Viele Staaten und Regierungen weltweit versuchen, Geflüchteten und Migrant:innen ihrer Rechte zu berauben oder fernzuhalten. Auch die Zivilgesellschaft gerät wegen ihres Engagements zunehmend in Gefahr.
Weltweit lässt sich ein Trend beobachten: Im Kampf gegen die Mobilität von Menschen, gegen unerwünschte Schutzsuchende, Flüchtende, Arbeitsmigrant:innen setzen Regierungen und Behörden verstärkt auf restriktive Maßnahmen. Dieser Kampf wird heute nicht mehr nur an den Grenzen selbst,mit Zäunen, Hunden, Biometrie und Radar geführt ‒ wofür die EU viel Geld bezahlt. Im Visier und unter Druck stehen zunehmend auch jene, die den Menschen auf ihrem Weg beistehen: privat Helfende und Unterstützer:innen, Solidaritätsgruppen, Anwält:innen, NGOs ‒ und andere Migrant:innen und Flüchtende.
Sehr deutlich zeigte sich diese Entwicklung etwa schon früh in Ungarn. Der Wille des Volkes sei klar, behauptete 2018 der autokratische Ministerpräsident Viktor Orbán: Es wolle keine Migration. Orbán brachte ein Gesetzespaket auf den Weg, um jene zu bekämpfen, die die „illegale Einwanderung organisieren“ ‒ das warf Orbán NGOs vor. Er veränderte das Straf-, Polizei- und Asylrecht. Schon das Verteilen von Informationsmaterial sollte als „Förderung illegaler Immigration“ mit Gefängnis bestraft werden können. Für Spenden aus dem Ausland wurde eine Strafsteuer fällig, Helfer:innen durften die „Transitzone“ entlang der Grenze nicht mehr betreten. Wer humanitäre Hilfe leistete und zu Rechtsfragen beriet, musste sich das genehmigen lassen.
Und weil viele der NGOs Spenden des aus Ungarn stammenden Milliardärs George Soros über dessen Open Society Foundation erhielten, hieß das Gesetz in Ungarn „Stop Soros“-Paket. 2021 kippte der Europäische Gerichtshof es zwar. Doch Ungarns Regierung erklärte noch am Tag der Urteilsverkündung, ihre Haltung zu Migration bleibe unverändert. „Solange es in Ungarn eine nationale Regierung gibt, wird sie verhindern, dass Ungarn ein Einwanderungsland wird.“ Diese Politik verfolgt sie bis heute.
Elemente des ungarischen Vorgehens finden sich heute weltweit in vielen anderen Ländern. Während Regierungen in der EU, aber auch in Nord- und Zentralamerika, im Maghreb und Sahel, in Osteuropa und Westasien Migrant:innen- und Flüchtlingsrechte selbst immer offener missachten, gehen sie gegen jene vor, die damit nicht einverstanden sind. Flüchtlinge und Migrant:innen sind zwar formal weltweit geschützt, was zuletzt noch einmal durch den 2018 beschlossenen UN Global Compact on Migration und UN Compact on Refugees bekräftigt wurde.
Beide Pakte wurden immerhin von 152 bzw.181 Staaten ratifiziert. Doch staatliche und kriminelle private Akteure missachten die darin festgeschriebenen Normen fortwährend. Immer wieder werden Flüchtende und Migrant:innen interniert, gefangen genommen, misshandelt oder ausgebeutet. Und immer öfter auch die, die sich für sie engagieren: migrant defenders.
Dieses Vorgehen steht in engem Zusammenhang mit globalen Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen. Migration ist auch Ausdruck globaler Ungleichheit ‒ Menschen versuchen, am Wohlstand teilzuhaben, der ihnen vorenthalten wird, und in Sicherheit zu leben. Und der Globale Norden versucht, eben dies zu verhindern ‒ obwohl er immer stärker auf Zuwanderung angewiesen ist.
Zugleich sind Arbeits- und Bildungsmigration Treiber sozialer und ökonomischer Entwicklung in den Herkunftsländern. Und es braucht in Zeiten von Kriegen, Diktaturen und Klimawandel sichere Fluchtwege und Migrationskorridore.
