines Villabewohners nicht weiter kümmern kann.
Und Mittendrin ein gut gebauter, junger Mann mit gefälschtem Messi-Trickot und immerwährendem Lächeln auf dem Gesicht, der mich über den Fußball und mein Lieblingsbier in Deutschland ausfragt und zufrieden in der Mittagssonne seine Zigarette raucht. Auf die Frage, ob er gerne im Villa wohne lächelt er noch breiter, zeigt auf den improvisierten Fußballplatz direkt vor uns, dreht sich einmal um 360 Grad und umfasst mit ausgestreckten Armen rhetorisch gesehen das ganze Viertel. „Guck wie schön ruhig es um die Mittagszeit wird. Heute Abend müsstest du hier sein, Musica von allen Seiten. In diesen Momenten gibt es keinen schöneren Ort auf der ganzen Welt.
Der Villabewohner hat von Marx, Engels und Trotzki noch nie etwas gelesen, kennt Che Guevara nur mit Heiligenschein, weiß nichts über seine Taten viel aber über seine Großherzigkeit und Wärme, denn die Taten interessieren ihn nicht. Er braucht Vorbilder mit Identifikationsformat, Che war kein Mediziner und Mittelklassebürger sondern Guerillakämpfer des Volkes. Theorien interessieren wenig, da der Villabewohner schon lange zu hoffen aufgehört hat. Entweder man wird Fußballstar, Schauspieler oder Sänger, eine andere Möglichkeit rauszukommen gibt es nicht. Karl Marx träumt von einer Diktatur des Proletariats, von der Überwerfung des Kapitalismus wenn das Volk nicht mehr weiter sinken kann. Ich habe gestern mit eigenen Augen gesehen, wie weit man sinken kann und wie wenig revolutionäres Potential die Ärmsten der Armen doch besitzen. Im Ghetto denkt niemand weiter als morgen, Hunger und Durst sind existentiell gesehen wichtiger als der Überwurf eines Wirtschaftssystems, welches die Parallelgesellschaft des Villa Itati gar nicht merklich erreicht.