Kommentar

Lehren aus Afghanistan für die deutsche Politik

Deutsche Regierungen haben sich verpflichtet, international zur Krisenprävention, Friedensförderung und Stärkung von Menschenrechten beizutragen. Wird man ihnen nach dem Versagen in Afghanistan noch glauben? Sind die politischen Parteien bereit, diese Tragödie aufzuarbeiten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen? Diese Fragen sollte man bei den Bundestagswahlen am 26.9. in den Blick nehmen.

Von Dr. Martina Fischer am
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Leave no one behind – Grafitto im Regierungsviertel, Berlin

Mit den aktuellen Bildern verzweifelter Menschen auf dem Kabuler Flughafen verbindet sich mehr, als nur eine weitere menschliche Tragödie im Kontext des „Kriegs gegen den Terror“. Sie markieren eine historische Zäsur, ähnlich wie der Abzug der USA aus Vietnam, der 1973 begann und mit der Eroberung Saigons durch den Vietcong 1975 endete - da gibt es ganz erstaunliche Parallelen. Und diese Bilder gehen mit einem schwerwiegenden Glaubwürdigkeitsverlust einher. Die Botschaft, die man im globalen Süden daraus ableiten wird, lautet, dass man sich besser nicht mit westlichen Institutionen einlassen sollte, die ankündigen, Demokratie, Menschenrechte und Geschlechtergleichheit in entfernte Weltregionen zu bringen, weil man am Ende schutzlos zurückgelassen wird.

Glaubwürdigkeitsverlust deutscher und westlicher Politik

Viele Fragen stehen im Raum: Warum wurde die Ausreise von Ortskräften und gefährdeten Vertragspartnern nicht parallel zum Abzug der Bundeswehr organisiert? Wieso hat die Bundesregierung, obwohl sie über die Verschlechterung der Sicherheitslage informiert wurde, bis Mitte August nur für einen Bruchteil der Schutzbedürftigen Visa erteilt? (Siehe dazu die Übersicht des Patenschaftsnetzwerks Afghanistan) Und wie kommt sie dazu, die Zahl des gefährdeten afghanischen Personals herunterzurechnen und auf ein Minimum zu beschränken (Ortskräfte der Bundeswehr seit 2013, Vertragspartner des Auswärtigen Amts und der Entwicklungszusammenarbeit nur aus den letzten zwei Jahren, und von NGO-Partnern war zunächst gar nicht die Rede)? Diese Vorgaben sind kleinlich und völlig unverhältnismäßig, wenn man bedenkt, dass allein für den Einsatz der Bundeswehr von Deutschland insgesamt mehr als 12,5 Mrd Euro mobilisiert wurden. Diese Begrenzungen sind selektiv und zynisch, denn schließlich sind alle, die in den letzten zwanzig Jahren mit ausländischen Organisationen kooperierten, an Leib und Leben bedroht. Den Menschen wurde Sicherheit versprochen - man hat sie im Stich gelassen und ausgeliefert. Es ist völlig unklar, was mit denen geschieht, die auf den Listen der Taliban stehen und die letzten internationalen Bundeswehrmaschinen nicht mehr erreichten.

Angst vor Migrationsdebatte überwinden

Der entstandene Schaden, der massive Verlust an Vertrauen in deutsche und westliche Politik, kann kurzfristig nicht wieder gut gemacht werden. Er lässt sich allenfalls etwas begrenzen, wenn die politisch Verantwortlichen die Angst vor einer neuen Migrationsdebatte überwinden und entscheiden, neben den sogenannten Ortskräften in Zukunft auch noch weitere bedrohte Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Die Bundesregierung könnte dafür eine Initiative ergreifen, selbst mit gutem Beispiel vorangehen, und sich mit EU-Ländern abstimmen, die dafür offen sind. Auch mit den an Afghanistan angrenzenden Staaten müsste dafür intensiv verhandelt werden. Zwischen 1979 und 2004 fanden 1,4 Millionen Flüchtlinge aus Vietnam weltweit eine neue Bleibe. Politisches Handeln könnte sich an diesem Beispiel orientieren. Die Frage, wie mit Menschen umgegangen wird, die vor Gewaltherrschaft und Krieg flüchten, sollte auch ein zentrales Kriterium für die Wahlentscheidung am 26. September sein.

Es bedarf umfassender politischer Aufarbeitung

Deutsche Außenpolitik kann jetzt nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Es bedarf einer umfassenden politischen Aufarbeitung der aktuellen Katastrophe. Es ist zu klären, welche Ressorts für die Versäumnisse bei der Evakuierung von Schutzbedürftigen Verantwortung tragen. Darüber hinaus aber sollte man genau beobachten: Sind die im Bundestag vertretenen Parteien bereit, Bilanz zu ziehen und Sinn und Zweck des Engagements in Afghanistan insgesamt eingehender zu betrachten? Welche Lehren ziehen sie daraus? Wie wollen sie sicherstellen, dass sie nicht bei nächster Gelegenheit wieder an der Seite von Verbündeten mit widersprüchlichen Zielen und unklaren Exit-Optionen in den Krieg ziehen? Auch solche Fragen sollten bei der Entscheidung, welchen Kandidat*innen man am 26. September seine Stimme schenkt, eine Rolle spielen. Es ist höchste Zeit für eine wissenschaftlich gestützte Auswertung der ökonomischen und menschlichen Kosten militärischer Interventionen und ihrer Wirkungen auf die betroffenen Gesellschaften. Auch die Annahme, dass die Ausbildung und Ausrüstung von Armeen zu mehr Stabilität und Sicherheit in fragilen Ländern führe, gehört auf den Prüfstand. Das nächste Drama zeichnet sich möglicherweise im Sahel ab - es wäre klug, verstärkt über Alternativen im Umgang mit gewaltsamen Extremisten nachzudenken.

