GRC, Griechenland, Chios, 30.09.2015: Gerade angekommene umidentifizierte  Flüchtlinge schlafen am Strand nahe des Hafens von Chios Town. Der Leiter der Diakonie Katastrophenhilfe, Martin Kessler ist auf einem Kurzbesuch auf der Insel Chios um sich ein Bild der Lage der dort ankommenden Flüchtlinge zu machen und um Mitarbeiter von Parteiorganisationen zu treffen. Chios ist nur 7 km von der Türkischen Küste entfernt und jeden Tag erreichen Schlauchboote die Insel. Nach Zählung der lokalen Polizei allein allein im September 2015 über 13.000.(Hermann Bredehorst/ Diakonie Katastrophenhilfe)
Hintergründe zur Flucht

Nicht Grenzen schützen, sondern Menschen

Immer mehr Menschen fliehen aus ihrer Heimat, weil es dort lebensgefährlich ist. Die Aufnahmeländer in der Nachbarschaft haben nicht mehr die Ressourcen, noch mehr Flüchtlinge aufzunehmen, und die UN-Hilfswerke erhalten keine ausreichende Finanzierung, um die Flüchtlinge dort angemessen zu versorgen.

Die Aufgaben Europas

Europa setzt vor allem auf die Abwehr von Flüchtlingen und wurde 2015 von der Entwicklung im Nahen Osten unvorbereitet getroffen. Das Resultat ist eine anhaltende Aufnahmekrise. Die Organisation von Flüchtlingsschutz auf europäischer Ebene stellt eine große Herausforderung dar, die jedoch nicht dazu führen darf, dass die Genfer Flüchtlingskonvention und das Recht auf Asyl untergraben werden. So formulierte das Bundesverfassungsgericht: „Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Folgende Maßnahmen sollte die europäische Staatengemeinschaft ergreifen, um für die Aufnahme von Flüchtlingen eine menschenrechtlich adäquate Lösung und souveränes politisches Handeln zu ermöglichen.

1. Legale Einreisemöglichkeiten und Resettlement stärken

Europas Grenzschutzpolitik nimmt fortgesetzt in Kauf, dass jährlich tausende Menschen an den EU-Außengrenzen sterben. Im Jahr 2016 ertranken mehr als 5000 Menschen im Mittelmeer. Sie waren auf der Flucht vor Krieg, Terror, Not und sahen ihre einzige Chance auf Zukunft in der lebensgefährlichen Überfahrt. Damit ist die europäische Außengrenze die tödlichste Grenze der Welt. Das ist ethisch und politisch nicht zu akzeptieren.

Nur die Einrichtung legaler Fluchtwege, zum Beispiel durch humanitäre Visa zur Asylbeantragung, Resettlement oder humanitäre Aufnahmeprogramme können dieses Sterben beenden. Hermetische Abriegelungen der See-, Luft und Landgrenzen sind nicht möglich. Die restriktive EU-Visapolitik treibt deshalb schutzsuchende Menschen alternativlos in die Hände von Schleusern. Jeder Zaun und jede sonstige Migrationskontrolle in und um Europa treibt lediglich die Preise der Fluchthelfer in die Höhe. Solange die Regierungen der Europäischen Union keine legalen Fluchtmöglichkeiten schaffen, werden die Bilder und Berichte über das Massengrab Mittelmeer nicht enden. Mindestens für die Fliehenden aus akuten Kriegsgebieten wie Syrien und Irak müssen Möglichkeiten für eine sofortige, visumfreie EU-Einreise, verbunden mit der Möglichkeit, Asyl zu beantragen, geschaffen werden.

Neuansiedlungs-(Resettlement-)Programme könnten weit über das bestehende Maß hinaus ausgebaut und zu einem verpflichtenden Bestandteil des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems werden. An der geringen Aufnahmebereitschaft vieler EU-Mitgliedstaaten zu arbeiten, ist angesichts der humanitären Notlage der Flüchtlinge eine vordringliche Aufgabe der EU.

2. Statt Smart Borders die zivile Seenotrettung stärken

Die Europäische Union braucht dringend ein funktionierendes Seenotrettungssystem. Alle Möglichkeiten müssen genutzt werden, um Menschenleben zu retten. Die Grenzschutzbehörde Frontex und das hunderte Millionen Euro schwere Überwachungssystem Eurosur haben das Mandat, Grenzen zu sichern, nicht aber Menschen zu retten. Militärische Missionen gegen Schlepperbanden auf See oder an Land gefährden Flüchtlinge zusätzlich und treiben die Preise der Fluchtwege noch weiter in die Höhe. Solange es an legalen Fluchtmöglichkeiten fehlt, braucht es eine umfassende zivile Seenotrettung.

