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Menschenrechte adé? EU Verantwortung in Tunesien

Seit einigen Jahren verfolgt Europa einen Kurs der Migrationsabwehr. Menschen auf der Flucht sollen ihren Fuß gar nicht erst auf europäisches Festland setzen. Die Umsetzung dieses Kurses geht nicht nur mit hohen finanziellen Ausgaben einher, sondern lässt auch fragen, wie viel Gewalt und Verrat an demokratischen Werten wir als europäische Gemeinschaft akzeptieren wollen.

Von Marie Sophie Nerreter am
Das Bild zeigt einen Zaun in der Wüste, dem Ort, an dem viele Migrant*innen von tunesischen Sicherheitskräften ausgesetzt werden.

Der Blick in die Wüste: Viele Migrant*innen werden dort willkürlich von tunesischen Sicherheitskräften ausgesetzt, ohne Wasser, ohne Essen, ohne medizinische Versorgung.

„Menschen verlassen Tunesien, weil mit dem Verlust an Rechtsstaatlichkeit alle Hoffnung schwindet – jene Hoffnung, die nach dem arabischen Frühling trotz sozial-wirtschaftlich schwieriger Umstände herrschte“, erklärte Romdhane Ben Amor im Juli auf dem Podium der Brot für die Welt-Veranstaltung zum zweijährigen Bestehen des EU-Tunesien-Abkommens. Romdhane Ben Amor ist Sprecher vom Tunesischen Forum für Wirtschaftliche und Soziale Rechte (FTDES) und setzt sich für die Rechte von Migranten*innen und Geflüchteten in Tunesien ein.

EU-Tunesien-Abkommen mit Schwerpunkt auf Migrationsabwehr

Vor zwei Jahren, am 16. Juli 2023, hat die europäische Kommission das EU-Tunesien-Abkommen mit der tunesischen Regierung unterzeichnet. Es umfasst fünf strategische Ziele (makroökonomische Stabilität, Handel und Investitionen, grüne Energiewende, gesellschaftlicher Austausch und Migration), welche in einer „umfassenden Kooperation“ erreicht werden sollen. Doch nach zwei Jahren zeigen erste Bilanzen, dass „umfassende Kooperation“ in allen fünf Bereichen keineswegs erzielt wurde, wohl aber intensivierte Kooperation zur Begrenzung irregulärer Migration nach Europa. So wurden tunesische Grenzbehörden ausgebildet und unter anderem mit Schnellbooten und Radargeräten ausgestattet, Rückkehrprogramme der Internationalen Organisation für Migration (IOM) gefördert und die vereinbarten Mittel im Bereich Migration bereits vollständig überwiesen – anders als bei den anderen Schwerpunktthemen. Nicht zufällig nennt man das Abkommen mittlerweile nur noch „Migrationsabkommen“.

Präsident Saïeds rassistischer und demokratiefeindlicher Kurs

Die Unterzeichnung des Abkommens wurde schon 2023 stark kritisiert, da sich im Hinblick auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie besorgniserregende Entwicklungen in Tunesien abzeichneten, welche sich in den letzten zwei Jahren weiter verstärkt haben.

Präsident Kaïs Saïed – seit Oktober 2019 im Amt – begann die autoritäre Umgestaltung des politischen Systems mit Machtkonzentration im eigenen Amt im Juli 2021. Neben der Verabschiedung einer neuen Verfassung und Auflösung demokratischer Kontrollinstanzen verzeichnen Menschenrechtsorganisationen vermehrt Inhaftierungen von Oppositionellen, Journalist*innen, Aktivist*innen und Rechtsanwält*innen.

