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Ukraine-Krieg: offene Grenzen – offene Fragen

Der Überfall Putins auf die Ukraine treibt Millionen Menschen in die Flucht. Die EU öffnet für sie ihre Grenzen, die Europäer*innen ihre Herzen. Das ist wichtig und bemerkenswert, löst aber nicht alle Probleme der Flüchtenden. Zudem wirft die jetzige Öffnung grundlegende Fragen zu Europas Umgang mit Notleidenden auf.

Von Dr. Andreas Grünewald am
Menschenmenge an Grenze

Ankunft ukrainischer Flüchtlinge am ukrainisch-polnischen Grenzübergang Medyka.

Eine Million Menschen sind in nur einer Woche, seit Russland Krieg gegen die Ukraine führt, in die EU geflohen. Die Zahlen steigen täglich. Und die EU? Sie reagiert, wie man es in den letzten Jahren nicht gewohnt war, wenn Flüchtende Einlass in die EU begehrten: mit einer riesigen Welle der Solidarität. „Die Stimmung ist so, als ob es der eigene Krieg wäre,“ erklärt ein Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde in Rumänien und Mitarbeiter von Brot für die Welt, die große Hilfsbereitschaft vor Ort. Menschen bringen Sachspenden an die Grenze, kochen warmes Essen oder organisieren Unterkünfte. Ähnliche Nachrichten erreichen uns von Partnern im polnischen, ungarischen oder slowakischen Grenzgebiet. Auch in Deutschland ist das Engagement enorm – von der großen Spendenbereitschaft bis hin zu den Privatinitiativen, die geflüchtete Ukrainer*innen an Bahnhöfen in Empfang nehmen und ihnen Herberge geben.

Vieles erinnert an den Sommer 2015. Und es tut gut zu merken, dass die Menschen in der EU das Schicksal von Geflüchteten nicht kalt lässt. Dass sie helfen, wo sie können. Und was für eine freudige Überraschung, dass die EU-Kommission Ukrainer*innen unkompliziert Aufnahme und bis zu dreijährigen Schutz gewähren will – und sich beinahe alle EU-Staaten im Rahmen der sogenannten „Massenzustromrichtlinie“ einig sind, dass diese Menschen das Zielland ihrer Flucht innerhalb der EU frei wählen können. Ja, wirklich. Dieselben Mitgliedsstaaten, die sich seit Jahren gegen die Verteilung von 150, 200 oder 250 Bootsflüchtlingen sperren, die nach wochenlanger Irrfahrt in einem Mittelmeerhafen anlegen. Diese Kehrtwende, sie ist irgendwie surreal. Sie macht Hoffnung, dass die EU sich ihrer humanitären Grundwerte rückbesinnt. Und doch – es gibt Fragen, die offen bleiben. Praktische Fragen wie: Wie schützen wir die, die es über die Grenze geschafft haben, an angemessener Weise? Und grundlegende Fragen wie: Welchen Menschen sind wir heute, im März 2022, bereit, Schutz zu gewähren, und welchen nicht?

Wie schützen wir die, die über die Grenze kommen?

Es sind in der Mehrzahl Frauen und Kinder, die derzeit über die Grenzen kommen. Viel ist derzeit in den Medien vom Heldenmut der Ukrainer die Rede, von den Männern, die das Land nicht verlassen wollen, um es zu verteidigen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die Armee Männer gezielt aus den Menschenschlangen an den Grenzen fischt, auf der Straße oder in noch geöffneten Bars zwangsrekrutiert. Es gibt Männer, die sich dieser Rekrutierung entziehen wollen – aus welchen Gründen auch immer – und untertauchen, oder versuchen, über die grüne Grenze in die EU zu gelangen. Dies ist angesichts der klirrenden Kälte oft lebensgefährlich. Ebenso traumatisch ist es für viele Frauen und Kinder, die nach ihrem Zuhause nun auch ihre Ehemänner und Väter verlieren. Diese Menschen brauchen mehr als warme Suppen und ein Dach über dem Kopf. Se brauchen dringend professionelle Hilfe und psychosoziale Betreuung. Und sie brauchen Schutz, um nicht ein weiteres Mal Opfer zu werden, wie kirchliche Partner von Brot für die Welt in Rumänien eindringlich betonen. Rumänien gilt als Knotenpunkt des Menschenhandels in Osteuropa. Die Gefahr ist groß, dass kriminelle Strukturen das Chaos und die Not an der Grenze nutzen, um Menschen in ihre Fänge zu treiben. Deshalb ist der rasche Aufbau von professionellen Strukturen an der Grenze wichtig, woran unter anderem unsere Schwesterorganisation Diakonie Katastrophenhilfe mit Nachdruck arbeitet.