Dem steht vielerorts ein machtvolles Grenzregime entgegen, das Mobilität nur selektiv zuzulassen bereit ist ‒ sei es in der Pazifik-Region Richtung Australien, in Zentralamerika Richtung USA oder aus Afrika und dem Nahen Osten Richtung Europa. Der wachsende Einfluss autoritärer und extrem rechter Akteure hat die teils militärische Abriegelung der Zielländer vor Migrant:innen und Flüchtlingen in den vergangenen Jahren noch verschärft. Die rassistische Behauptung, die Nation gegen äußere, angeblich kulturfremde Eindringlinge verteidigen zu müssen, ist einer der programmatischen Kerne der populistischen Agenda. Sie hat zu einer Dynamik immer offensiveren Vorgehens gegen Migrant:innen beigetragen, an der sich aus Angst vor den Populisten auch Parteien der Mitte beteiligen.
Es sind oft Aktive aus der Zivilgesellschaft ‒ darunter NGOs, Kirchen, Medien ‒, die solche Missstände dokumentieren, auf Rechtsverstöße aufmerksam machen, Rechenschaft einfordern. Sie halten dagegen ‒ mit politischer Lobbyarbeit, strategischer Prozessführung, mit Recherchen und Kampagnen, mit physischen und digitalen Schutzmaßnahmen, vor allem aber mit praktischer, unmittelbarer Solidarität. Sie sind das „stille Rückgrat der internationalen Flüchtlingshilfe“, wie die Amnesty-Generalsekretärin Agnes Callamard es nannte.
Doch diese Aktiven werden seit Jahren ‒ und zunehmend ‒ unter Druck gesetzt. Migrant defenders stehen im Zentrum einer globalen politischen Auseinandersetzung um menschliche Bewegungsfreiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit. Sie sind heute weltweit das Ziel politischer Angriffe und Diffamierungen ‒ auch deshalb, weil sie bisweilen als Sündenböcke leichter zu attackieren sind als Flüchtlinge selbst.
Die Angriffe erschweren das Engagement, schrecken viele potentiell Engagierte ab, zermürben bisweilen psychisch und zerstören wirtschaftliche Existenzen. Sie bringen ganz neue Erfordernisse für den Schutz der eigenen Arbeit, der Kommunikation und der Mitarbeitenden mit sich und absorbieren knappe Ressourcen für die Arbeit. Teils müssen NGOs schließen oder ihre Arbeit stark einschränken ‒ worunter jene leiden, die auf ihre Hilfe angewiesen sind. Zu beobachten ist all dies nicht nur in autokratischen Staaten, deren Regime ihre Macht mit Menschenrechtsbrüchen zu erhalten versuchen, sondern teils auch in Demokratien. Denn auch diese wollen keine Zeug:innen, wenn sie Flüchtlinge entrechten.
Die Repression gegen Flüchtlingshelfer:innen ist bisher kaum systematisch erfasst. Anklagen, Verhaftungen, Ermittlungsverfahren oder der Entzug von Akkreditierungen werden nirgendwo zentral dokumentiert. In mühsamer Kleinarbeit versuchen einzelne NGOs ein Bild dieser Vorgänge zu zeichnen, das aber nie mehr als ein Schlaglicht ist. Hinzu kommt, dass sich viele aus Angst vor Repressalien scheuen, Angriffe öffentlich zu machen. Die UN sprechen deshalb von „Secret Defenders“.
Brot für die Welt sieht diese Angriffe auf zivilgesellschaftliche Akteur:innen mit Sorge. Auch deswegen ist dieser Atlas der Zivilgesellschaft wichtig ‒ er fasst dieses kaum recherchierte Thema zusammen. Die Einhaltung der Menschenrechte auch auf Fluchtwegen und Migrationsrouten ist ein völkerrechtliches Gebot. Deshalb braucht es das zivilgesellschaftliche Engagement vor allem dort, wo sonst niemand hinschaut. Viele unserer zivilgesellschaftlichen Partner befürchten heute, Migrant:innen und Flüchtende nicht mehr unterstützen und auch nicht mehr auf Missstände aufmerksam machen zu können, weil ihnen sonst Strafen drohen.
Hilfe in der Not ‒ oder Schleusen mit Gewinnabsicht? Wo bei der Unterstützung von Geflüchteten und Migrant:innen das Kriminelle anfängt, darüber hat jede Leserin und jeder Leser dieses Atlas der Zivilgesellschaft eine eigene Meinung. Und Sie?