Am 21. Februar 2023 hielt der Präsident eine rassistische Rede, in welcher er Migrant*innen aus Subsahara-Afrika als „Kriminelle“ bezeichnete, welche nicht zur arabischen Kultur gehörten und in einer Verschwörung das Ziel verfolgten, die Zusammensetzung der tunesischen Bevölkerung zu verändern. Er forderte Sicherheitskräfte auf, schwarze Afrikaner*innen des Landes zu verweisen. Die darauffolgende Welle der Gewalt traf Asylbewerber*innen, Arbeitsmigrant*innen und schwarze Tunesier*innen gleichermaßen: Seitdem erleben diese verweigerte Dienstleistungen, Kündigung von Jobs und Mietwohnungen, Belästigungen und Angriffe auf offener Straße. Hinzu kommt, dass die tunesische Regierung dem UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) – bis Juni 2024 die einzige Stelle zur Bearbeitung von Asylanträgen – diese Arbeit inzwischen untersagt. Parallel dazu stieg die Willkür und Gewalt gegen Migrant*innen. Menschenrechtsorganisationen dokumentieren seit einiger Zeit, wie die tunesische Nationalgarde Migrant*innen systematisch in den Wüsten Libyens und Algeriens aussetzt oder an Milizen und Menschenhandelsnetzwerke in Libyen verkauft. Zuletzt wurden auch provisorische Flüchtlingslager mit Bulldozern zerstört.

Solidarität in der tunesischen Zivilgesellschaft gibt es, doch wird diese in großen Teilen kriminalisiert. Viele Mitarbeitende von Organisationen, die Migrant*innen grundlegende Unterstützung wie Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung oder Rechtsberatung angeboten haben, sitzen seit Monaten ohne Anklage im Gefängnis, erklärt uns Romdhane Ben Amor. Darunter befinden sich auch zwei Mitglieder des tunesischen Flüchtlingsrates, dem ehemaligen Haupt-Implementierungspartner von UNHCR vor Ort.

Migrationsabkommen auf Kosten von Migrant*innen und tunesischer Zivilgesellschaft

Das EU-Tunesien-Abkommen steht exemplarisch für die Herausforderungen und Risiken, die entstehen, wenn Migrationsabwehr zur obersten Priorität wird und demokratische und menschenrechtliche Werte in den Hintergrund geraten.

Tunesien war lange ein Zielland für Migrant*innen aus Subsahara-Afrika – viele kamen visumsfrei zum Studium oder zur Arbeit im informellen Sektor. Nach Saïeds rassistischer Hetzkampagne verschlechterte sich ihre Lage so sehr, dass sich viele gezwungen sahen, das Land zu verlassen; für einige blieb als Ausweg nur die Flucht nach Europa. Diese Entwicklungen im Land stehen in deutlichem Widerspruch zu den Zielsetzungen europäischer Politik. Unbestritten ist die EU nicht direkter Verursacher von Autokratisierung und Rassismus im Land, sie duldet jedoch den Rechtsstaatsabbau und legitimiert ihn so indirekt – umso mehr, wenn Tunesien als „sicherer Drittstaat“ eingestuft werden soll. Schwerste Menschenrechtsverletzungen sind inzwischen gut dokumentiert – teils sogar von Strukturen, die mit europäischen Mitteln ausgebildet und ausgestattet wurden. Es fehlt an Transparenz und Sanktionsmechanismen; längst überfällig ist eine Definition von Kriterien, wann eine EU-Förderung infolge von Menschenrechtverletzungen ausgesetzt werden muss. Ohnehin sind diese Verstöße keine tunesische Ausnahme, sondern dokumentierte Praxis in vielen Nachbarstaaten. Gerade das spricht dagegen, das Modell in Form von weiteren Abkommen auszuweiten.

 

Konkret fordert Brot für die Welt:

  1. In der derzeitigen Situation darf Tunesien weder von der deutschen Bundesregierung als sicheres Herkunftsland noch von der EU als sicherer Drittstaat eingestuft werden.
  2. Die Kooperation mit der tunesischen Nationalgarde muss beendet werden, solange die massiven Menschenrechtsverletzungen anhalten.
  3. Die Auszahlung von Finanzmitteln muss an die Bedingung geknüpft werden, Menschenrechte einzuhalten und die Unabhängigkeit der Justiz wieder herzustellen. 
  4. Migrationspartnerschaften sollten verbindliche Elemente enthalten, die gewährleisten, dass zivilgesellschaftliche Organisationen frei, unabhängig und ohne Einschüchterung agieren können.

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Kleinbäuerin Claudine Hashazinyange mit Avocados vom Baum ihres Schwiegervaters. Schülerinnen in Äthiopien

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