Blog

Völkerrecht im Naher Osten – das IGH Gutachten

Am 9. Juli 2004, hat der Internationale Gerichtshofs (IGH), ein Gutachten zu den rechtlichen Konsequenzen des Baus einer Sperranlage durch Israel auf besetztem palästinensischem Gebiet veröffentlicht. Eine Konferenz analysiert die Situation 10 Jahre nach dem IGH-Mauergutachten.

Von Bernhard Schäfer am
Bernhard SchäferGemeinsame Initiative humanitäres Völkerrecht Nahostmehr zur Person

Der neuaufflammenden Gewalt im Nahen Osten begegnet der Ökumenische Rat der Kirchen mit einem dramatischen Appell. Es ist nicht der erste dieser Art. Die Bilder wiederholen sich. Die Gewalt im Nahen Osten erreicht erneut einen erschreckenden Höhepunkt. Nicht erst seit der Jahrhundertwende erlebten wir wiederholt tödliche Auseinandersetzungen wie die Zweite Intifada, die Ende September 2000 begann, den zweiten Libanonkrieg im Jahr 2006, den Gazakrieg Weihnachten 2008, den Gazakrieg im November 2012 und nun, keine zwei Jahre später, erleben wir erneut eine militärische Eskalation um den Gazastreifen. Der schreckliche Tod der drei israelischen Jugendlichen und der grausame Tod des palästinensischen Jungen waren für die erneute Eskalation der Gewalt nur der Funke, der die Lunte am Pulverfass zum brennen brachte. Eine Lunte die seit Jahrzehnten einsatzbereit gehalten wird:

  • durch politisch, nationalistisch oder religiös motivierte Fanatiker;
  • durch eine – wenn auch unterschiedlich ausgeprägte – militärische Aufrüstung;
  • durch den Irrglauben, dass mit Separation und Gewalt Sicherheit und ein dauerhafter Friede geschaffen werden könnten;
  • durch die permanente Verletzung von Menschenrechten und Völkerrecht.

Keiner löscht

Doch auch von außen kommt keiner, um die Lunte zu löschen. Zwar gibt es zahlreiche Resolutionen bindenden oder empfehlenden Charakters der Vereinten Nationen, aber keiner setzt die Einhaltung durch. Zwar gibt es an beide Seiten gerichtete unzählige konstruktive oder mahnende Worte anderer Staaten, aber der regelmäßigen Nichtbeachtung dieser Worte wird mit wiederkehrender Inkonsequenz begegnet.

10 Jahre Gutachten zur Sperranlage

Vor 10 Jahren, am 9. Juli, hat der Internationale Gerichtshofs (IGH), das Hauptrechtsprechungsorgan der Vereinten Nationen, ein Gutachten zu den rechtlichen Konsequenzen des Baus einer Sperranlage durch Israel auf besetztem palästinensischem Gebiet veröffentlicht. Aus diesem Anlass haben die beiden kirchlichen Entwicklungsorganisationen Brot für die Welt und MISEREOR zusammen mit dem Potsdamer Menschenrechtszentrum eine Konferenz veranstaltet. Auf der Tagung wurde u.a. klargestellt, dass das Gutachten als solches nicht bindend ist, es aber dennoch eine autoritative Interpretation des für Staaten geltenden Rechts ist. In ihrer Resolution ES-10/15 hat die UN-Generalversammlung – einschließlich der Mitgliedstaaten Deutschland und aller weiteren EU-Staaten – von dem Gutachten zwar nur „Kenntnis genommen“, verlangt dann aber, dass „die Besatzungsmacht Israel ihre in dem Gutachten genannten rechtlichen Verpflichtungen erfüllt“, und fordert „alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf, ihre in dem Gutachten genannten rechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen“. Israel kam seiner Verpflichtung bisher nicht nach. Die meisten Drittstaaten kommen zumindest ihrer im Gutachten genannten rechtlichen Verpflichtung zunehmend nach, „die rechtswidrige Situation nicht anzuerkennen, die sich aus dem Bau der Mauer ergibt, und Hilfsmaßnahmen, die zur Aufrechterhaltung der durch den Bau der Mauer geschaffenen Lage beitragen, zu unterlassen“.

Die Sperranlage steht aber immer noch und wird weiter auf besetztem Gebiet ausgebaut – genauso, wie die israelischen Siedlungen, die zu großen Städten und Industriegebieten herangewachsen sind. Deren Errichtung hat jedoch, so der UN-Sicherheitsrat in Resolution 446 (1979) und folgenden, keine Rechtsgültigkeit und, wie der IGH in seinem Gutachten unter Verweis auf Artikel 49 Absatz 6 des IV. Genfer Abkommens von 1949 zum Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten festhält, stellt einen Bruch des Völkerrecht dar. Dies ist auch die Ansicht der Bundesregierung, wie u.a. in einem Hinweis in „Bezug auf Eigentumserwerb oder Investitionen in den Siedlungen“ unter der Rubrik Wirtschaftsbeziehungen zu Israel auf der Internetseite des Auswärtigen Amts zu lesen ist, worauf auch auf der genannten Tagung eingegangen wurde.

Völkerrecht – wer fordert es ein?