3. Statt „Hotspots“: Registrierungs- und Beratungsmöglichkeiten

Flüchtlingsaufnahmelager an der europäischen Außengrenze, sogenannte Hotspots, von denen es derzeit fünf in Italien und sechs in Griechenland gibt, sollten eigentlich dazu dienen, die Ankommenden zeitnah zu identifizieren, zu registrieren, ihre Fingerabdrücke abzunehmen und gegebenenfalls an der Weiterreise zu hindern. Das Hotspot Konzept sollte dazu beitragen, die temporären Umverteilungsmechanismen umzusetzen (Relocation), die die EU-Kommission vorgeschlagen hatte: 160.000 Menschen, die Anspruch auf internationalen Schutz hätten, könnten, so die Pläne der EU-Kommission, von den betroffenen Mitgliedsstaaten an andere EU-Mitgliedsstaaten umverteilt werden, wo ihr Asylantrag bearbeitet wird. Umgesetzt wurde dieses Vorhaben bislang nicht. Tatsächlich wirken Hotspots wie Haftlager, in denen Geflüchtete unter katastrophalen Bedingungen unbestimmte Zeit ausharren müssen. In Griechenland sind die Hotspots unhygienisch, stark überfüllt und bieten Frauen, Kindern und anderen besonders verletzlichen Gruppen keinen ausreichenden Schutz.

Für die Unterbringung von Schutzsuchenden müssen die humanitären Standards eingehalten und ein Mindestmaß an Schutz und Transparenz für die Betroffenen gewährleistet werden. Die notwendigen personellen Kapazitäten, um die asylrechtlichen und humanitären Standards effektiv zu garantieren, müssen zeitnah massiv aufgestockt werden. Flüchtlinge müssen realistische Informationen über die Zielländer und eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung für die EU für die legale Weiterreise erhalten.

Die EU muss dringend das vereinbarte Relocation-Programm umsetzen und weitere Angebote vorhalten, die die Aufnahmekapazitäten der Mitgliedsstaaten berücksichtigen. Es braucht dringend Regelungen über zügige und praktikable Verfahren für humanitäre Härtefälle und Familienzusammenführungen nach der Dublin III-Verordnung. Verfahren, die sich über Jahre hinziehen, sind nicht hinnehmbar. Pragmatische Kontingentlösungen, beispielsweise aus Griechenland, unter Priorisierung von Familienbindungen und besonderer Schutzbedürftigkeit, sind sinnvoll.

4. Auslagerung von Schutzverantwortung beenden

Durch Migrationsabkommen wie dem im März 2016 in Kraft getretenen Deal zwischen der Europäischen Union und der Türkei versucht die EU, sich ihrer Verantwortung für den Schutz von Flüchtlingen zu entziehen. Sie schottet sich ab und überlässt es gegen das Versprechen großzügiger Finanzhilfen Drittstaaten, Schutzsuchende aufzunehmen – ob der rechtliche und faktische Schutz für die Menschen dort gewährleistet und ihre Interessen gewahrt werden, spielt eine nachrangige Rolle und wird nicht nachverfolgt. Das individuelle Recht auf Asyl und der Grundkonsens für Flüchtlingsschutz in der EU insgesamt wird ausgehöhlt, wenn Staaten pauschal als sichere Drittstaaten deklariert werden und wenn zudem Schutzsuchenden qua Herkunftsland die Schutzberechtigung abgesprochen wird.

Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei beispielsweise bezieht sich nur auf die Aufnahme syrischer Flüchtlinge. Menschen aus Afghanistan, Irak oder Iran erhalten keine Chance, von der Türkei aus in die EU umgesiedelt zu werden. Daher bestehen große Zweifel an der Vereinbarkeit des Abkommens mit der internationalen Schutzverantwortung beziehungsweise dem Völkerrecht. Das Abkommen dient als Blaupause für weitere von der EU geplante Pakte: mit dem gescheiterten Staat Libyen, Niger, Eritrea, Mali oder sogar Sudan.

Die zunehmende Verlagerung von Grenzschutz und Flüchtlingsabwehr in EU-Anrainerstaaten hat fatale Folgen: In den Transitländern, zum Beispiel in den Staaten Nordafrikas, fehlt es an rechtsstaatlichen Mindeststandards. Vor Misshandlungen und Willkür durch die dortigen Polizei- und Sicherheitsbehörden sind Schutzsuchende bereits jetzt nicht sicher. Die EU kann ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen nicht gegen umstrittene Finanzhilfen und Einreiseerleichterungen an Staaten ohne Rechtsstaatlichkeit und ohne ausreichende Ressourcen zum vertragskonformen Umgang mit Flüchtlingen delegieren. Für den ausgelagerten Grenzschutz als Druckmittel oder als Belohnung eingesetzte Entwicklungshilfe verfehlt deren Aufgabe und verzerrt ihre Prioritäten.