Friedenspolitische Forderungen und Wahlprüfsteine

Brot für die Welt engagiert sich intensiv in NGO-Netzwerken, die sich für eine zivile Außenpolitik einsetzen. Unsere friedenspolitischen Forderungen zu den Bundestagswahlen 2021 finden sich im Positionspapier der Plattform zivile Konfliktbearbeitung und in den Wahlprüfsteinen, die wir mit ökumenischen Initiativen erarbeitet haben, sowie in unserem "Standpunkt". Die Essenz unserer Forderungen lässt sich so umreißen:

  • Deutsche Politik muss sich konsequent an das Völkerrecht halten und die Institutionen stärken, die für die internationale Friedenssicherung mandatiert sind (Vereinte Nationen und Regionalorganisationen, wie z.B. OSZE, AU oder ASEAN), und auch die EU- und NATO-Partner dafür gewinnen.
  • Die Verteidigungsausgaben auf 2 Prozent der Wirtschaftsleistung zu vervielfachen, wie es relevante Teile der jetzigen Bundesregierung anstreben, wäre friedenspolitisch ein falsches Signal und verantwortungslos angesichts der Kosten, die zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie entstehen. Deutsche Politik sollte dem Primat des Zivilen folgen und der Stärkung von diplomatischen und entwicklungspolitischen Instrumenten Vorrang vor dem Ausbau militärischer Mittel einräumen. Staatliche Instrumente, zum Beispiel das Zentrum für internationale Friedenseinsätze, müssen ausgebaut und Kooperationen mit der Zivilgesellschaft weiterentwickelt werden, etwa mit der Arbeitsgemeinschaft Frieden und Entwicklung und dem Zivilen Friedensdienst. Auch die Fördermöglichkeiten für NGOs in Krisenregionen durch die Agentur ZIVIK sollten ausgebaut und den Bedingungen vor Ort besser angepasst werden.
  • Bundesregierung und Bundestag müssen verhindern, dass durch Rüstungsexporte Gewaltkonflikte angeheizt und Staaten mit verheerender Menschenrechtsbilanz gestärkt werden. Die nächste Bundesregierung muss den Kleinwaffenexport stoppen, hierzulande ein Rüstungsexportkontrollgesetz auf den Weg bringen und sich auch auf EU-Ebene für gesetzliche Vorgaben einsetzen, die den Waffentransfer in Krisengebiete unterbinden. Bewaffnete Akteure in Krisengebieten mit Ausbildung und Ausrüstung zu „ertüchtigen“, ohne dass ausreichende politische Kontrolle vorhanden ist, bringt große Gefahren mit sich, erst recht, wenn das mit Waffentransfer verbunden ist, wie es die EU und Deutschland im Rahmen der sogenannten „EU Peace Facility“ forcieren. Die „Freunde“ von heute können rasch zu den „Feinden“ von morgen werden.
  • Statt Sicherheit vorwiegend militärisch zu definieren und sich auf die Unterstützung von Streitkräften zu konzentrieren, sollte sich deutsche Sicherheitspolitik am UN-Konzept der „menschlichen Sicherheit“ orientieren, also der Situation der Menschen in Konfliktsituationen.
  • Um die Wissensgrundlagen zu fragilen Regionen, Krisenprävention und Friedensaufbau zu verbessern, muss die Friedens- und Konfliktforschung gefördert und die Bundesstiftung für Friedensforschung (DSF) besser ausgestattet werden. Wirkung und Kosten von militärischen Auslandseinsätzen müssen ebenso wie zivile Maßnahmen fortlaufend und regelmäßig evaluiert werden.

 

Ausblick: Aus Scheitern lernen (?)

Für die Beratung bei der Umsetzung ihrer außenpolitischen „Leitlinien“ (2017) hat die Bundesregierung den zivilgesellschaftlichen „Beirat Zivile Krisenprävention“ eingerichtet. Der plant für Oktober 2021 eine ambitionierte Konferenz mit dem Titel „Aus Scheitern lernen?“ Den Afghanistan-Einsatz und die katastrophale Art, wie er beendet wurde, sollte man dort ganz oben auf die Agenda setzen. So könnten Politik und Zivilgesellschaft mit der Aufarbeitung beginnen und gemeinsam darüber nachdenken, wie mit dem nun entstandenen massiven Vertrauensverlust umzugehen ist - denn der wird nicht nur das staatliche, sondern auch das zivilgesellschaftliche Engagement in der Welt zukünftig als Hypothek begleiten.

 

Dieser Text ist ein Beitrag in der Reihe #brotfürdiewahl im Vorfeld der Bundestagswahl 2021. Alle weiteren Beiträge finden Sie hier.

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