Der IGH hat weiter festgestellt, dass alle Parteien des IV. Genfer Abkommens darüber hinaus verpflichtet sind, „unter Achtung der Charta der Vereinten Nationen und des Völkerrechts sicherzustellen, dass Israel das in diesem Abkommen niedergelegte humanitäre Völkerrecht einhält“. Was aber heißt „sicherstellen“ bzw., wie es in Artikel 1 aller vier Genfer Abkommen in der deutschen Übersetzung zu lesen ist, „seine Einhaltung durchsetzen“? Der unbedarfte Laie würde hier ein aktives Tätigwerden erwarten dürfen. Der geschulte Jurist oder die geschulte Juristin weiß indes, dass diese Vorschrift einer unterschiedlichen Interpretation zugänglich ist, so dass für diese Norm Begriffe verwendet werden, die – wie auch auf der Veranstaltung zum Jahrestag zitiert – von „quasi-konstitutioneller Völkerrechtsnorm“ bis hin zu „Seifenblase“ reichen (vgl. Carlo Focarelli, EJIL 2010, Bd. 21 Nr. 1, S. 125). Auch wenn sich dieser Vorschrift u.a. völkerrechtlichen Regeln keine Verpflichtung zum Handeln entnehmen lässt, so eröffnet sie doch eine Legitimation zum Handeln.

Politischer Wille fehlt

Da das Völkerrecht keinen oder keinen ausreichend ausgeprägten zentralen Durchsetzungsmechanismus kennt, ist dessen Einhaltung und Durchsetzung von gegebenen Machtverhältnissen und vor allem vom politischen Willen der Staaten abhängig. Und dieser Wille fehlt oftmals, was insbesondere für den israelisch-palästinensischen Konflikt gilt. Die auf nationaler, europäischer wie internationaler Ebene vorhandenen Mechanismen, mit denen mit mehr Nachdruck auf die Einhaltung des Rechts durch die Konfliktparteien im Nahostkonflikt reagiert werden könnte, werden – anders als etwa beim aktuellen Krim-Konflikt (siehe Verordnung (EU) Nr. 208/2014) – nicht genutzt.

Dass es aufgrund unserer Geschichte, die von dem am jüdischen Volk begangenen Verbrechen der Schoa geprägt ist, besonders in Deutschland nicht leicht ist, den notwendigen politischen Willen aufzubringen, um restriktive Maßnahmen gegen Israel zu ergreifen, ist mehr als verständlich. Es wird aber oft verkannt, dass Deutschland und die restliche Staatengemeinschaft Israel damit langfristig nicht schützt, sondern schadet. Mit der Siedlungspolitik wird keine Sicherheit und kein Friede geschaffen, sondern es werden faktisch weitere Gebiete völkerrechtswidrig annektiert – Gebiete, die nicht zum israelischen Staatsgebiet gehören, sondern, so auch der IGH in seinem Gutachten, militärisch besetzt sind. Um Israel zu schützen, sollte also auch in Deutschland der politische Wille aufgebracht werden, um seinem Freund zu sagen: Genug ist genug.

Auch Palästina ist zu adressieren

Das gilt auch für die palästinensische Seite: Von ihren, auf dem Völkerrecht basierenden Möglichkeiten sollen Deutschland und alle anderen Staaten vor allem auch gegenüber den Palästinensern Gebrauch machen. Palästina – ob nun von allen Staaten als Staat anerkannt oder nicht – hat im Gefüge der Vereinten Nationen und mit der Ratifikation von gerade im Konflikt mit Israel wichtigen völkerrechtlichen Verträgen, namentlich der vier Genfer Abkommen von 1949, mehr (quasi-) staatliche Verantwortung gewollt, bekommen und übernommen. Daran muss sich Palästina messen lassen. Aber auch unabhängig davon sollten die europäischen Staaten alles daran legen, um Palästina bzw. die nun wieder agierenden palästinensischen bewaffneten Gruppen im Gazastreifen zur Einhaltung des humanitären Völkerrechts und darüber hinaus zum Frieden zu bewegen.

Hoffnung und Courage

Shawan Jabarin, Generaldirektor der palästinensischen Menschenrechtsorganisation Al-Haq in Ramallah, Vizepräsident der Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme (FIDH) und Kommissionsmitglied renommierten Organisation International Commission of Jurists, hat auf der Tagung u.a. darauf aufmerksam gemacht, dass auch deutsche Unternehmen wie HeidelbergCement von den völkerrechtswidrigen Maßnahmen profitieren würden, was nicht sein dürfe. Am Rande der Tagung drückte er seine Hoffnung aus, dass sich die Situation in Nahost eines Tages verändern würde. Derzeit sehe er hierfür innerhalb der nächsten zehn bis zwanzig Jahre allerdings keine Perspektive. Er hoffe jedoch, dass Deutschland dazu beitragen werde, den Zeitraum bis zu einer Normalisierung der Verhältnisse zu verkürzen.

Al-Haq ist eine Partnerorganisation von Brot für die Welt, die sich für die Einhaltung der Menschenrechte sowohl gegenüber der palästinensischen Führung als auch gegenüber der Besatzungsmacht einsetzt. Staaten können sich ein Beispiel nehmen an dem couragierten Einsatz der Zivilgesellschaft und der Kirchen in Israel und Palästina sowie in vielen anderen Ländern der Welt, die sich für eine Durchsetzung des Rechts in dem viel zu lange währenden Konflikt mit friedlichen Mitteln aktiv einsetzen und damit ein starkes Zeichen gegen die Fanatiker auf beiden Seiten setzen, die nunmehr wieder die Waffen sprechen lassen.