5. Erstaufnahmestaaten unterstützen

Die Nachbarstaaten Syriens Türkei, Libanon und Jordanien nehmen seit Jahren Millionen Flüchtlinge auf – noch mehr können sie nicht aufnehmen. Und die dort schon angesiedelten Flüchtlinge, die vermutlich noch Jahre bleiben werden, benötigen neben der weiterhin erforderlichen Unterstützung zum Lebensunterhalt auch längerfristige Unterstützung bei der Integration in das wirtschaftliche Leben und die sozialen Dienste. Diese Unterstützung muss auch die Menschen der Aufnahmegesellschaften miteinbeziehen. Die internationale Gebergemeinschaft unterstützt die Erstaufnahmeländer aber nicht ausreichend dabei.

6. Durchreisestaaten unterstützen

Die meisten Flüchtlinge können und wollen nicht in den südeuropäischen, nord- und ostafrikanischen Staaten oder den Balkanländern Aufnahme finden. Sie müssen sie aber passieren und benötigen dabei den ihnen nach internationalen Standards und Völkerrecht zustehenden Schutz und Unterstützung. Dazu sind einige Länder nicht bereit, andere wirtschaftlich nicht in der Lage. Sie müssen solidarisch besonders von den EU-Ländern finanziell unterstützt werden, die selbst nicht von dieser Herausforderung betroffen sind. Diese Hilfe soll (nur) den Ländern zuteil werden, die die humanitären Standards wahren und Würde und Rechte der Flüchtlinge achten.

7. Auch die Interessen der Flüchtlinge bei der Wahl des EU-Ziellandes beachten

Das gegenwärtige Dublin-System ist gescheitert und de facto außer Kraft gesetzt. Es sieht vor, dass das Erstaufnahmeland in der EU für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Anders formuliert: Der EU-Staat, der die illegale Einreise von Asylsuchenden über die Außengrenze nicht verhindert hat, muss die Flüchtlinge registrieren und ist für sie verantwortlich. Dies wird jedoch de facto weder von den EU-Staaten an der Außengrenze, insbesondere Griechenland und Italien, noch von den Flüchtlingen akzeptiert. Jedes Verteilungskonzept, das die Interessen der Flüchtlinge, in einem bestimmten EU-Land Asyl zu beantragen, gänzlich außer Acht lässt, läuft in einem Raum freier Binnengrenzen Gefahr zu scheitern. Zur Wahl des Asyllands ist jeder Schutzsuchende zu beraten und zu befragen, damit zum Beispiel familiäre Bindungen, kulturelle Nähe und Sprachkenntnisse im Rahmen der Möglichkeiten berücksichtigt werden können. Das Relocationprogramm der EU, 160.000 Flüchtlinge nach ihrer Ankunft auf Mitgliedstaaten nach einer gerechten Quote zu verteilen, ist ein sehr guter erster Schritt zur gerechten Verteilung der Verantwortung innerhalb der EU, könnte aber irreguläre Binnenwanderung zur Folge haben, wenn die Interessen der Asylsuchenden gar nicht mit berücksichtigt werden.

Nach zwei Jahren ist die Bilanz mehr als ernüchternd. Die EU-Mitgliedsstaaten haben nur 26,3 Prozent der vorgeschriebenen Ziele des Relocation-Programms erfüllt. Polen, Ungarn und Tschechien verweigern eine Beteiligung ganz, doch abgesehen von Malta, Irland und Finnland, haben alle EU-Mitgliedstaaten weniger Menschen aufgenommen als vereinbart.

8. Flucht- und Konfliktursachen entgegenwirken

Viele Flucht- und Konfliktursachen sind unter anderem auch die Folge politischer Entscheidungen in Deutschland und der Europäischen Union. Unsere unfaire und rücksichtlose Rohstoff-, Rüstungs-, Klima- und Handelspolitik geht nicht selten auf die Kosten von Menschen und Umwelt in anderen Teilen der Welt . „Fluchtursachen bekämpfen“ bedeutet daher auch die notwendige Neuausrichtung deutscher und europäischer Außenwirtschaftspolitik und Außenpolitik und zum Beispiel einen Vorrang der Friedenspolitik und der Möglichkeiten ziviler Konfliktbearbeitung sowie eine wesentlich aktivere Menschenrechtspolitik. Nur so werden langfristig Unrecht und Gewalt auch als Fluchtursache abnehmen.

Material zum Mitnehmen

Standpunkt: Europa in der Aufnahmekrise

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