Die Zivilgesellschaft füllt häufig ein Vakuum, das staatliche Akteure absichtsvoll schaffen. Eben diese Solidarität wird heute mit teils ähnlichem Nachdruck zu erschweren versucht wie die Migration selbst. Ein Weg dazu ist die Verweigerung physischer Zugänge. In der Regel gilt dabei: Je stärker die Entrechtung, desto größer ist die Neigung, Zeug:innen fernzuhalten. Libyen, das in Kooperation mit der EU Zehntausende Flüchtlinge auf dem Weg über das Mittelmeer einfängt und in grauenhafte Lager zurückschleppt, lässt Helfer:innen und Medien praktisch überhaupt nicht ins Land. Polen etwa sperrte eine „Rote Zone“ an der Grenze zu Belarus ab, als die Flüchtlingszahlen stiegen. Wer hier durchkam, kam in eines der Internierungslager im Land. Dort haben ‒ ebenso wie in Griechenland, Frankreich oder auch den bayrischen Ankerzentren ‒ nur akkreditierte NGOs Zugang.
Unterstützer:innen aber werden nicht nur ausgesperrt, sondern auch mit Strafen bedroht und belegt. Berühmt wurde etwa der Fall des US-Amerikaners Scott Warren, Mitglied der christlichen Gruppe No More Deaths. In der Sonora-Wüste von Arizona hatte Warren für überlebende Latinos Wasserdepots angelegt. Wegen angeblichen Einschleusens von Ausländern klagte die Staatsanwaltschaft ihn an. Warren drohten 20 Jahre Haft, allerdings wurde er 2019 freigesprochen. Doch die oft jahrelangen Verfahren verschlingen viel Zeit und Ressourcen, selbst wenn am Ende ein Freispruch steht. Sie greifen oft so tief in das Leben und auch die Arbeit der Angeklagten ein, dass sie einer Strafe gleichkommen. Hinzu kommt, dass die
Strafmaße für Beihilfe zur illegalen Einreise seit 2010 in vielen Ländern erheblich angehoben wurden. Man kommt heute etwa in Griechenland vor Gericht teils besser davon, wenn man des Bankraubs überführt wird, als wenn man als Flüchtling ein Boot durch die Ägäis gesteuert hat.
Etwa 40 Schiffe haben private NGOs seit 2014 zur Seenotrettung ins Mittelmeer entsandt ‒ eine Mobilisierungsleistung der Zivilgesellschaft. Ohne sie wären wohl weit mehr als die seither rund 26.000 Menschen ertrunken. Doch Versuche der Behörden, die „zivile Flotte“ zu blockieren, sind so alt, wie sie selbst: Nach Rettungseinsätzen wird ihnen oft wochenlang die Einfahrt in einen Hafen verweigert. Sie werden unter fadenscheinigen Begründungen ‒ meist wegen angeblicher technischer Mängel ‒ festgesetzt, so wie die Sea Watch 3. Schiffe werden beschlagnahmt, Crews in Gewahrsam genommen oder mit Gerichtsverfahren überzogen.
Einer Recherche von Brot für die Welt zufolge waren die seit 2016 von NGOs ins Mittelmeer geschickten Rettungsschiffe 1.116 Wochen blockiert ‒ 32 Prozent der möglichen Einsatzwochen auf See. In der übrigen Zeit wurden sie blockiert. Die Blockade der Seenotrettung ist heute eine der öffentlich sichtbarsten Strategien, zivilgesellschaftliches Engagement zu erschweren, um die Migration selbst einzudämmen.