Und wem gestehen wir überhaupt Schutz zu?

Die vielen Berichte über die Solidarität an den Grenzen werden jedoch auch durch Nachrichten getrübt, die nicht so recht ins Bild passen. Menschen aus afrikanischen Ländern, aus Indien oder Afghanistan, die in der Ukraine gearbeitet, studiert oder Asyl gesucht haben, haben immer wieder Schwierigkeiten, über die Grenze und an Hilfe zu kommen, heißt es in mehreren Medienberichten und auf Twitter. Leider bestätigen dies auch unsere Kontakte vor Ort. In Rumänien hat eine unserer Partnerorganisation 100 tunesische und 300 indische Staatsangehörige vorübergehend in Obhut genommen. Die ukrainischen Sicherheitskräfte hatten ihnen die Ausreise zunächst verweigert und erst nach Eingreifen der rumänischen Polizei durchgelassen. Ein weiterer Partner in Polen kritisiert, dass sich die Hilfe an der ukrainisch-polnischen Grenze vor allem auf Ukrainer*innen konzentriere. Einige polnische Grenzbeamt*innen hätten zudem Drittstaatsangehörige nicht passieren lassen – oder nur mit großer zeitlicher Verzögerung. Diese Diskriminierung setzt sich nach Aussagen afrodiasporischer Vereine bis nach Deutschland fort. Viele neu geschaffenen Notunterkünfte stehen bisher nur Geflüchteten mit ukrainischem Pass offen, da der rechtliche Status von aus der Ukraine geflohenen Nigerianerinnen, Ghanaerinnen oder Pakistaner bisher unklar ist.

Das wird sich ab kommender Woche ändern. Dann tritt die "Massenzustromrichtlinie" in Kraft, die klärt, welche aus der Ukraine flüchtenden Menschen Anspruch auf temporären Schutz haben. Gegenüber den ursprünglichen Plänen der EU-Kommission werden nur mehr wenige Drittstaatsangehörige (vor allem bereits anerkannte Flüchtlinge) Anspruch auf diesen Schutz haben. Unter anderem Österreich, Polen und die Slowakei haben sich dagegen gesperrt, auch Drittstaatsangehörigen, die schon lange in der Ukraine leben, diesen Schutz zu gewähren. Es bleibt zu hoffen, dass zumindest Deutschland den Spielraum nutzt, den die Richtlinie bietet, und den Kreis der Schutzberechtigten möglichst weit ausdehnt. Allerdings besteht ein zusätzliches Problem darin, dass die Entscheidung darüber, wer in der EU weiterreisen darf, und wer direkt in sein/ihr Herkunftsland zurückgeführt werden soll, direkt an der ukrainischen Grenze getroffen werden. Also von den Grenzbeamten, die den Menschen zum Teil bereits jetzt schon die Einreise verweigern. Die Angst, dass hier nicht nach Schutzbedürftigkeit, sondern nach rassistischen Kriterien entschieden wird, ist groß.

Gewalttätige Pushbacks gehen weiter

Grenzen selektieren. Europäische Grenzen sind jedoch nicht nur selektiv, sondern – sagen wir es offen – rassistisch. Denn während Ukrainer*innen an der polnischen Grenze derzeit mit offenen Armen empfangen werden, hält das polnische Militär ein paar Kilometer weiter Iraker*innen oder Notleidenden aus anderen Ländern mit Gewalt vom Grenzübertritt ab. Gehen die gewalttätigen Pushbacks an der kroatisch-bosnischen Grenze weiter. Und sterben Asylsuchende am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros. Diese Gleichzeitigkeit von Aufnahme und Ausschluss, von Solidarität und brutaler Gewalt, von Leben- und Sterben-Lassen, sie wird von internationalen Medien wie Al Jazeera als Rassismus gebrandmarkt.

Es ist absolut begrüßenswert, dass die EU-Mitgliedsländer nun der unbürokratischen Verteilung von Geflüchteten aus der Ukraine innerhalb der gesamten EU zustimmen. Doch es sind die gleichen Mitgliedsländer, die sich bisher vehement jahrelang gegen eine solidarische Verteilung ankommender Asylsuchender in der EU gesperrt, und 15.000 Menschen an der belarussischen Grenze vor wenigen Monaten als Bedrohung Europas gebrandmarkt haben. Es ist verständlich, dass die Solidarität der Menschen mit Notleidenden aus den Nachbarregionen besonders groß ist. Doch das Leid eines afghanischen Menschen auf der Flucht darf nicht weniger gelten als das Leid unserer Nachbar*innen - schon gar nicht, was den staatliche Umgang mit diesem Leid betrifft. Von daher müssen wir uns heute mehr denn je die Frage stellen: Wie weit reicht unsere Humanität?

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Lachender Junge

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