Die Repression untergräbt zugleich die Bereitschaft Dritter, zu helfen. Fischerboote oder kommerzielle Schiffe sind die ersten, die bei Unglücken schnell vor Ort sein können ‒ und sie sind dazu durch das Seerecht sogar verpflichtet. Weil die Folgen einer Hilfeleistung aber immer unkalkulierbarer werden, halten sich viele fern. Das dänische Containerschiff Maersk Etienne etwa nahm im August 2020 im zentralen Mittelmeer 27 Schiffbrüchige an Bord. Doch sowohl Malta als auch Italien weigerten sich, die Menschen aufzunehmen. Erst nach fünf Wochen konnten sie in Malta an Land gehen. Für die Reederei bedeutete dies wirtschaftliche Verluste in enormer Höhe. Solche Fälle häufen sich. Und so berichtet die Initiative Alarm Phone heute immer wieder von Fällen, in denen Schiffbrüchige auf dem Mittelmeer treibend auf Rettung warten oder sterben ‒ und Handelsschiffe vorbeifahren, ohne anzuhalten, obwohl sie über das Unglück informiert sind.
In Deutschland geht die Justiz gegen Geistliche vor, deren Gemeinden Kirchenasyl gewähren. Sehen Sie hierzu Ausschnitte aus dem Streitgespräch zwischen Stephanie Höhner, Pfarrerin der Himmelsfahrtgemeinde in München, und Thomas de Maizière, früherer Bundesinnenminister zum Thema: „Rettet oder gefährdet Kirchenasyl die Demokratie?“
Die Ton-Aufzeichnung des gesamten Gesprächs finden Sie hier zum Anhören oder hier zum Download.
Auch das sogenannte Geordnete-Rückkehr-Gesetz aus der Feder des Ex-Innenministers Horst Seehofer (CSU) kriminalisiert Abschiebegegner:innen: Seit 2019 gelten alle Informationen zum Ablauf einer Abschiebung als Dienstgeheimnis im strafrechtlichen Sinne. Proteste sollen so erschwert werden.
Auch gewählte Politiker:innen in der EU kann es treffen. In Italien etwa verurteilte ein Gericht Mimmo Lucano, den Bürgermeister der kalabrischen Kleinstadt Riace, Ende 2021 zu 13 Jahren Haft. Lucano hatte in seiner Gemeinde 450 afrikanische Migrant:innen aufgenommen. Mit staatlichen Fördergeldern hatte er kleine Unternehmen aufgebaut, in denen sie Arbeit finden sollten. Das Projekt wurde international gelobt, der Staat aber sah Lucanos Wirken kritisch. Am Ende musste Lucano sich schwerster Anschuldigungen wegen angeblicher Betrügereien erwehren. Ein Berufungsverfahren war im Frühjahr 2023 anhängig. Neue Straftatbestände werden geschaffen, bereits existierende missbräuchlich angewendet oder Menschen mit unverhältnismäßig drastischen Anklagen konfrontiert. Diese reichen bis zu Vorwürfen wegen angeblichem Terrorismus oder Organisierter Kriminalität.
Erfahren hat dies etwa die belgische Journalistin Anouk Van Gestel, einst Chefredakteurin der Frauenzeitschrift Marie Claire. Sie hatte 2017 einen jungen Sudanesen in ihrer Brüsseler Wohnung aufgenommen. Gestel fragte am Telefon einen Schlepper, ob er ihn nach England bringen könnte. Die Polizei schnitt das Gespräch mit und van Gestel wurde ‒ allein aufgrund des Anrufs ‒ wegen der Mitgliedschaft in einer „internationalen kriminellen Organisation“ angeklagt und erst 2021 freigesprochen.
Doch migrant defenders protestieren nicht nur gegen die Entrechtung von Flüchtenden ‒ sondern auch gegen die auf sie selbst zielende Repression. Dabei können sie vielerorts auf breite gesellschaftliche Unterstützung setzen. Beispiele aus aller Welt gibt es zuhauf, hier nur zwei davon: Obwohl seit der Cap Anamur 2004 ‒ einem der ersten privaten Rettungsboote ‒ Dutzende private Rettungsschiffe beschlagnahmt oder lahmgelegt wurden, wuchsen die Spenden für die Seenotrettung. Heute sind mehr private Rettungsschiffe im Mittelmeer unterwegs als damals.
Und dass Zivilgesellschaft und Regierungen kooperieren können, zeigt die enorme Unterstützung der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine, etwa in Polen und Mitteleuropa. Hinzu kommt, dass die globale Solidarität im Migrationsbereich heute vernetzter ist und über mehr Ressourcen verfügt denn je. Das zeigt schon allein der Umstand, wie viel über Menschenrechtsverletzungen bekannt wird. Darauf lässt sich bauen.
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